03 Mai 2009

Der Herr der Taufliegen

Rocko Schamoni über seinen Roman Sternstunden der Bedeutungslosigkeit, den Nachfolger seines gerade verfilmten Buches Dorfpunks

Das ist das schon wieder das Ende. Gerade erst hatte der Punk sein Dorf verlassen, um die große Stadt zu erobern, und schon herrscht wieder Stillstand und Depression. Statt pöbelnden Nachbarn, stumpfen Land-Discos und grasenden Kuhherden umgeben die grauen Mauern der Metropole den nicht mehr ganz so jugendlichen Rebellen, der hier sein Glück nicht finden kann. Drogen, Frauen, Musik, alles scheint es hier im Überfluss zu geben, nur nicht das Eine: ein Leben in Würde und Freiheit. Die Energie des Neuanfangs ist schnell in die Stagnation eines ziellosen Boheme-Lebens verpufft, und aus dem energischen Punk ist ein weiterer Überflüssiger der Großstadt geworden, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Die Schande kommt und geht mit jedem neuen Tag.

Der besterforschte Organismus der Welt:
Drosophila melanogaster

Rocko Schamoni wusste auch diesmal, worüber er schreibt. Nach dem Erfolg seines autobiografischen Buches Dorfpunks, in dem er von den Eskapaden seiner Jugendzeit im Kaff Schmalenstedt (aka Lütjenburg) in Schleswig-Holstein erzählte, wollte der Musiker, Schauspieler und Allround-Entertainer dort weitermachen, wo er sein früheres Ich auf dem Weg zum heutigen verlassen hatte: auf dem Sprung in der Stadt. Sternstunden der Bedeutungslosigkeit sollte ein Tatsachenbericht werden, über seine harten Anfangsjahre in Hamburg und die hanseatische Musik- und Kneipenszene Mitte der 80er Jahre. Doch die Idee gab Rocko schnell wieder auf: "Zu viele Leute hätten dann nie mehr ein Wort mit mir gewechselt."

Stattdessen hat er einen mit vielen eigenen Erfahrungen gespickten Roman geschrieben, dessen trauriger Held Michael Sonntag heißt. Er ist zugleich Alter ego und Versuchskaninchen seines gnadenlosen Autors, das er durch das Labyrinth der Stadt schickt, um zu herauszufinden, welche Muster dabei sichtbar werden. Die burleske Euphorie von Dorfpunks ist einem fast schon depressiven Grundton gewichen, hinter dem sich große Zweifel des Autors an der Freiheit des Menschen verbergen.
"Mit 20 habe ich noch gedacht, ich wäre ein komplett von mir selbst erschaffenes Lebewesen. Mein Name, meine Frisur, meine Klamotten, meinen Musikgeschmack habe ich selbst kreiert. Später habe ich an mir Verhaltensweisen bemerkt, die ich von meinen Eltern oder sogar Großeltern kenne und habe erkannt, dass ein Großteil von mir eine Verdichtung der Fetzen anderer Menschen ist."
Vor allem auf einem Gebiet lässt der Autor seinen Antihelden gegen die Mauern vererbter Verhaltensweisen anrennen: Sex. Der Roman ist voll davon: erträumt, erhofft, mit und ohne Filmriss, in einem Blumenbeet, mit kleinen und großen Frauen, aber meistens nicht sehr gut für Sonntag. Wenn man Rocko nach diesen Szenen fragt, wird er ein bisschen kleinlaut: "Ich hoffe, es kommt nicht gepost rüber. Man sollte nicht den Eindruck haben, da denkt jemand, er könne was im Bett." Es gehe ihm nicht um den Sex an sich, sondern um das Gefühl einer wirklichen Nähe, das sich nie einstellen will. Meistens ist die Verzweiflung ein stiller Gast bei den Kopulationen Michael Sonntags.
"Vor allem bei Geschlechterrollen habe ich das Gefühl, dass wir auf vor Urzeiten verlegten Schienen dahinrollen. Ich habe mich mit 20 für jemanden gehalten, der versucht, sich von sexuellen Platitüden zu befreien. Später wurde mir klar, dass ich all die männlichen Stereotypen auch in mir habe und sie bloß überdecke. Und desto älter man wird, desto quälender wird es. Man erkennt das Programm in seiner ganzen Perfidität, das einen zur willfährigen Marionette an den Fäden der eigenen Gene macht. Vielleicht liegt die Lösung in chemischen Substanzen, die den Mann nur einmal im Monat zeugungsfähig machen, und den Rest der Zeit hat er Ruhe. Wir brauchen Anti-Viagra."
Orgasm Addicts:
Anti-Viagra für die Buzz-Cocks!


Rocko Schamoni, eine Handpuppe der Evolution? Das Bild will nicht so recht passen zu dem selbstbewussten Mann, der da vor einem sitzt und ständig von Projekten erzählt, die er gemeinsam mit einer Vielzahl von Künstlern, Freunden und Musikern verfolgt. Er betreibt den von ihm umgebauten und vor zwei Jahren in neuer Pracht eröffneten Golden Pudel Club, steht mit seinen Kollegen von Studio Braun regelmäßig auf der Bühne des Schauspielhauses, der jüngst erschienenen DVD zu Wenzel Storchs Die Reise ins Glück hat er seine Stimme geliehen, und schon seit Längerem ist von einem Filme über den von ihm verehrten Heino Jaeger die Rede (Regie führen soll Schamonis Freund Lars Jessen, dem er die Film-Rechte an Dorfpunks für zwei Bier vermacht hat). Ein freier Mann. Oder doch nur eine menschliche Fliege?
"Vor einem Jahr habe ich viele Biologie-Bücher gelesen und mich mit Drosophila melanogaster, der schwarzbäuchigen Taufliege, beschäftigt, dem treuesten Begleiter des Menschen und dem am besten erforschten Organismus der Welt. Anhand dieses Tiers haben die Wissenschaftler gelernt, wie genetische Muster funktionieren, wie Lebewesen mutieren, wie sie Dinge lernen oder wieder verlernen. Es ist ein weiter Schritt von der Fliege zum Menschen, aber ein paar Ähnlichkeiten gibt es schon."
Die Passagen im neuen Buch, die am ehesten an Dorfpunks erinnern, spielen im Heimatort Sonntags. Aus dem schleswig-holsteinischen Schmalenstedt ist das niedersächsische Cloppenburg geworden, aus dem lauten Aufbruch eine stille Heimkehr, bevor Sonntag wieder die Flucht ergreift vor Mutters Kuchen und Vaters Marotten.
"Die Szene der Rückkehr, wo Sonntag bewusst wird, dass hier seine Wurzeln liegen und sein Elternhaus das Fundament seiner Person ist, trifft genau mein eigenes Empfinden. Dein Dorf trägst du immer mit dir rum. Ich fahre gern und oft zurück, aber ich kriege nach ein paar Tagen auch immer einen gehörigen Respekt vorm Land und weiß, warum ich weggegangen bin."
"I Can’t Understand the Flys" (The Clash 1976)

Prägungen, Muster, Konditionierungen, wohin man schaut im Roman von Rocko Schamoni. Nirgends ein Riss in den Mauern der Städte und Köpfe, keine Jugendbewegung, die emphatisch "Weg mit dem Scheißsystem" brüllt und von einer schöneren Zukunft träumt. Stattdessen herrschen Verzweiflung und der kurzfristige Hedonismus der Überflüssigen. Michael Sonntag begegnet ihnen überall auf den Straßen Hamburgs, Männer und Frauen ohne Jobs und Familien, auf Sozialämtern und vor Lidl hängen sie ab und haben keinen Begriff von einer besseren Zukunft. Doch auf ihnen ruhen die Hoffnungen Rocko Schamonis.
"Das habe ich als minimale Chance des Romans verspürt, als leise Erwartung, die ihn durchzieht: dass alle die, die heute noch nicht die Kraft haben, sich zu vereinigen, die keine Stimme haben, dass sie alle eines Tages einander bewusst werden und in einer Gruppe zusammenkommen. Es wäre doch schön, wenn sich Menschen davon angesprochen fühlen und plötzlich erkennen: Du bist als kleinstes Teil einer riesigen Maschine genauso wertvoll wie jeder andere, und du bist viele."
Schwarzbäuchige Taufliegen aller Länder, vereinigt euch! Aber das ist wieder eine andere Geschichte, und die fängt gerade erst an.

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Freitag, 8. Mai, 20 Uhr, Polittbüro: Ein Lütjenburger Heimatabend
Gezeigt wird die Dokumentation Rebellion auf dem Marktplatz von Heike Bettermann und Rainer Link, die Rocko Schamoni zu den Stätten seines frühen Wirkens begleitet und die Anfänge der Punk-Bewegung in Ostholstein rekonstruiert. Anschließend spielt Pudel Apparat (Rocko Schamoni, DJ Patex, Victor Marek, Hans Platzgumer, Knarf Röllem), die Hauskapelle des Golden Pudel Club, "live einen bunten Strauß eingängiger Melodien und moderner Rhythmen"

Donnerstag, 28. Mai, 20 Uhr, Lichtmess Kino: Das Universum des Wenzel Storch
An diesem Abend erfahren wir in lehrreichen Making-of-Dokumentationen alles über die pannenreichen und katastrophalen Dreharbeiten zu Sommer der Liebe und Die Reise ins Glück: umkippende Kulissen, explodierende Köpfe, betrunkene Tiere und angepinkelte Kinder, dazu Interviews mit Max Raabe, Jörg Buttgereit, Rattelschneck u.v.a. Zwischen den Filmen zeigt uns der "Jules Verne auf LSD" (Die Zeit) ausgewählte Exemplare seiner Schmuddelbildchensammlung und liest aus seinem im April erschienenen Buch Der Bulldozer Gottes (Text: Lichtmess Kino)

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