07 Juni 2008

Von Märchen und Mösen

"Pornografie ist die verzauberte Feuchtsavanne, in der die geheimsten und verwundbarsten all unserer vielen Ichs in Sicherheit spielen können." (Alan Moore, Lost Girls)

Vor Kurzem ist Lost Girls in einer prachtvollen Ausgabe auf Deutsch erschienen. In diesem "pornografischen Comic-Kunstwerk", wie es ihre Schöpfer, der Autor Alan Moore und die Zeichnerin Melinda Gebbie nennen, treffen Alice aus Alice im Wunderland, Dorothy Gale aus Der Zauberer von Oz und Wendy Darling aus Peter Pan in einem Hotel in den österreichischen Alpen zusammen und erzählen sich ihre erotischen Abenteuer: Analsex, Cunnilungus, Orgien, Fellatio, Inzest und einige Sachen, die nicht im Duden stehen. Das ganze Programm.

The Wayward Cloud sprach mit Alan Moore über die Notwendigkeit von Pornografie, echte und imaginäre Monster und den Einfluss des Internets auf sexuelle Fantasien.

Herr Moore, wie sind die Heldinnen dreier berühmter Kinderbücher in einem pornografischen Werk gelandet?

Als ich 1989 die Zeichnerin Melinda Gebbie traf, hatte ich schon längere Zeit über einen pornografischen Comic nachgedacht. Bis dahin hatte ich nur mit männlichen Zeichnern gearbeitet, und durch die Begegnung mit Melinda schien mir plötzlich eine Form von Pornografie möglich, die nicht nur heterosexuellen Männer gefällt. Eine Idee von mir war, J.M. Barries Peter Pan als erotische Geschichte zu präsentieren, weil es dort viele Flugszenen gibt und Sigmund Freud zufolge Flug-Träume sexueller Natur sind. Und Melinda hatte gute Erfahrungen mit drei weiblichen Hauptfiguren in ihren Werken gemacht. Ich dachte: Was, wenn Wendy aus Peter Pan eine dieser Figuren wäre? Ihre beiden Gespielinnen waren dann schnell gefunden, denn Alice und Dorothy gehören zu den bekanntesten Kinderbuch-Heldinnen.

Hatten Sie keine Angst vor den Reaktionen der Fans dieser Werke?

Melinda und ich sind selbst glühende Verehrer der drei Bücher und uns war klar, dass wir sehr vorsichtig bei der Adaption sein mussten. Aber zu viele Dinge sprachen für Alice, Dorothy und Wendy: ihre Klassen- und Altersunterschiede und dass sie aus ihrem gewohnten Umfeld in fremde und seltsame Welten katapultiert werden, in denen die Gesetze der Logik und der Realität nicht mehr gelten. Das erschien Melinda und mir eine wunderbare Metapher für die Art und Weise, wie Menschen zum ersten Mal sexuelle Erfahrungen machen. Wir sind gewissermaßen immer Kinder, wenn wir ins Reich der Sexualität eintreten – sogar, wenn wir dann schon 30 sind. Und wir bleiben Kinder, solange wir mit dieser überwältigenden Erfahrung nicht zurande gekommen sind.

Wie sind die Reaktionen auf Ihr Buch?

Hätten die Medien Lost Girls immer nur verknappt als pornografisches Werk mit Kinderbuch-Heldinnen beschrieben, hätten sich wohl bestimmte Bilder darüber festgesetzt, etwa wie die kleine Alice von einem gigantischen Jabberwocky vergewaltigt wird. Aber das Buch wurde sehr differenziert aufgenommen, auch von den Zollbeamten und Zensurbehörden der Länder, in denen es erschienen ist. Vor allem freut uns, dass das Buch bei Frauen sehr gut ankommt. Auch von den Verehrern der Originalwerke gab bisher keinerlei negative Reaktionen.

Sind Sie enttäuscht über den Mangel an Empörung?

Nein, wir wollten keine Kontroverse um dieses Buch. Natürlich haben wir uns darauf vorbereitet, wir hatten 16 Jahre Zeit, jedes einzelne Panel moralisch abzuwägen. Wir hielten es durchaus für möglich, dass es hart auf hart kommt. Schließlich wurde das Buch zur Zeit der Bush-Administration veröffentlicht, in den USA hat die religiöse Rechten das Sagen. Weitaus harmlosere Bücher sind dort Gegenstand von Prozessen geworden. Vielleicht liegt es an der Offenheit, mit der wir Lost Girls von Anfang an als Pornografie deklariert haben, dass uns das nicht passiert ist. Wenn wir gleich darauf bestanden hätten, dass es Kunst ist, hätten alle gesagt: "Das ist doch Pornografie."

Warum braucht der Mensch überhaupt Pornografie?

Die sexuelle Vorstellungskraft, die Basis aller Pornografie, ist der am besten behütete und privateste Bereich der menschlichen Gedankenwelt. Das hat viel mit unserer Erziehung zu tun, ich denke, dass es in einer gesünderen Gesellschaft anders wäre. Dieser repressive Zustand geht auf das frühe Christentum zurück, als es an den Kirchenmauern explizite erotische Bilder gab. Zum einen, um die Gläubigen zum Gottesdienst zu locken, zum anderen, um ihnen in der Predigt eintrichtern zu können, dass diese Bilder und Vorstellungen einen in die Hölle bringen. Man wurde durch die Bilder erregt und fühlte sich zugleich schuldig. Eine Kultur, die auf diesem Widerspruch gründet, bringt tief sitzende Gefühle der Scham und Selbstverachtung mit sich. Wir wollten mit Lost Girls die Verbindung aufzulösen zwischen dem, was uns Lust, und dem, was uns Schmerz bereitet.

Pornografie ist ein Mittel der Befreiung?

Ja. Das sieht man an Ländern wie Dänemark, Spanien und den Niederlanden, die ein anderes Verhältnis zur Pornografie haben. Sie ist dort so verbreitet, dass sie kaum noch wahrgenommen wird. Außerdem ist dort die Rate der Sexualverbrechen an Kinder niedriger als in anderen Ländern, und ich vermute, dass ein Zusammenhang besteht. Ich glaube, dass Menschen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Fantasien wie Monster fühlen, dazu neigen, sich in eine dunkle, sexuelle Isolation zurückzuziehen. Sie reden nicht mehr mit anderen und es gibt keine korrigierenden Einflüsse auf ihr Verhalten mehr. Sie driften in einen pathologischen Zustand, in dem sie zu echten Monstern werden. Je offener der allgemeine Umgang mit Sexualität und Pornografie ist, desto seltener geraten Menschen in solche pathologischen Zustände.

Können gezeichnete Figuren überhaupt pornografisch sein?

Das ist keine Frage des Mediums, sondern der Deutlichkeit, mit der etwas dargestellt wird. Die meisten Menschen geben heutzutage Fotos und Filmen den Vorzug, weil sie kaum noch etwas anderes kennen. Melinda und ich bevorzugen jedoch Zeichnungen und Erzählungen. Wenn es um echte Menschen geht, schleichen sich bei mir Bedenken ein, die meine Freude am Bild trüben. Wenn ich zum Beispiel das Foto einer schönen, nackten Frau in einem Magazin sehe, ist mein erster Gedanke kein erotischer, sondern einer der Sorge. Ich hoffe dann, dass sie glücklich ist bei ihrer Arbeit und keine Form von Zwang im Spiel war, psychologisch, ökonomisch oder sonstwie. Darüber möchte ich nicht nachdenken, wenn ich erregt werden will.

Ihr Comic erfüllt die Grundregel aller Pornografie: Jeder fickt mit jedem. Haben Sie das als Einschränkung empfunden?

Nein. Bei meiner Arbeit beschäftige ich mich ständig mit den Regeln von Genres, ob es sich nun um Superhelden- oder Horror-Geschichten handelt. Ich frage ich mich immer, ob man die Regeln ändern oder ihnen eine andere Bedeutung geben kann. Bei Lost Girls haben Melinda und ich das auch versucht. Wir beachten die Grundregeln der Pornografie, etwa die ständige Rekombination der Paarungen. Aber da wir es mit bekannten und ausdifferenzierten Figuren zu tun hatten, konnte wir viele emotionale und persönliche Aspekte mit einfließen lassen. Wie im Porno üblich haben wir die Handlung auch an einem einzigen Ort spielen lassen, haben den Raum des Geschehens aber geöffnet, indem wir die Historie in Form des Ersten Weltkriegs als Kontrast mit hineingenommen haben.

Gab es Szenen, die es aufgrund unterschiedlicher Auffassungen zwischen Melinda und Ihnen nicht ins Buch geschafft haben?

Ich erinnere mich nur an eine Szene, die Melinda nicht gefiel. Es handelt sich um ein Stelldichein Dorothys mit einem Stallburschen, bei dem auch ein Pferd dabei ist. Mein ursprünglicher Gedanke war, dass Dorothy die Erektion des Pferdes berührt, aber Melinda fand das krude und überdeutlich. Jetzt sieht man nur, wie Dorothy ihre Hand ausstreckt. Ansonsten waren wir uns einig, dass Sachen wie S/M, Bondage und alles, was mit Schmerz und Angst zu tun hat, nicht ins Buch passt. Erstens gibt es dazu Comics wie Sand am Meer, und zweitens sollte sich in den Gesichtern unserer Figuren nur Freude zeigen.

Haben Sie sich auch mit Internet-Pornografie beschäftigt?

Ich besitze keinen Internet-Zugang, aber ich vermute, dass dieses Medium eher negative Auswirkungen auf unseren Umgang mit Sexualität hat. Pornografie ist ja auch immer ein historisches Phänomen. In den 1970er Jahren entstanden Pornos mit künstlerischem Anspruch wie Deep Throat und The Devil in Miss Jones, die sich auch Paare und Frauen ansahen, hinterher sprach man mit Freunden darüber. Mit dem Siegeszug der VHS Anfang der 80er Jahre wurde Pornografie wieder privater konsumiert. Immerhin musste man noch das Haus verlassen und riskierte, von einem Nachbar vorm XXX-Regal der Videothek ertappt zu werden. Dank des Internets kann man nun ganz zu Hause bleiben und sich dort seine private Fantasiewelt einrichten. Und das Angebot reicht vom Verführerischen bis zum absolut Entsetzlichen.

Kann es nicht auch sein, dass Pornografie gefährliche Fantasien in die Welt setzt?

Eines unser Hauptanliegen mit Lost Girls war es, an den profunden Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen zu erinnern. Im Buch gibt es eine Szene, in der während einer Orgie Passagen aus einem pornografischen Werk vorgelesen werden, in dem Kinder in allen möglichen Positionen mit ihren Eltern kopulieren. Eine Figur empört sich und ruft: "Das ist ja schrecklich, die armen Kinder." Und eine andere antwortet: "Das stimmt, wenn es echte Kinder und Erwachsene wären. Aber es sind Fiktionen, Ideen auf Papier. Sie sind alterslos." Daran glaube ich auch. Pornografie ist unschuldig und tut niemandem weh. Und ich bin überzeugt, dass Pornografie niemandem Ideen gibt, die er dann ausagiert. Unsere sexuellen Fantasien entspringen unseren ganz privaten Pathologien.

Keine Kommentare: