17 Februar 2012

Njorp!

Eine Melange aus Fargo und Twin Peaks sollte es werden, stattdessen ist ein toller Bastard aus Heino Jaeger und Ultimate Fight Club entstanden. In seinem ersten Krimi lässt Frank Schulz einen Noppensocken tragenden Amateurdetektiv aus Hamburg-Eimsbüttel auf ein ganzkörpertätowiertes Kiez-Monstrum treffen – was Freundschaft hätte werden können, endet in einem Beinahe-Massaker auf der Außenalster. Neben handgreiflicher und struktureller Gewalt geht es in Onno Viets und der Irre vom Kiez außerdem um vielerlei Formen des audiovisuellen Trash-Entertainments, um die Liebe und natürlich um Tischtennis. Der Roman ist so temporeich, überraschend und variabel wie ein Weltklasse-Match, die sprachlichen Gags kommen mit der Härte und Frequenz der Vorhand von Ma Long, und selbst in den vertracktesten Momenten behält er souverän und gut gelaunt die Übersicht wie Timo Boll. The Wayward Cloud sprach mit Frank Schulz über die Ballwechsel zwischen Realität und Literatur und die Ästhetik männlicher Aggressionsabfuhr.

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The Wayward Cloud: Bei unserem letzten Gespräch haben Sie gesagt, dass Sie eine Anschauung der Realität brauchen, um einen Einstieg in die Fiktion zu finden. Welche Orte haben Sie für Onno Viets und der Irre vom Kiez aufgesucht?

Frank Schulz: Eigentlich alle, die vorkommen. Ich war an der Alster und habe die Fährpläne studiert, und ich bin eine Woche auf Mallorca herumgefahren. Ich habe mir dort eine Villa angeschaut, die mir als Handlungsort geeignet schien, sie dann aber an eine andere Ecke der Insel verlegt. Ich muss einen Ort gesehen haben, um mir dichterische Freiheiten mit ihm erlauben zu können. Das ist eine Pendelbewegung, erst stelle ich mir einen Ort vor, dann schaue ich ihn mir an und stelle ich oft fest, dass mein imaginäres Bild schief hängt, dass die Dinge, die dort passieren sollten, so nicht klappen können. Dann muss ich die Handlung wieder modellieren, verändern, damit ich wieder das Gefühl habe: So könnte es passieren.

Alles, was im Buch steht, muss in der Realität möglich sein?

Ich finde ja. Wo man dabei die Grenze zieht, ist schwer zu sagen. Wolfgang Herrndorf hat das Problem in seinem Blog über seinen Roman Sand so umschrieben: Es gibt richtige und es gibt falsche Fehler. Ob ein bestimmtes Mercedes-Modell 1972 schon eine Zentralverriegelung hatte, das ist relevant, das muss man recherchieren, sonst hat man einen richtigen Fehler. Nicht relevant ist, wenn man schreibt, dass am 17. Juni 1972 die Sonne geschienen hat, obwohl es damals regnete. Das nennt Herrndorf einen falschen Fehler. Was stimmen muss und was nicht, lässt sich schwer in Worte fassen, das findet man nach und nach heraus.

Nun fährt wohl kein Leser nach Mallorca, um den Roman zu überprüfen, hätte da nicht auch das Blättern im Reiseführer gereicht?

Es ist im Nachhinein schwer zu beurteilen, was ein Roman ohne Recherche geworden wäre. Es geht ja auch um die Stimmung des Ortes und um Einzelheiten, die man sich nie ausdenken könnte. Das Edelrestaurant etwa habe ich dort entdeckt, das entpuppte sich als idealer Handlungsort für eine wichtige Szene mit einem russischen Mafiosi.

Waren Sie auch in der Ritze oder sind Sie wie Onno vor der Tür geblieben?

Ich war da auch früher schon oft drin. Zum Abschluss einer Kiez-Nacht ging’s immer ins Lehmitz oder in die Ritze. Das ist aber viele Jahre her, deshalb wollte ich mir die Kneipe mal wieder anschauen und habe ein paar Fotos dort gemacht. Beim Schreiben habe ich dann aber gedacht, eigentlich wäre es viel besser, wenn so ein legendärer Ort von den Figuren gar nicht besucht wird, sondern sich die Handlung draußen abspielt, vor der breitbeinigen Dame. Es sollte ja auch kein Milieu-Roman werden.



Gibt es ein Vorbild für den Kiez-Schläger Tibor alias Händchen?

Die Figur speist sich aus den verschiedensten Quellen, zum Beispiel aus eigenen Erfahrungen. Als Dorf-Jugendlicher sind wir öfter mal mit delinquenten Typen aneinandergeraten, die ziemlich hauermäßig drauf waren. Die Rollenverteilung war klar: Die sind diejenigen, die auf die Glocke hauen, und wir sind diejenigen, die weglaufen und einstecken. Das ging schon mangels Masse nicht anders. Und die hatten den Vorteil der Brutalität auf ihrer Seite, wo die austeilten, wuchs kein Gras mehr. Ich hau niemandem mit dem Ellbogen in die Schnauze, das kann ich nicht. Diese frühen Erfahrungen mit Gewalt und mit dem Gefühl der Erniedrigung stecken mir bis heute in den Knochen. Es ist zwar nicht so, dass ich permanent angstbeladen durch die Gegend laufe und denke, dass ich gleich was auf die Fresse kriege, aber die Verunsicherung wirkt nach. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich jetzt damit auseinandergesetzt habe. Ich verabscheue Gewalt, aber sie fasziniert mich auch, und sie birgt ein großes ästhetisches, schwarz-magisches Potenzial. Ich habe viele einschlägige Filme gesehen und die Biografien von Kiez-Größen und Hooligans gelesen. Aus diesen persönlichen und sekundären Quellen ist nach und nach Händchen entstanden.

Das zentrale Thema des Romans ist die Gewalt?

Ja. Gehüllt in die Frage, was passieren würde, wenn man einen Softboiled Detective auf so einen schlimmen Finger treffen lässt. Und wenn der eine den anderen dann auch noch als Freund betrachtet. Die Begegnung zwischen Onno und Händchen kommt ja zufällig zustande, keiner der beiden hat sie gesucht. Sie hat sich vielmehr ergeben durch einen strukturellen Zwang: Onno kann nichts, muss aber irgendwie Geld verdienen. Deshalb kommt er in Teufels Küche. Um es mal in einer Drehbuchformel zu sagen, die ich mir im Verlauf des Schreibprozesses an die Wand gepinnt habe: Der Gute ist gezwungen, das Gute im Bösen zu verraten. Es geht also um zwei verschiedene Formen der Gewalt, die körperliche Händchens, und eine strukturelle, die in unserer Gesellschaft herrscht, weil man ohne Geld nun mal unter der Brücke landet.

Können Sie diese strukturelle Gewalt noch etwas näher erläutern?

Sie kommt zum Ausdruck in einem Satz des Ich-Erzählers: „In einer Gesellschaft, in der nach Leistung bezahlt wird, ist Onno ein Fall für die Organbank.“ Dahinter verbirgt sich die These, dass Menschen in der heutigen Gesellschaft nur noch als ökonomische Faktoren betrachtet werden. Früher sind Typen wie Onno bei der Post untergekommen und konnten da ohne Leistungsdruck und Zeitvorgaben ihren Lebensunterhalt verdienen. Auch deshalb ist ja diese ganze Privatisierung ein Dreck. Da geht’s ja nur noch um Zahlen und Profite, es ist die reine Polemik, davon zu sprechen, das komme alles dem Verbraucher zugute.



Kann Gewalt eine Lösung für Probleme sein?

Es gibt ein Buch, das heißt Gewalt ist eine Lösung. Der Autor Stefan Schubert, einst Polizist und zugleich ein Hooligan, erklärt darin ganz plausibel, warum für ihn Gewalt eine Lösung war. Als Jugendlicher musste er immer durch ein Viertel, in dem er oft Ärger bekam. Eines Tages ist er dann in eine Kampfsportschule gegangen, hat bei einer erneuten Anmache seinem Gegenüber eins auf die Nuss gehauen und eine entscheidende Erfahrung gemacht: Plötzlich wurde ihm Respekt gezollt. Diesen Dreh- und Angelpunkt habe ich in allen Büchern wiedergefunden, die ich zum Thema gelesen habe: erst die Demütigung, dann die Umkehr und Respektbezeugung. Insofern kann man davon sprechen, dass Gewalt für diese Leute eine Lösung war. Allerdings nur kurzfristig: Man haut jemandem auf die Schnauze, und dann ist erst mal Ruhe. Aber damit ist es meist nicht zu Ende, Gewalt wirkt nach, sie erzeugt Gegengewalt, schaukelt sich hoch, schafft ihre eigene unübersichtliche Situation. Ich bin überzeugt, dass es bessere Lösungen gibt.

Haben Sie selbst mal Kampfsport betrieben?

Weil wir als Jugendliche dauernd damit konfrontiert waren, dass man uns in Stade auf die Omme kloppen wollte, sind wir mal alle zusammen in einen Boxverein gegangen. Da habe ich genau den Typen wiedergetroffen, der mir immer ans Leder wollt, und bin lieber wieder zu Hause geblieben. Mit Anfang 30 hatte ich dann mal eine Phase, in der ich es geschafft hatte, das Rauchen aufzugeben, und mit Karate begann. Das fand ich super, diese domestizierte, ritualisierte Form des Trainings, die tänzerischen Katas. Da kann man wirklich Aggressionen abbauen, allein durch das Schreien und die Konzentration auf die Schläge.

Onno und seine Kumpels spielen Tischtennis – ist das eine zivile Variante männlicher Aggressionsabfuhr?

Ja, das ist eine Komponente. Da geht’s richtig zur Sache, man kommt ins Schwitzen, die Emotionen kochen hoch. Ich spiele selbst regelmäßig Tischtennis und gehöre zu denen, die am lautesten dabei rumbrüllen. Mit der Zeit entwickelt man ja auch einen gewissen Ehrgeiz, da geht es ab einem gewissen Level schon um was. Wenn ich jemandem vom Tischtennis erzähle, und der meint dann „Ach, Runde und so“, dann krieg ich einen ganz schönen Hals.



Was für ein Spieler sind Sie?

Es gibt ja die unterschiedlichsten Typen, es gibt die coolen Blocker, so wie Onno, es gibt die Angriffsspieler, es gibt die psychologischen Taktiker. Mich freut am meisten die Ästhetik der Ballistik, ich liebe die euphorischen Zustände, in die man bei spektakulären Ballwechseln geraten kann. Ich bin eigentlich derjenige, der am schnellsten vergisst, ob er verloren oder gewonnen hat. In den Einzeln verliere ich überwiegend, was mir zwar auch auf den Sack geht, ich weiß aber, wie die anderen das machen. Weil sie mich nämlich mental zu packen kriegen bei meiner Achillesferse, dass ich gerne schön und nicht auf Gewinn spiele. Dazu bin ich gar nicht in der Lage, ganz schlecht bin ich in Tempowechseln und im Variieren von Angriffstaktiken. Mir liegt eher das Doppel.

Im Buch spielt neben anderen visuellen Formen des Proll-Entertainments auch ein fiktiver Youtube-Amateurfilm eine zentrale Rolle. Was hat Sie daran gereizt, sich dieses Medium literarisch anzueignen?

Ursprünglich wollte das mit der Kamera festgehaltene Geschehen aus einer auktorialen Perspektive erzählen. Ich konnte aber nicht den richtigen Ton dafür finden. Ich wollte, dass das Finale grotesk ist, weil Gewalt ja immer auch etwas Groteskes hat, andererseits sollte die Sprache weder zu gewaltverherrlichend noch zu distanziert sein. So kam mir irgendwann der Gedanke, dass das ganze Geschehen zufällig gefilmt wird. Dann brauchte ich nur noch zu beschreiben, was im Film zu sehen ist, und das Ganze bekam seinen eigenen Ton und seine eigene Glaubwürdigkeit. Was gefilmt ist, ist nun mal wahr, auf der These basieren zumindest eine prosperierende Industrie und auch Youtube. Außerdem interessierte mich, was genau da eigentlich passiert, wenn jemand mit seinem Handy eine Katastrophe wie bei der Love Parade filmt. Warum macht man das? Ein professioneller Kameramann und Kriegsreporter, den ich dazu befragte, sagte mir: „Meine Kamera ist der Filter. Durch sie kann ich Distanz halten zu dem, was ich aufnehme.“ Das klingt paradox, ist aber genau der Punkt: Es geht darum, eine Form von Kontrolle über das Geschehen zu bekommen. Das ist auch der Kern des Stockholm-Syndroms, das es ja so gar nicht gibt, da glaube ich Natascha Kampusch. Die hat in ihrem Buch vehement darauf hingewiesen, dass das Sich-Einlassen mit ihrem Aggressor kein Syndrom ist, keine Krankheit, sondern eine ganz bewusste Überlebensstrategie. In einem Interview hat sie erzählt, dass sie ihrem Peiniger nach jedem Übergriff innerlich verziehen hat – sonst hätte sie die acht Jahre nicht überlebt.

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