09 Januar 2009

Geld oder Liebe

Ein neuer Film von Christian Petzold bedeutet wunderbarerweise auch immer: viele neue Interviews mit einem der reflektiertesten und artikuliertesten Regisseure der Welt. Ein Gespräch mit Petzold ist zugleich ein kleines Seminar zur Ästhetik des Kinos, in dem die vielfältigen filmhistorischen Bezüge und Reflexionen, die schon in der gemeinsamen Vorbereitung mit den Schauspielern eine große Rolle spielen, fürs Publikum wieder freigelegt werden. The Wayward Cloud ist stolz, diese Art des Denkens mit und über Bilder präsentieren zu können und zugleich mit Carmenito einen weiteren neuen Mitstreiter im Team zu haben. Er führte das folgende Gespräch über Jerichow Ende August 2008 bei den Filmfestspielen von Venedig, wo er seine Kollegen aus der FIPRESCI-Jury leider nicht davon überzeugen konnte, Petzolds neuen Film auszuzeichnen.

Willkommen, Carmenito!

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Frage: Wie glücklich sind Sie mit dem Label "Berliner Schule"?

Christian Petzold: Ich war glücklich, als es das Label noch nicht gab, die Gruppe aber schon. Wir wussten gar nicht, wie wir uns nennen sollten, und hatten auch gar kein Interesse daran, ein Manifest zu schreiben und uns einen Oberbegriff zu geben. Das ist von außen geschehen. Aber wenn ein Label von außen kommt, hat man plötzlich das Gefühl, man muss sich eine Identität geben. Die war ja gar nicht da. Wir waren ja einfach eine lose Gruppe, die sehr viel miteinander sprach und etwas absolut richtiges gemacht hat, nämlich zwei Sachen: Sie hat sich deutschen Verhältnissen geöffnet, und gleichzeitig hat sie das Gefühl gehabt, Kino machen zu müssen, über Erzählungen nachzudenken. Der Apparat wird reflektiert, und das, was vorgefunden wird, wird genauso reflektiert. Nicht etwa: Endlich ein Stoff, über den bislang nichts gedreht worden ist, aber mit den alten Mitteln. Als das Label kam, wurden wir sehr schnell angegriffen. Was ich überhaupt nicht verstanden habe. Da kann man doch erst mal sagen: Da ist erst mal etwas da. Da interessieren sich ausländische Zuschauer dafür. Dann kamen aber diese Angriffe: lange Einstellungen (was nicht wahr ist, die sind oft sehr verschieden), kalt (was auch nicht war ist: Valeska Griesebachs Sehnsucht ist ein großes Melodram). In Deutschland wurde das so dargestellt, als wenn diese wenigen Leute mit ihren kleinen Budgets ein ganzes System angreifen würden. Deswegen war ich ein bisschen unglücklich, nicht mit der Bezeichnung, sondern mit der Reaktion. Die "Berliner Schule" existiert aber. Man braucht nicht mehr damit hausieren gehen.

Frage: Interessant ist ja, dass das Interesse von außen kommt, in diesem Fall aus Frankreich, wo das Schlagwort der "Nouvelle vague allemand" fiel.

Petzold: Das ist oft so. In Deutschland hatte sich das Filmgeschäft totgelaufen, mit einer komischen Zweiteilung: München oder Berlin. Mainstream oder Museum. So sind wir Totengräber des Kinos, wenn wir uns so aufteilen. Das Interessante an der Berliner Schule ist ja, das sie eigentlich klassisches Kino macht. Wir haben ja keine Formen zerstört, sondern klassische Drehbücher geschrieben, klassische Geschichten, Castings, Einstellungen. Wir haben nicht versucht, ein Kino zu dekonstruieren, sondern zu rekonstruieren. Oder besser: neu auszurichten. Und das fand ich ein bisschen enttäuschend, wie das in der Öffentlichkeit verlaufen ist.

Frage: Ist der Name der Stadt Jerichow eine bewusste Anspielung auf das biblische Jericho?

Petzold: Es hat etwas damit zu tun. Ich war für Yella mit meinem Sohn unterwegs, weil der ein Brückenfan ist, und ich suchte eine Brücke, von der der Jeep ins Wasser stürzen kann. Wir sind die ganze Elbe lang gefahren, bis wir ins Jerichower Land kamen. Und hinter einer Brücke, die ich fotografieren wollte, stand "Jerichow". Was für ein tolles Wort! Ein Wort, dessen Bedeutung ich gar nicht mehr wusste. Dann gibt es ja diesen Song von Style Council: The Walls Are Tumbling Down. Da geht’s um die Trompeten von Jericho, die die Mauern zum Einsturz bringen. Die Aussage: Kunst und Musik können Mauern zerstören. Dann kannte ich Die Rose von Jericho von Johann Peter Hebel aus dem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. Da geht es um eine vertrocknete Wüsten-Rose, die eigentlich tot ist, aber in dem Moment, wo sie einen Tropfen Wasser abbekommt, wieder lebt. Ein Symbol für die Auferstehung Jesu. Gleichzeitig sehe ich in einer Industrieruine das Schild "Jerichow" stehen, mit einer Kulturlandschaft, die die Elbe geprägt hat. Darum habe ich den Film so genannt und ihn zum Schauplatz gemacht.

Frage: Das bestimmende Thema in ihrem Film ist Geld.

Petzold: Das hatte ich gar nicht so geplant. Bis mich Bettina Böhler, die Cutterin, am Schneidetisch darauf aufmerksam machte. Das Geld ist entweder als Gesprächsgegenstand oder als Abbild omnipräsent. Fast jede Szene wird mit Geld eingeführt. Dabei geht es nicht nur um die Geldverstecke oder das Geld, das offen im Wagen liegt. Dauernd sagt jemand, dass man mehr verdienen könne, wenn man mehr arbeitete. Ich kann immer mehr verlangen, wenn ich dich dafür bezahle. Ali bezahlt auch die Schulden seiner Frau, um eine Ehe zu haben. Es geht dauernd nur ums Geld, und das hängt damit zusammen, dass wir durch den Kapitalismus eine entzauberte Welt haben. Die Figuren im Film glauben, wenn man genug Geld hätte, könne man den Zauber wieder kaufen. Wenn der Kapitalismus alles zerlegt hat, die Liebe, die Emotion, die Tugend, dann tut er so, als könne man sie wiederherstellen, hätte man genug Geld. Dem laufen die Figuren hinterher. Sie glauben, dass man erst mit Geld eine Familie gründen könne, sich lieben könne (wie Laura sagt) oder ein Heim finden (wie es Thomas mit der Renovierung des Elternhauses versucht). Wenn man sein Leben so aufbaut, fliegt es einem automatisch um die Ohren und führt ins Verbrechen.

Frage: Gibt es da auch Verstrebungen zu Yella, wo es auch um die Auswirkungen des Kapitalismus geht?

Petzold: Da ist gewiss was dran, obwohl mich da das Gespenstermotiv mehr interessiert hat. Der Neo-Kapitalismus, die neue Sprache des Kapitals, hat mich auch fasziniert. Da wird ja etwas Neues verhandelt, da gibt es neue Einsamkeiten, eine neue Melancholie, eine neue Bürgerlichkeit, die über diesen globalisierten Kapitalismus hergestellt werden. Das Kino kann nicht so tun, als ob es ganz tolle alte Standpunkte einnimmt, die aus dem 19. Lahrhundert kommen. Wir müssen das, was neu ist, betrachten, und dann schauen, was bringt dieses Neue für neue Menschen und neue Gefühle hervor. Bei Yella waren das gespenstische Figuren, die im Alten verharren, aber in dem Neuen sich bewegen, also in einem Zwischenreich sind. Ich habe mit Jerichow eine neue Trilogie begonnen: Liebe in untergehenden Gesellschaftssystemen. Auch wenn das so ein bisschen wie eine Examensarbeit klingt.

Frage: Eine sehr schöne Idee ist ja auch das Verstecken des Geldes unter einer Rampe. Steckt da Misstrauen dahinter, gegenüber den Banken zum Beispiel?

Petzold: Ich glaube, dass das etwas Kindisches ist. Ich musste vorhin noch im Hotel an Nicholas Rays Lusty Men denken, wo es eine ähnliche Szenen gibt, die von Rüdiger Vogler in Wim Wenders’ Im Laufe der Zeit wieder aufgenommen wird. Bei Lusty Men hat es eine Melancholie über ein verpfuschtes Leben, und in diesem Moment, in dem in einer Kiste die Schätze der Kindheit, die mal eine große Bedeutung hatten, von einem Mann, der so müde ist, dass er nicht weiß, wie er den Tag überstehen soll, wiedergefunden werden – darin steckt eine ungeheure Trauer über ein verpasstes Leben. Das hat was mit dem Geldverstecken bei Jerichow zu tun. Laura ist Mitte 30, aber sie versteckt ihr Geld wie eine Achtjährige, wie einen Schatz. Darin steckt diese Sehnsucht: Ich will Kind bleiben, damit ich das Gefühl habe, mein Leben ist noch nicht vorbei, ich habe es noch vor mir. Aus dieser Regression, aus diesem infantilen Herangehen an ihre eigene Biografie erwächst auch der Mordplan. Das ist in etwa so wie bei Kindern, die einen Kaugummi-Automaten knacken – da steckt gar nichts Gemeines, Perfides, Hinterhältiges dahinter. Das tut ja am meisten weh, wenn Kinder morden, weil sie eine ungeheure Kälte dabei haben, weil sie den anderen gar nicht wahrnehmen. Diese regressive Kälte, diese Kindlichkeit, ist in dem Verstecken drin. Als sie merken, dass sie anderen weh tun und erwachsen werden, sind sie aus der Gesellschaft wieder ausgeschlossen.

Robert Mitchum in seinem Versteck
(Szenenfoto aus Nicholas Rays The Lusty Men)


Frage: Das Verhältnis Geld – Liebe hat auch etwas Fatales, wenn Laura sagt, dass man nicht lieben könne, wenn man kein Geld habe.

Petzold: Ja, sie weint aber noch dabei. Sie weiß, das sie die Wahrheit spricht, und diese Wahrheit ist so furchtbar, dass es nicht anders geht. Auf einmal versteht sie: Ich habe alles probiert, und das ist aus mir geworden. Ich habe nicht die Möglichkeit, aus eigener Kraft, durch ehrliche Arbeit, durch gute Bildungschancen in dieser Bundesrepublik etwas zu erreichen. Das weiß Laura. Sie hat nicht mehr die Chance, mit einer Idee, einer Realisation oder mit einem Glücksversprechen ihrem Leben noch eine andere Richtung zu geben.


Frage: Wie wichtig ist der Kriegshintergrund von Benno Fürmanns Figur? Man erfährt nichts über seine unehrenhafte Entlassung, was für den Zuschauer auch etwas Frustrierendes haben könnte.

Petzold: Ich weiß es nicht. Ich habe mir das auch überlegt. Wir hatten eine sehr lange Probenzeit und haben auch Filme gesehen, Fassbinders Händler der vier Jahreszeiten zum Beispiel, der eine ähnliche Konstellation hat. Dort gibt es eine Szene mit einer Rückblende aus der Fremdenlegion, die aber nicht so recht in den Film passen will. Es ist die Familie, die die Titelfigur zerstört, nicht die Legion. Die Legion ist nur Fluchtpunkt. Ich habe mir gedacht: Afghanistan wird jeden Tag erwähnt, es wird über Afghanistan gesprochen, aber wir haben keine Bilder, wir haben keine Vorstellung von dem Land. Ich kann jetzt nicht eine Vorstellung von Afghanistan liefern. Der Film geht nicht darum. Es geht nur um jemanden, der von dort kommt. Und wir wissen nur so wenig darüber, wie wir selber über Afghanistan wissen. Man kann sich aber vieles vorstellen. Vielleicht hat er zwei oder drei Jahre als Türsteher gearbeitet, hat versucht, sich selbständig zu machen, ist gescheitert, hat sich hoch verschuldet. Es sind so Reste von klassischen Soldatenbiografien, von Glückssuchung, die über das Soldatentum, über eine Verpflichtung, etwas erreichen will. Bei uns war es auch so, dass die Arbeiterkinder, zu denen ich auch gehöre, sich zwölf Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet haben, um einen Lkw-Führerschein zu machen und eine große Abfindung zu bekommen, um sich dann einen Kiosk zu kaufen. Reste von diesen Wünschen, sich über das Soldatentum zu befreien, stecken in Benno Fürmann. Ich glaube nicht, dass der Film das hätte erzählen können. Der wäre geborsten, wenn ich auch über Afghanistan erzählt hätte.

Frage: Ein Begriff, den Sie anlässlich des Films geprägt haben ist das "Heimat-Building". Für mich scheint Ali die heimatlosestes Figur des Films zu sein, gefangen zwischen der Türkei und Deutschland.

Petzold: Das sind "Deutschländer". Ich kenne mich da ein bisschen aus, weil meine Frau türkische Regisseurin ist und über Emigration viele Filme gemacht, und darum bin ich an dieser Diskussion beteiligt. Ich finde es unglaublich, wie sich Deutschland gegen jede Form von Einwanderung gewehrt und eine ekelhafte, fast rassistische Politik über Jahrzehnte hinweg betrieben hat. Dann haben hier die Immigranten versucht, etwas aufzubauen. Sie gehören nicht mehr in die Türkei, sie gehören aber auch nicht nach Deutschland. Diese Verzweiflung – ich baue genau das auf, was die Deutschen von einem verlangen: ein Haus, eine Frau, Arbeit, Arbeitgeber sogar, ich schaffe Mehrwert, - nicht einmal das findet Anerkennung. Daraus resultiert Einsamkeit. Ich mochte immer im Kino, wenn Menschen sich so wahnsinnig anstrengen, um einem Bild zu entsprechen. Umso mehr sie sich anstrengen, umso weiter verschwindet dieses Bild. Und diese Zerrissenheit in Alis Figur – das ist nicht nur eine kulturell-mentale Zerrissenheit. Er hat auch etwas von einem Arbeitgeber, der nicht einsehen will, Arbeitgeber zu sein, ein Ehemann, der Macho ist, aber auch jemand anders sein will. Kurzum: eine komplizierte Figur. Und davon gibt es zu wenige im deutschen Kino.


Frage: Ihr Film bezieht sich ja thematisch auf Wenn der Postmann zweimal klingelt von Tay Garnett.

Petzold: Ja, absolut. Die Geschichte ist sehr oft verfilmt worden. Das ist für mich ein Stoff wie Medea, ein antiker Stoff, auf den man immer wieder zugreifen kann und der immer in Krisenzeiten neu verfilmt wird. An dieser Dreieckskonstellation lassen sich Krisen wunderbar festmachen. Darum ist die Tay Garnetts Verfilmung von 1946 so total anders als das Remake von Bob Rafelson (mit Jack Nicholson) von 1981. Obwohl es ähnliche Dialoge sind, ist die amerikanische Wirklichkeit eine total andere. Ich mag solche Stoffe, die immer wieder auftauchen, aber eine andere Perspektive auf die Welt werfen. Howard Hawks zum Beispiel. Der hat seine eigenen Filme immer wiederholt, einfach Remakes derselben Geschichte gedreht, sie aber in andere Zusammenhänge gestellt. Ich finde das großartig: Wir nehmen diese Idee und führen sie weiter anstatt immer etwas Neues zu erfinden.


Frage: Ein anderes wichtiges Thema des Films ist Schuld, weil die Hauptfiguren bereit waren, einen Mord zu begehen – auch wenn sie es dann nicht getan haben.

Petzold: Der Produzent des Films, Florian Koerner von Gustorff, ist Schlagzeuger in einer Band namens Mutter. Die hat mal eine CD gemacht: Ich schäme mich, Gedanken zu haben, die andere Menschen in ihrer Würde verletzen. Ich glaube, in diesem Moment, wo die Figuren bereit sind, den Mord zu realisieren, und dann erfahren, dass es nicht mehr "notwendig" ist, weil das Opfer an einer Krankheit sterben muss und sich mit diesem Tod die Wünsche der Täter realisieren, ist alles vorbei. In diesem Moment ist man aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Man ist nicht mehr gut, man ist nicht mehr böse, man ist nichts mehr. Und dieses Nichts, in das beide zum Schluss geraten, ist das Nichts, vor dem sie die ganze Zeit geflohen sind, vor dieser Aussichtslosigkeit einer Biografie. Gleichzeitig ist es aber auch eine Katharsis. Gleichzeitig verstehen sie zum ersten Mal "Gesellschaft". Ich finde dieses Ende wunderschön.

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