10 Juni 2008

Blick zurück Nr. 2

Ein Blick zurück, ein Moment des Innehaltens, in dem der Zuschauer plötzlich sich selbst gewahr wird, geschieht am Ende von Gerd Kroskes "dokumentarischem Kammerspiel" Wollis Paradies. Der Film handelt vom Weltenbummler, Bordellbesitzer, Maler und Literaten Wolfgang "Wolli" Köhler, dem Ende der 1960er Jahre fast die Revolution auf dem Kiez gelungen wäre. Seinen Puff im Palais d’Amour führte er wie eine sozialistische Kommune, in seinem Salon trafen sich Luden und Bordellchefs zum Plausch mit Paradiesvögeln wie dem Harburger Anarcho-Humoristen Heino Jager und dem Boxer Norbert Grupe. Ein enger Freund Köhlers war der Schriftsteller Hubert Fichte, der eine Reihe von Interviews mit ihm in Wolli Indienfahrer veröffentlichte. Der Regisseur Gerd Kroske lernte Köhler bei den Recherchen für sein Grupe-Porträt Der Boxprinz kennen, wollte mehr über ihn erfahren und porträtierte Köhler in seiner Wohnung in Hamburg-Ohlsdorf, wo er mit seiner Frau Linda lebt.

Nachdem man einen Tag und eine Nacht (komprimiert auf 60 Minuten) den Erzählungen und Erinnerungen des begnadeten Selbstdarstellers Wolfgang Köhler gelauscht hat, tritt der Protagonist auf den Balkon. Es ist einer der Momente, wie man sie manchmal nach einer besonders intensiven durchzechten Nacht erlebt. Der Morgen dämmert, es ist still, die Aufregungen der Nacht, hier eines ganzen Lebens, zittern noch in einem nach. Man will noch nicht ins Bett, vielleicht weil man das Gefühl hat, der Möglichkeit eines anderen Lebens auf der Spur gewesen zu sein, zu dem einem noch das letzte Puzzleteil fehlt. Also noch eine letzte Zigarette.

Wolfgang Köhler also tritt hinaus auf seinen Balkon, lässt seinen Blick einmal über die gutbürgerliche Nachbarschaft von Hamburg-Ohlsdorf gleiten und schaut schließlich direkt in die Kamera. Er schweigt und schaut dich an, und plötzlich stehst du selbst da auf diesem Balkon im Morgengrauen und fragst dich: Geht das alles nicht auch anders?


Ein Gespräch mit Gerd Kroske zu Wollis Paradies:

Herr Kroske, was hat Sie bewogen, Wolfgang Köhler einen ganz Film zu widmen?

Bei den Aufnahmen für Der Boxprinz wurde mir schnell klar, wie interessant er ist. Charismatisch, gebildet und außerdem ein radikaler Freigeist, der sich niemandem unterordnet und an jedem Kompromiss leidet.

Wie erklären Sie sich Wollis antibürgerliche Haltung?

Das hat viel mit seiner Herkunft zu tun. Das sächsische Dorf Waldheim, in dem er aufwuchs, war ein kleines Kaff, das vor allem für seinen Knast und seine Psychiatrie berühmt war. Wolli eckte dort immer an, flog von der Schule, brach seine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker in der Werkstatt seines Vaters ab und flüchtete später in den Westen.

Muss man einen so begnadeten Selbstdarsteller noch inszenieren?

Ja, man muss auf die Zwischenmomente achten, die Zeiten des Schweigens, wenn etwas aufbricht oder unsicher wird bei ihm.

Glauben Sie alles, was Wolli erzählt?

Ein paar Dinge habe ich überprüft, zum Beispiel ob er bei den Mädchen aus seinem Puff wirklich so korrekt war, wie er immer sagt. Und tatsächlich: Über den Wolli geraten heute noch alle ins Schwärmen. Er lügt nicht, er hat einfach eine große Gabe des Fabulierens. Vor allem, wenn er gekifft hat.

In Ihrem Film geht es vor allem um die Jahre auf St. Pauli. Was hat Wolli seither getrieben?

Anfang der 80er ist er mit seiner Frau Linda für einige Jahre nach Costa Rica gegangen. Er wollte auswandern und ein Hotel für Rucksacktouristen aufbauen, aber das ging schief. Sein Haus wurde zum Treffpunkt Hamburger Halbwelt-Größen auf Urlaub oder auf der Flucht, die das dortige Rotlichtmilieu unter ihre Fittiche nehmen wollten. Die Behörden waren nicht begeistert, und Wolli wurde so um 1989 ausgewiesen. Er hat dann in Hamburg als Barmann gearbeitet, jetzt lebt er seit zehn Jahren als Rentner in Ohlsdorf.

Neben vielen Zeichnungen präsentiert Wolli einige eigene Texte im Film, kann man die irgendwo lesen?

Er hat noch nichts veröffentlicht und ist da leider auch nicht sehr hinterher. Auf der Website zum Film haben wir eine Leseprobe seiner Erzählung Die Insel von 1956 veröffentlicht, die man dort im Faksimile bestellen kann. Es gibt wirklich sehr gute Texte von ihm, er hat eine große Gabe, in starken Bildern zu erzählen. Seltsam, dass das noch niemand entdeckt hat.

Hat Wolli Ihren Film schon gesehen?

Ja, bestimmt schon über 20-mal. Er hat jeden einzelnen Schnitt, jede Kamerabewegung analysiert. Gott sei Dank ist er nach anfänglichen Bedenken ganz zufrieden damit.

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