22 Juni 2008

The Revolution Will Be

"The Revolution will not be televised": Der Songtitel von Gil-Scott Heron ist vielleicht gerade deshalb so berühmt geworden, weil er zu Variationen und Neuinterpretationen einlädt. In der Überzeugung, dass revolutionäre Inhalte und Aktionen durchs Fernsehen weder angemessen repräsentiert noch rezipiert werden können, steckt auch schon eine Ahnung davon, dass man an den Medien eben doch nicht vorbeikommt: The revolution will be televisual. Wobei TV heutzutage nur noch als Leitmedium eines umfassenden Ensembles vielfältiger medialer Techniken gilt. Die Frage, wie heutzutage politische Partizipation und Aktion möglich ist, lässt sich kaum noch von medialen Reflexionen trennen.

Zurzeit kann man ja wieder Zeuge der erstaunlichen Macht des Fersehens werden: Millionen von Menschen sehen jeden Abend die exakt selben Bilder, vermittelt durch eine einzige Stimme. Was wir im Fernehen von der Welt sehen und hören, ist zu keiner anderen Zeit so reduziert, so konstruiert und so wenig dem Zufall überlassen wie während einer EM und WM. Zu keiner Zeit ist das Bewusstsein darüber und das Interesse daran, wie die Dinge gemacht sind, wer die Entscheidungen über ihre Auswahl trifft, wer an ihnen verdient, so gering wie in dieser durch das Medium Fernsehen geschaffenen Ausnahmezeit. Fußball im TV ist die Antiaufklärung. Harun Farockis Anti-Antiaufklärungs-Installation Deep Play versucht sich daran, den technischen Apparat sichtbar zu machen, der die Bilder produziert und kontrolliert, aus denen sich im Fernsehen ein Fußballspiel zusammensetzt: Kameras, die die Temperaturverteilung im Stadion aufzeichnen; Überwachungskameras der Ordnungskräfte; Richtmikrofone; die Regieanweisungen, die angeben, wann auf welche Kamera umzustellen ist; Statistik-Diagramme; Laufwege-Animationen.


Einen kleinen Eindruck davon, was man zum Beispiel beim heutigen Spiel Spanien gegen Italien nicht sehen wird, vermittelt folgende Passage aus Harun Farockis "Ball und Bildschirm", in dem er über seine Erfahrungen bei der Arbeit an Deep Play schreibt:

"Während des Endspiels ist Matthias Rajmann für uns im Stadion gewesen, in einem der vielen Räume unter den Tribünen, in der Sicherheitszentrale. Er hat dort die Bilder mitgeschnitten, die die Polizei während des Spiels herstellt. Viele der etwa sechzig Überwachungskameras können ferngesteuert werden. Matthias Rajmann hat zu diesen Bildern den Ton der Radioübertragung mitgeschnitten, damit wir den Zeitpunkt jeder Aufnahme bestimmen können. Ein erstaunlicher Kontrast: Wenn der Ton aufgeregt ein Foul beschreibt, sieht man Zuschauer auf dem Weg zur Toilette über die Treppen des Stadions schlendern. Zu sehen sind auch vorläufig Festgenommene, die in einem Vorraum auf den Treppenstufen sitzen und das Spiel auf einem Fernseher verfolgen, der hinter einer Glasscheibe in der Polizeistation steht. Einmal, während Zidane den Elfmeter verwandelt, sieht man zwei Polizistinnen rauchen und gelangweilt nach der Uhrzeit sehen."

Auch bei der Arbeit des amerikanischen Filmemachers Craig Baldwin geht es um vergessene, ausgemusterte und übergangene Bilder. Mitte der 70er Jahre kam Craig Baldwin bei einem Job als Vorführer in einem Pornokino zum ersten Mal mit Zelluloidschnipseln in Berührung. Ganz im Do-it-yourself-Spirit der damals entstehenden Punkszene begann er, das entsorgte Material zu sammeln und zu eigenen Werken zusammenzubasteln. Film verstand Baldwin nicht als fertiges und zu konsumierendes Produkt, sondern als Material, das auf seine ideologischen und ästhetischen Grundlagen hin zu befragen ist. Programmatisch ist der Titel eines seiner ersten Filme, Stolen Movie von 1976: "Mir war damals jedes Mittel recht, um ohne zu bezahlen in ein Kino reinzukommen. Ich habe mit einer Super-8-Kamera direkt von der Leinwand abgefilmt. Das war eine bewusst trangressive Geste gegen die großen Medienfirmen, andererseits ein Beispiel für meinen Umgang mit Found Footage: In den Film kam das rein, was ich eben gerade auf der Leinwand vorfand. Es war eine Zufallsoperation: Dada, Nonsense, Provokation, Situationismus, und eben Found Footage." (Interview mit Jack Sargeant)


Das Archivieren, Wiederauffinden und Rekontextualisieren von Filmmaterial nutzte Baldwin auch in seinen weiteren Werken zu einer Befragung von Bildern und ihren ideologischen Bedeutungen. In Wildgunman (1978) dekonstruierte er den Marlboro-Mann als eine Ikone des amerikanischen Kulturimperialismus. In RocketKitKongoKit (1986) mischte er die genau recherchierte Geschichte von Mobutus Raketen-Testprogramm in Zaire mit Bildern aus dem ethnographischen Fundus über Afrika und Science-Fiction-Trash. In Tribulation 99 (1991) bebilderte er die blutige US- Außenpolitik in Lateinamerika mit dem Krudesten, was das B-Movie-Repertoire an Paranoia zu bieten hatte: Ufos, Dinosaurier, verdeckte CIA-Operationen, Gedankenkontrolle, und ein Killer-Androide, der für Kennedys Tod verantwortlich ist.

Mitte der 90er Jahre begann Baldwin sich schließlich für eine andere Form des Kolonialismus zu interessieren, den seine Arbeit von Anfang an problematisierte. Die Frage, wem die Bilder gehören, die Baldwin für seine Found-Footage-Filme benutzte, verband sich mit einer zu der Zeit neu entstehenden Praxis des Samplens, Verfremdens und Bloßstellens kultureller Güter, die unter dem Begriff "Culture Jamming" bekannt wurde. In Sonic Outlaws (1995) porträtierte Baldwin in bewährter Schnipsel-Manier die Aktionen bekannter Culture Jammer, Gruppen wie beispielsweise die Billboard Liberation Front, die Werbeplakate verändern, indem sie lächelnde Konsum-Ikonen in Totenschädel verwandeln. Im Zentrum des Films steht die Band Negativland, die von U2s Label Island Record verklagt worden war, weil sie 20 Sekunden des Songs "I Still Haven’t Found ..." auf einer Platte verwendet hatten. Der Prozess, der mit der Einstampfung sämtlicher Exemplare der Negativeland-Platte endete, bildete den Auftakt zu einer Copyright-Debatte, die bis heute andauert.

Baldwins Film Spectres of the Spectrum (1999) stellt einen weiteren Versuch dar, das Funktionieren der Medien offenzulegen, ohne sich herkömmlicher Diskursformen zu bedienen. Schnipsel aus SF-Filmen, 50er-Jahre-TV-Shows, Werbe- und Industriefilmen, News und anderen visuellen Ramsch der letzten 50 Jahre verband Baldwin zu einer 90-minütigen Anti-Historie der elektromagnetischen Revolution. Spectres of the Spectrum erzählt die Geschichte einer Telepathin und ihres Vaters, die sich im Jahre 2007 auf eine Reise in die Vergangenheit machen, um die Ursprünge einer "New Electromagnetic Order" zu erkunden, die kurz davor ist, die Gehirne aller Menschen mit elektrischen Impulsen gleichzuschalten. Im Gewande einer Trash-Space-Opera präsentiert Baldwin in einer Mischung aus fiktiven und historischen Materialien eine Geschichte ursprünglich emanzipierender technischer Innovationen wie Telefon, Radio und Fernsehen – und ihrer Kooptierung durch Konzerne.

Im Jahr 2001 sprach The Wayward Cloud mit Craig Baldwin über Spectres of the Spectrum und seine Arbeit mit Found Footage:

Wie sind Sie zur Arbeit mit Film und mit Found Footage gekommen? Ich habe gelesen, dass alles im Vorführraum eines Pornokinos begann?

Craig Baldwin: Ach ja, eine gute Anekdote. Aber sie stimmt. Das Wesentliche daran ist, dass ich keine formale Ausbildung hatte, sondern ganz direkt mit dem Medium selbst in Berührung kam. Überall in der Projektionskabine lagen diese Schnipsel und alten Filme herum, alles in schlechtem Zustand. Ich hatte es nicht mit kompletten 35mm-Filmrollen zu tun, sondern mit abgenutztem, kaputtem Zelluloid, kein fertige Sache, sondern eher ein Müllhaufen. Das lud dazu ein, seine Finger hineinzustecken und herumzuspielen. Diese Spielereien waren nicht durch irgendwelche Lehrer oder Theorien inspiriert, sondern entsprangen meiner ureigenen Sensibilität. Es hat etwas damit zu tun, was ich "Masochism of the margins" nenne. Ich habe schon immer in Kellern und leer stehenden Lagerhallen gelebt, nicht unbedingt aus Not, sondern als selbst gewählter Lebensweg. Und dazu gehört die Aneignung und Wiederverwendung weggeworfener Dinge, zum Beispiel alte Kleidung und alte Fahrräder. Ich kaufe mir keine neuen Dinge, da ich an der Konsumptionskultur nicht partizipieren will. Deshalb kaufe ich auch keine Kamera und inszeniere Filme, das wäre mir zu wenig authentisch, zu wenig spielerisch.

Haben Sie Fight Club gesehen, in dem Brad Pitt einen Prankster spielt, der Pornoschnipsel in Disney-Filme schneidet?

Leider nein, aber ich werde das häufig gefragt und werde ihn mir bald mal anschauen. Normalerweise zahle ich nicht für Filme, da ich sowieso so viele zu Hause sehe, von meinen Studenten und anderen Experimentalfilmern. Mainstreamkino interessiert mich nur als etwas, mit dem ich spielen, das ich entblößen kann. Vielleicht ist Fight Club ja ein Symptom dafür, dass eine medienkritische Underground-Sensibilität im Mainstream hoffähig wird – oder dass der Mainstream sich mal wieder ein paar unserer Ideen angeeignet hat, wie es regelmäßig geschieht, um eine noch größere Öffentlichkeit zu erreichen und mehr Geld zu verdienen. Vielleicht gibt es in den USA derzeit ein Repräsentationsvakuum, ein Mangel an neuen Ideen. Andererseits war das eigentlich immer schon so. Radikale Ideen tauchen immer mal wieder als kleine Brüche, als Pickel an der Oberfläche der Popkultur auf. Ob das nun zynisch ist oder ein echter Wille dahinter steht, den Status quo zu zerstören, lässt sich nur schwer entscheiden.

Wie kommen Sie an die von Ihnen benutzten Schnipsel? Handelt es sich tatsächlich immer um zufällig gefundenes Material, oder gehen Sie auch gezielt auf die Suche?

Für mich gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, was ich als "archival film" und "found film" bezeichne. Beim klassischen Dokumentarfilm gibt es normalerweise ein Budget, eine Crew und ein Drehbuch. Dieses Skript wird dann bebildert, es wird also nach Einstellungen und Szenen im Archiv gesucht, die die argumentative Linie des Films unterstützen. Ich schätze diese Tradition des Dokumentarfilms, aber ich bin kein Teil von ihr, und ich habe auch kein Geld, um an das nötige Material zu kommen. Mein Vorgehen hat mehr mit Dada zu tun, mit gefundenem Film. Man nimmt, was man hat, und versucht daraus eine narrative Linie, eine Bedeutung zu konstruieren. Es geht mehr darum, die ursprüngliche Bedeutung des Materials durch Rekontextualisierung infrage zu stellen. Ich gehe nicht in Filmarchive, denn bei mir liegen so viele Filme zu Hause rum, die ich noch nicht mal gesehen habe, die von Schulen weggeworfen worden sind oder private Home Videos. Wenn ich etwas über Magnetismus machen will und feststelle, dass ich kein Material dazu habe, dann suche ich mir etwas anderes aus. Wenn ich nichts Passendes finde, filme ich manchmal Szenen direkt vom Fernseher ab. Es gibt für mich nicht den idealen Film, die perfekte Einstellung, die Bedeutung entsteht vielmehr aus der Montage. Es gibt immer verschiedene Interpretationsmöglichkeiten für meine Filme, je nachdem, welche kulturellen Anspielungen beim Zuschauer wirken. Ich sehe bestimmt einen anderen Film als Sie. Es geht mir um einen Überfluss an Bedeutungen, nicht um einen moralischen Kern, eine erhebende Einsicht.

Bei aller Offenheit kreisen Ihre Filme doch um bestimmte, oft sehr politische Themen. Tribulation 99 beschäftigte sich mit der imperialistischen Politik der USA in Lateinamerika, Sonic Outlaws mit der Praxis des Culture Jamming und damit verbundener Copyright-Probleme.

Ich stelle eigentlich erst im Rückblick fest, dass sich bestimmte Themen durch mein Werk ziehen. Es gibt soziale und politische Impulse, aber im Grunde sind die Filme sehr persönlich, sie entspringen einer privaten Wut. Am Anfang ging es um geopolitische Themen. In Wildgunman ging es um kulturellen Imperialismus, um kolonialistische Ikonografien. Es war ein Film über das Image des Marlboro Man, das ich mit geopolitischen Machtstrukturen in Verbindung brachte. Von solchen außenpolitischen Erkundungen habe ich mich immer weiter zurückgezogen. In meinem neuen Film Spectres of the Spectrum (1999) geht es nunmehr um die Kolonialisierung der Imagination. Es schien mir irgendwann zu einfach, mich an Israel und Südafrika abzuarbeiten. Da war da auch immer ein gewisser Voyeurismus mit im Spiel, ein moralischer Tourismus. Jetzt beschäftige ich mich mit der Kultur in den USA. Das liegt meiner eigenen Lebenssituation, meiner eigenen Wut näher. Jedem Film liegt ein soziales oder politisches Ereignis zugrunde, das meine Wut auf den Punkt bringt. Als ich hörte, dass die Band Negativland von der Plattenfirma von U2 verklagt worden waren, weil sie ihr Logo und einen Part aus dem Stück "I Still Haven't Found What I'm Looking For" auf einer Platte verwendet hatten, war mir klar, dass es hier um mehr als ein Gerichtsurteil ging. Die ganzen, jetzt durch Napster verschärften, Auseinandersetzungen um geistiges Eigentum wurden aufgrund des Negativland-Falles für mich filmisch umsetzbar und zum Grundthema von Sonic Outlaws. Ich hatte plötzlich eine Präsenz, einen authentischen Kern, um den herum ich arbeiten konnte.

Woher stammte die Idee für Spectres of the Spectrum?

Es gab zwei Impulse. Der eine war HAARP, ein Akronym für das High-frequency Active Auroral Research Project. Das ist ein Apparat wie aus einem James-Bond-Film, zwölf davon hat die amerikanische Regierung auf dem Planeten installiert. Es geht bei diesem Projekt letzten Endes darum, Energie von einem Ort an den anderen zu übertragen, ohne Kabel zu benutzen, wie bei einem Radio. Es klingt wie Science-Fiction, aber es ist tatsächlich möglich. Das war für mich der reale Kern von Spectres, gerade seine fantastischen Aspekte machten ihn für mich so filmtauglich. HAARP spielt keine zentrale Rolle im Film, aber es war für mich eine gute Metapher für die paranoide Sicht vieler Amerikaner: Die da oben kontrollieren das Wetter, sie unterziehen uns mit elektrischen Impulsen einer Gerhirnwäsche. Ich glaube nicht daran, jedenfalls nicht in Form einer Doomsday-Maschine, das findet auf viel subtilere und vielfältigere Weisen statt. Dafür sorgen die Massenmedien, denen wir Tag für Tag ausgesetzt sind. Mir ging es darum, im metaphorischen Sinne vor Augen zu führen, dass wir ideologisch konstruierte Subjekte sind. Das war der eine Impuls, der andere war die TV-Serie Science in Action aus den 50er Jahren. Das abgenutzte Zelluloid der Filmrollen war das ideale Material für mich. Mir geht immer auch um die Textur des Materials, seine sensuelle Beschaffenheit, wie bei einem Maler oder Bildhauer. Ich bekam die Filmrollen vom Exploratorium, einem naturwissenschaftlichen Museum in San Francisco. Sie wurden ausgemustert, weil sie nicht länger auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis waren, aber für mich waren sie perfekt. An ihnen lassen sich wunderbar die mit dem militärisch-industriellen Komplex verbundenen Wissenschaftsideologien der 50er Jahre ablesen. Die Beteiligten haben außerdem diese wunderbaren silbernen Heiligenscheine, die sehr gut zu ihrem naiven und primitiven Fortschrittsglauben passen. Aus diesem Material schuf ich meinen Film im Sinne eines Cinema concrete, das sich nicht essayistisch über seinen Gegenstand erhebt, sondern von ihm selbst verkörpert wird. Ich hatte also zwei Pole, die ich austarieren musste, zum einen die Idee, die aus sehr viel Recherchen und Nachforschungen hervorgegangen ist, zum anderen das reine Material, das für sich selbst spricht.

Neben seiner Arbeit als Filmemacher betreibt Craig Baldwin das Other Cinema in San Francisco, das das Beste zeigt, was das Underground-Kino der Vergangenheit und Gegenwart zu bieten hat: Avantgarde-Horror, übel riechende Smell-O-Vision-Werke, Hillbilly Porn, japanische Sexploitation-Klassiker, Beatnik-Dokus und Specials zu "Incredible Strange Religions". Die Filme von Craig Baldwin und andere Klassiker des Found-Footage-Films kann man beim DVD-Label des Other Cinema bestellen.

Weitere Links zu Craig Baldwin:
"An Evening on Baldwin's Mountain", ein Interview mit Baldwin von Dirk de Bruyn
"Media Meltdown" von David Cox
Ein Interview zu Craig Baldwins neuem Film Mock Up On Mu

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