Während sein neuer, schöner Film Wolke 9 dem, zumindest im deutschen Kino, weitgehend unsichtbaren und intimen Thema der Liebe im Alter gewidmet ist, dreht sich Andreas Dresens Dokumentation Herr Wichmann von der CDU (2003) um ein ausgesprochen sichtbares und öffentliches Ritual: den politischen Wahlkampf. Die Filme scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben, doch in beiden Werken geht es um Zustandsbeschreibungen jenseits der massenmedialen Aufmerksamkeit und um die Wahrnehmung und Gestaltung übersehener Gesten, Situationen und Orte.
2003 sprach The Wayward Cloud mit Andreas Dresen über Herr Wichmann von der CDU, politische Arbeit an der Peripherie und seine Suche nach einer dokumentarischen Form.
The Wayward Cloud: Ist Herr Wichmann von der CDU ein politischer Film?
Andreas Dresen: Ja, schon, aber nicht, weil er sich direkt mit Politik beschäftigt, sondern weil er eine Zustandsbeschreibung der Situation in diesem Land liefert, speziell in der Uckermark. Es steckt eine politische Aussage darin, wenn einem so viele desillusionierte Leute begegnen. Für mich kann auch eine kleine Liebesgeschichte sehr politisch sein, wenn sie genau erzählt ist. Dafür muss man nicht mit politischen Statements vor einem Film herrennen.
Der Film wurde im Rahmen der vom BR und WDR produzierten Dokumentarfilmreihe Denk ich an Deutschland gedreht. Was ist das spezifisch Deutsche an Herrn Wichmann und seiner Geschichte?
Mir ging es um eine Zustandsbeschreibung jenseits der großen Metropolen, an der Peripherie. Ich beschäftige mich gern mit Leuten, die unberechtigterweise vergessen werden. In der Uckermark herrscht eine hohe Arbeitslosigkeit, so um die 25 Prozent, den Leuten geht es nicht besonders gut. Ich suchte jemandem, der mich durch diese Gegend führt. Zu Anfang gab es die Überlegung, einen Gerichtsvollzieher zu nehmen, weil der permanent in soziale Brennpunkte hineingerät. Ich hatte dann aber moralische Probleme, dauernd in Wohnungen reinzugehen und die Kamera aufs Elend der Leute zu halten. Da gerade Wahlkampf war, kam mir die Idee, jemanden zu begleiten, der immer unter so einem Schirm steht. Normalerweise geht man an den Dingern ja immer schnell vorbei, um nicht in Diskussionen zu geraten. Ich wollte die Perspektive einmal ändern, jemanden beobachten, der die Leute permanent in politische Diskussionen verstrickt. Diese ständige Herausforderung zu politischen Meinungsäußerungen schien mir ein gutes Mittel, die Stimmung in der Region einzufangen.
War von vornherein klar, dass sie mit einem Vertreter der CDU arbeiten würden?
Am Anfang bestand für kurze Zeit die Idee, auch Wichmanns übermächtigen SPD-Konkurrenten Markus Meckel zu porträtieren. Das habe ich aber schnell verworfen, weil diese Gegenüberstellung beim Zuschauer eventuell zu einem reinen Abwägen der politischen Argumente gefürt hätte. Hinter den Figuren wäre das System verschwunden, das ich doch gerade darstellen wollte. Eigentlich ist das Sujet also nicht parteienabhängig. Ich wollte aber einen gewissen Abstand zu den politischen Inhalten wahren, ich persönlich bin kein CDU-Wähler. Aber noch wichtiger war es mir, jemanden zu zeigen, der auf verlorenem Posten steht. Das ist im Land Brandenburg in jedem Fall die CDU, die haben da noch nie einen einzigen Wahlkreis gewonnen. Man hätte aber genauso gut einen SPDler in einer ländlichen Region Bayerns nehmen können.
Entscheidend waren also die tragischen Momente der Figur, ihr Scheitern?
Ja, es war mir wichtig, den Film tragikomisch zu erzählen, zu zeigen, wie nahezu unmöglich es ist, Demokratie in ein desillusioniertes Land zu tragen. Was bedeutet es für so ein eher kleines Licht, in dieser Situation auf Stimmenfang zu gehen, und was zeigt das über den Zustand unserer Demokratie? Es geht in erster Linie also nicht um Herrn Wichmann und auch nicht um die Politik seiner Partei, sondern um die Reaktionen der Leute auf der Straße. Auf Herrn Wichmann selbst bin ich über die dortige CDU-Geschäftsstelle gekommen, die haben mir ganz entgegenkommend alle Direktkandidaten vorgestellt, mir aber auch gleich Herrn Wichmann ans Herz gelegt, weil er jung und besonders aktiv war. Und ich brauchte jemanden, der nicht nur drei Plakate aufhängt, sondern ständig Situationen schafft. Natürlich war es auch reizvoll, so einen jungen Mann mit so konservativen Meinungen zu haben. Das ergibt an vielen Stellen einen Widerspruch, der eine gewisse Komik hat. Auf der einen Seite die ewige Rede vom "frischen Wind in der Politik", und auf der anderen diese Argumente eines alten und gestandenen Politikers.
Wie erklären Sie sich Herrn Wichmanns bereitwillige Kooperation bei dem Projekt? Er hat an keiner einzigen Stelle von seinem Widerspruchsrecht Gebrauch gemacht, etwa um Szenen herauszunehmen.
Ich glaube, er fühlt sich durch den Film gerecht betrachtet und behandelt. Wir hatten ja auch nie die Absicht, ihn bloßzustellen, Respekt war die Voraussetzung dieser gemeinsamen Reise. Ich wollte auf keinen Fall durch Montage oder filmische Tricks manipulativ eingreifen und ihn damit durch den Kakao ziehen. Wir haben ihn meist aus einiger Entfernung bei der Arbeit beobachtet, und er hatte immer die Möglichkeit, den Dreh abzubrechen, das haben aber nur manchmal die Passanten gemacht. Wir haben ihm auch vorher schon gesagt, dass uns der Alltag interessiert, nicht der Auftritt von Angela Merkel, sondern die Wartezeit davor, das Auf- und Abbauen, der Leerlauf. Wir wollten den alltäglichen Wahnsinn des Wahlkampfes zeigen. Dabei haben wir einige Dinge gelernt, die uns so überhaupt nicht klar waren, zum Beispiel dass die Direktkandidaten der CDU ihren Wahlkampf selber bezahlen müssen. Henryk Wichmann hat 30.000 Euro von seinem Privatvermögen in diesen Wahlkampf gesteckt. Und er wusste, dass er keine Chance hat. Aber er hat es unter langfristigen Gesichtspunkten gesehen, um erst mal bekannt zu werden, vielleicht läuft es ja nächstes Mal besser. Ich glaube, dass ihn außerdem der Aufmerksamkeitsgewinn durch unsere Kamera zur Zusammenarbeit bewogen hat. Man darf ja auch nicht vergessen, dass die Kamera die dargestellte Realität durchaus verändert, manche Leute meiden sie ganz, andere werden durch sie herausgefordert. Ich weiß zum Beispiel nicht, ob die Leute am Imbiss die Nationalhymne mitgesungen hätten, wenn wir nicht dagewesen wären. Ganz oft wurden wir auch vollgepöbelt, weil die Leute uns für das CDU-Propaganda-Team hielten. Uns wurde gesagt, wir sollten lieber das soziale Elend drehen, als immer nur die CDU.
Ist Herr Wichmann ein typischer Vertreter der politischen Klasse?
Dahin soll schon der Titel ein wenig gehen, da steckt ja so ein bisschen Vertretertum drin, à la Herr Kaiser von der Hamburg-Mannheimer. Er ist eben ein Vertreter einer bestimmter politischen Position. Die Eindimensionalität und ständige Wiederholung von bestimmten Phrasen ist im Wahlkampf ganz archetypisch für seine Zunft. Wir hätten genausogut den FDP-Mann mit seinem gelben 18%-Plastikköfferchen nehmen können, der nie ein Buch liest, oder den Vertreter der Grünen, der ständig von Biofleisch und glücklichen Hühnern redet. Uns ging es nicht um eine Charakterstudie Wichmanns, deshalb haben wir auch keine privaten Momente gefilmt, uns ging es um den Typus des Wahlkämpfers und seiner Rituale.
Ist für Sie die Distanz, die sie politisch wie auch durch die Positionierung der Kamera zu Herrn Wichmann haben, ein wesentlicher Bestandteil des Dokumentarfilms?
Das hängt vom Gegenstand selbst ab. Die ästhetische Form einer Geschichte entwickelt sich bei mir aus dem Sujet. In diesem Fall war mir die Form vorher noch gar nicht klar, das hat sich am ersten Drehtag dann schnell ergeben. Meine letzten Spielfilme habe ich alle von der Schulter gedreht, und hier war plötzlich klar, dass wir die Kamera auf ein Stativ stellen und mit großen Brennweiten aus der Distanz drehen. Wir wollten die Leute in ihren Lebensbahnen nicht stören, wir wollten Situationen sich entwickeln lassen, ohne uns reinzudrängeln, daraus entwickelte sich die bestimmende Stilistik. Der Frontmann für die interessanten Situationen war ja Henryk Wichmann selber, da konnten wir uns zurückhalten. Dadurch entsteht auch ein Raum für die Zuschauer, in dem er seine eigenen Gedanken entwickeln kann, ohne dass ich ihm vorkaue, wie er das alles zu finden hat.
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