Liebe Sternsinger, Domspatzen und Gospelröhren,
lasst uns alle einstimmen:
Advent, Advent,
ein Lichtlein brennt,
erst eins: Nympho Nurses!
dann zwei: Coole Carabinieri!
dann drei: Rächende Nonnen!
dann vier: Narbenfressen!
und dann steht am 20.12. auch noch das Bizarre Cinema XXXmas Special vor der Tür: Oldschool-Horror! Mad Magicians! Slasher-Puppen! (Wie immer alles im Metropolis)
Sonntag, 1.12.2013, 14.30 Uhr: Der Krankenschwestern-Report
BRD 1972 R: Walter Boos, 81 Min., DF, Mit Ingrid Steeger, Elisabeth Volkmann
In den 70ern waren die Report-Filme ein einschlägiges Erfolgsrezept in westdeutschen Kinos. Angefangen mit Schulmädchen-Report wurde fortan ein pseudodokumentarischer und voyeuristischer Blick in diverse Biotope der BRD geworfen. 1972 wurde das Krankenhaus zum Ort der Beobachtung. Das extreme Frustpotenzial an diesem Arbeitsplatz kann, so der Film, nur durch allerlei sexuelle Betätigung ausgehalten werden. Es folgten bundesweite Proteste der Ärzte- und Schwesternverbände. Dabei gab es über 2000 Anzeigen gegen die Produktion und ein zeitweiliger Aufführungsstop wurde bewirkt. Schön, wie aus pseudorealen Absurditäten reale werden.
Text und Einführung: Thorsten Wagner
Sonntag, 8.12.2013, 14.30 Uhr: Die Klette
I 1969, R: Romolo Guerrieri, 103 Min., DF, mit Franco Nero, Florinda Bolkan, Adolfo Celi, Delia Boccardo
Der Polizeibeamte Stefano Belli (Franco Nero) soll dem englischen Fotomodell Sandy die Aufenthaltsgenehmigung entziehen und sie zurück nach London schicken, weil sie, nach Meinung des reichen Anwalts Fontana, seinen Sohn Mino finanziell ausnimmt. Dann geschieht ein Mord! Und welche Rolle spielt die äußerst attraktive Stiefmutter Vera Fontana (Florinda Bolkan)? Um das Gestrüpp der Lügen zu durchdringen und dem Täter auf die Spur zu kommen, muss sich Belli ziemlich unfeiner Methoden bedienen. Immer tiefer zieht es ihn in den Dschungel der italienischen Unterwelt der Via Veneto. Wie eine Klette hängt er sich den Verdächtigen an die Fersen ...
Text und Einführung: Torsten Cornils
Sonntag, 15.12.2013, 14.30 Uhr: Junge Mädchen zur Liebe gezwungen
I 1978, R: Franco Prosperi, 86 Min., DF, mit Ray Lovelock, Florinda Bolkan
Drei Bankräuber finden Unterschlupf in einer am Strand gelegenen Villa, in der fünf Schülerinnen eines Klosterinternats mit ihrer Lehrerin die Ferien verbringen. Schon bald eskaliert die Gewalt und die sadistisch veranlagten Männer machen sich über die Mädchen und die Nonne her, die fortan primitive Erniedrigungen und rohe Gewalt über sich ergehen lassen müssen. Nervenaufreibender Rape’n’Revenge-Klassiker aus Italien, der mit einer sich stetig steigernden Gewaltspirale und einer beklemmenden Atmosphäre aufwartet. Dazu mit einem Ray Lovelock in Höchstform und einem tollen Soundtrack von Roberto Pregadio!
Text und Einführung: Mike Schimana
Freitag, 20.12.2013: The Great Bizarre Cinema XXXmas Special
Ein bunter Teller Spaß und Gewalt!
Wie jedes Jahr zur besinnlichen Zeit kommt Bizarre Cinema dem Weihnachtsmann ein paar Tage zuvor und feiert blutige Bescherung. Eigentlich wollten wir einen der großen Unbekannten des Horrorfilms vorstellen, den mythenumrankten Hollywood-Exilanten Simon Moro, der in den 30er- und 40er-Jahren mit seinem an Brecht geschulten Spiel Boris Karloff und Bela Lugosi Konkurrenz machte. Leider ließen sich von seinen Meisterwerken Ghoulgantua, The Moth, The Unholy Circus und The House of Gila Man keine Kopien auftreiben, deshalb beginnen wir den Abend mit einer Lesung aus Brock Browers Der letzte große Schrecken, einer fiktionalen Annäherung an Leben und Werk Simon Moros. Michael Kellner, nicht zuletzt bekannt für seine Neuübertragung von William S. Burroughs’ Naked Lunch, wird etwas zu Buch und Autor sagen und Passagen aus seiner Übersetzung vortragen. Anschließend zeigen wir Der Rabe, zwar nicht den berühmt-berüchtigten letzten Films Moros, dafür aber Roger Cormans ebenso kultige Poe-Adaption mit Vincent Price, Boris Karloff, Peter Lorre und dem blutjungen Jack Nicholson. Wem das alles zu oldschool ist, darf sich auf das anschließende Double Feature freuen, in dem es um blutrünstige Horrorpuppen geht. Dolls von Stuart Gordon ist ein kleiner, erfreulich verschrobener und sehr ambivalenter Film. Im klassischen Horrorgewand inklusive gängiger Klischees wie dem einsam liegenden Haus mit schrullig-unheimlichen Bewohnern und zufällig auftauchenden, leichtgläubigen Besserwissern verbirgt sich eine selbstreflexive Genre-Übung, die die Versatzstücke persifliert und zugleich liebevoll zelebriert. Gordon spielt mit den Zuschauer wie mit Marionetten und führt sie mithilfe von geschickt gesetzten Gruseleffekten, Humor und tollen Schauspielern geschickt hinters Licht. Danach folgt David Schmoellers perfider Backwood-Slasher Tourist Trap, in dem eine Jeep-Ladung leicht bekleideter Großstadt-Girls in einem abgelegenen Puppenmuseum landet. Der Besitzer trägt zu große Latzhosen und pflegt ein ungesundes Hobby, mehr soll nicht verraten werden.
19 Uhr: Lesung und Film
Michael Kellner liest aus Brock Browers Der letzte große Schrecken, danach Der Rabe (USA 1963, 16mm, DF)
21.30 Uhr: Double Feature Dolls (USA 1987, 35mm, OF) und Tourist Trap (USA 1979, 35mm, DF)
Sonntag, 22.12.2013, 14.30 Uhr: Zoff
D 1971, R: Eberhard Pieper, 86 Min., mit Giulia Follina, Jürgen Prochnow
Ein Film im typisch ungeschminkten 70er-Jahre-Stil, frei von Sentimentaliät und Prüderie, mehr Emotionen als Sensationen, mit einigen der bekanntesten deutschen Schauspielern, darunter Jürgen Prochnow in seiner ersten Kinorolle.
Text und Einführung: Lillian Robinson
Sonntag, 5.1.2014, 14.30 Uhr: Stiefel, die den Tod bedeuten
UK 1971, 89 Min., 35mm, DF, Regie: Richard Fleischer, mit: Mia Farrow, Dorothy Alison
„Die Blindheit fordert eine Kunst heraus, die glaubt, sehen zu können“ (Stefan Ripplinger). Regisseur Richard Fleischer, eine der Geheimwaffen des Bizarre Cinema (Die phantastische Reise, Mandingo, Conan), schuf mit diesem Proto-Slasher eine der furchterregendsten Antworten des Kinos auf das Problem der Blindheit. Als blindes Final Girl muss sich Mia Farrow in einem Landhaus eines Killers erwehren, von dem der Zuschauer fast den ganzen Film hindurch nur die Stiefel zu sehen kriegt. Der auf das Wesentliche reduzierte Plot und die ausgeklügelte Kameraarbeit machen aus Blind Terror (Originaltitel) einen der effektivsten Thriller der Siebziger.
Vorfilm: Maybe Siam von Christoph Girardet und Matthias Müller (DE 2009, DVD)
Text und Einführung: Volker Hummel
Sonntag, 12.1.2014, 14.30 Uhr: Soldier (UK/US 1998)
USA 1998, Regie: Paul W.S. Anderson, 99 min., OF, Bluray-Screening, mit Kurt Russell, Jason Scott Lee, Connie Nielsen
Selten ist ein Film so missverstanden worden wie dieser, der in Deutschland unter dem Titel Starforce Soldier ins Kino kam. Zu den absurdesten Kritiken zählen die, die Kurt Russell vorwerfen, wie wenig er reden würde. Was aber soll ein Mann groß reden, der bereits als Säugling für eine Karriere als Kampfmaschine ausgewählt wurde und auf der Militärschule gelernt hat, „Yes, Sir!“ zu sagen und nichts weiter als „fear and discipline“ zu empfinden? Dieser knallharte, kraftstrotzende Kämpfer, der Dutzende Menschen getötet hat, ist ein Opfer, ein armes Schwein, vom Militär um seine Lebenschancen betrogen – für Genrefans wohl zu sehr gebrochen, fürs feinere Feuilleton zu gewaltvoll und dialogarm. Doch wer sich von der Oberfläche nicht täuschen lässt und sich auf diesen unbequemen, wortkargen Helden einlässt, erlebt einen grandiosen Kurt Russell, der mit wenig Worten, aber vollem Körpereinsatz und ohne Scheu vor Schmerzen den Kampf seines Lebens kämpft: um seine Identität, seine Würde und – ja, doch! – für den Frieden.
Text und Einführung: Hans-Arthur Marsiske
Sonntag, 19.1.2014, 14.30 Uhr: S.H.E. – Security Hazards Expert (DE/US 1980)
USA 1979, Regie: Robert Lewis, 90 Min., OF, mit Cornelia Sharpe, Robert Lansing, Omar Sharif, Anita Ekberg
Im deutschen Fernsehen lief dieser Spionagethriller mit dem schönen Titel Ein superharter Engel, und damit kann natürlich nur die bezaubernde Cornelia Sharpe (Stichwort: hohe Wangenknochen) gemeint sein, die hier als weiblicher James Bond zwar nicht die Welt, aber immerhin das Erdöl retten muss. Böse Gangster unter Führung von Robert Lansing drohen nämlich zum Zwecke der Erpressung, mit neuartigen Mikroben das schwarze Gold zu zerstören. Tolle Locations in Europa, ein wasserdichter Plot und aufwendiger Produktions-Schnickschnack sorgen für angenehme Unterhaltung. Noch angenehmer wird das Vergnügen allerdings durch die Sharpe, die im hautengen schwarzen Lederoverall á la Emma Peel den Kerlen vors Schienbein tritt. Omar Sharif spielt einen Weinbaron – was sonst? Ob „Security Hazards Expert“ wohl ein Ausbildungsberuf ist?
Text und Einführung: Michael Ranze
Sonntag, 26.1.2014, 14.30 Uhr: Time Slip – Tag der Apokalypse (JP 1979)
JP 1979, Regie: Kôsei Saitô, 107 Min., DF, mit Sonny Chiba, Jun Etô, Moeko Ezawa
Die Armee-Einheit von Lieutenant Iba (Sonny Chiba) gerät während einer Übung durch ein „Zeitloch“ ins 16. Jahrhundert – mitten in einen Kampf verfeindeter Samurai-Clans. Einen der Herrscher will Iba im Kampf mit Hubschrauber und Panzern unterstützen, um den Krieg zu beenden und das Raum-Zeit-Gefüge so zu erschüttern, das eine Rückkehr in die Gegenwart möglich ist. Neben Sonny Chiba (Kill Bill) überzeugt in dieser Toho-Großproduktion vor allem die Action: Wenn Ibas Soldaten gegen Tausende Samurais in den Krieg ziehen, kommt es zur größten Schlacht, die je im Metropolis-Kino zu sehen war: Schwerter gegen Maschinenpistolen, Speere gegen Handgranaten, Ninjasterne gegen Kampfhubschrauber – fast 30 Minuten bizarre Dauer-Knallerei! Der Tag der Apokalypse beginnt am 26. Januar …
Text und Einführung: Jochen Oppermann
30 November 2013
22 November 2013
Wie in den Siebzigern
Wenn mir ein neuerer Film gefällt, denke ich oft: „Könnte aus den 70ern sein.“ Oder: „Sieht aus wie ein Seventies-Streifen.“ Oder: „Wow, tolles verschlepptes Tempo, wie in den Siebzigern.“ Der Verweis auf diese braunstichige Dekade ist für mich mittlerweile zum höchsten Lob für einen Film geworden, was aber verbirgt sich hinter diesem Kompliment? Zwei Dinge fallen auf: Zum einen enthält mein Urteil eine Genre- und eine Länder-Zuweisung, fast immer handelt es sich um amerikanische Gangster-, Polizei-, Kriminalfilme: The Yards (2000) und We Own the Night (2007) von James Gray, L.A. Confidential (1997) von Curtis Hanson, Cop Land (1997) von James Mangold, Night Falls on Manhattan (1996) und Before the Devil Knows Your Dead (2007) von Sidney Lumet, Brooklyn’s Finest (2009) von Antoine Fuqua, Reindeer Games (2000) von John Frankenheimer, Gone Baby Gone (2007) und The Town (2010) von Ben Affleck, City by the Sea (2002) von Michael Caton-Jones. Zum anderen steckt im Bezug auf die Siebziger die Verbeugung vor einem unzeitgemäßen Erzählen, eine Distanzierung von der Gegenwart, das angenehme Gefühl einer Abwesenheit vieler Elemente, die das heutige amerikanische Mainstreamkino dominieren: digitale Effekte und Bildwelten, Plottwists, twentysomething hardbodies, anorexische Bullock-Clon-Fressen, MarvelDComic-Franchises, 40-jährige männliche Jungfrauen, Emo Vampires, Hans-Zimmer-Soundtracks, Tykwer-Kitsch, Nolan-Bombast. Der Verzicht auf all das ist sympathisch, aber welche positiven Eigenschaften lassen sich benennen, die aus einem Film einen 70er-Streifen machen?
Manchmal wird einem die Antwort auf eine Frage, über die man schon einige Zeit nachgedacht hat, plötzlich auf einem Silbertablett serviert. Letzte Woche begann der britische Filmdozent und Northern-Soul-DJ Garrath Churm seine Einführung zu Barry Shears Across 110th Street (1972) mit einem Zitat von Abbas Kiarostami:
Zur Kontrastierung zeigte Churm die Anfangssequenzen von Jack Hills Pam-Grier-Vehikeln Coffy (1973) und Foxy Brown (1974), die deutlich machten, dass auch das Blaxploitation-Genre nicht an der Realität, sondern an der Variation übernommener und von ihm selbst geschaffener Stereotypen, Plots, Star-Personas interessiert war: Mit Pimp-Paraphernalia ausgestattete Figuren bewegen sich zu funky Soundtracks durch für konventionelle Kamerafahrten hergerichtete Studiosets und sprechen so, wie es sich für die ihnen zugewiesene erzählerische Funktion gehört. Das Opening von Across 110th Street ist von einem anderen Planeten, von ganz oben, in einer Serie von Aerial Shots, nähert sich die Kamera einem durch Harlem fahrenden Wagen und der Welt der Erzählung, die sich bei schwindender Distanz nicht von der realen unterscheiden lässt: bustling street life on all corners, Müll auf den Straßen, Ruinenhäuser. Sofort ist zu erkennen, dass die Kamera sich nicht für eine einzige Figur, einen Ort, einen Plot interessiert, sondern für alles, was um sie herum vorgeht. Kurz darauf die eigentliche Exposition, kurz, knapp, präzise: ein Überfall, ein Koffer voller Geld, ein Raum voller Leichen, drei Männer auf der Flucht.
Nach dieser Eröffnung passieren sehr viele Dinge, die der Film in einer Reihe atmosphärisch dichter Szenen miteinander in Verbindung bringt. Auf einem Familienfest in einem am Central Park gelegenen Apartment stecken ein alter und ein junger Mann ihre Köpfe zusammen und beschließen, dass es Zeit ist für eine Lektion. Vor dem Gebäude, in dem sich der Überfall ereignet hat, stehen Polizisten, Nachbarn, Schaulustige, palavern, versuchen herauszufinden, was geschehen ist. In Harlemer Kneipen, Clubs und Hinterzimmern werden Namen genannt und Pläne geschmiedet. Am Tatort treffen ein alter weißer und ein junger schwarzer Cop aufeinander. In Mietskasernen warten Frauen auf ihre Männer. Mit großer Neugier nimmt der Film den Überfall zum Anlass, überall hineinzugucken, einzutauchen in verschiedene Milieus, die Sights und Sounds der Stadt aufzusammeln. Die drei Männer verliert er dabei eine Zeitlang aus dem Blick, aber was er dafür in den Blick kriegt, ist das Gesamtgefüge des sozialen Kosmos, durch den der Raub Schockwellen sendet. Keine einzelnen Figuren oder Plotlines stehen im Fokus dieses außergewöhnlichen Erzählens, sondern soziale Strukturen, Hierarchien, Abhängigkeitsverhältnisse. Armut wird sichtbar, Rassismus wird sichtbar, sehr viel Gewalt wird sichtbar, aber nicht lokalisiert in einzelnen Figuren, sondern herausgearbeitet in einer Vielzahl von Kontrastierungen und Perspektivwechseln. Garrath Churm sprach von der demokratischen Weise, in der der Film Anteilnahme und Spott auf seine Figuren verteilt, jeder kriegt sein Fett weg, jeder hat Stärken, sogar der alte, rassistische Cop (Anthony Quinn), der in vielen Situationen ein feineres Gespür für die Menschen beweist als sein politisch korrekter Kollege.
In der demokratischen Auffassung seiner Figuren, in seiner Lust, in oft sehr enge, unbekannte Räume vorzudringen (u.a. das chaotischste Polizeirevier der Filmgeschichte, ein gigantisches Kriminalarchiv, urbane Brachen, Mietskasernen, immer wieder Dächer), in seiner Aufmerksamkeit für Sprechweisen und Gesten erinnerte mich Across 110th Street an The Wire (eine Erinnerung der Vergangenheit an die Zukunft), die TV-Serie, die kriminalistische Erzählformen der 70er adaptiert und komplett modernisiert hat. Ihr Schöpfer David Simon hat mal zur Beschreibung dieser Art des Erzählens von der griechischen Tragödie mit ihren Götterfiguren gesprochen, die das Schicksal der aufbegehrenden Menschen lenken („But instead of the old gods, The Wire is a Greek tragedy in which the postmodern institutions are the Olympian forces“, David Simon im Gespräch mit Nick Hornby). Vielleicht lässt sich mit diesem Hinweis ein Credo formulieren, das beschreibt, wie Across 110th Street, The Wire und all die Filme funktionieren, die mich an die 70er erinnern: Es sind ausgesprochen welthaltige, also an der Realität interessierte und zugleich klassisch erzählte Dramen, die vom Aufbegehren eines Einzelnen oder einer Gruppe gegen die herrschenden Mächte (Familien, Firmen, Milieus, Klassen, Stadviertel) handeln.
Da dieses Aufbegehren meist gegen die herrschenden Gesetze verstößt, hat man es fast immer mit Kriminalfilmen zu tun, einem Genre, das wie geschaffen ist für die Erkundung der sozialen Realität, von Milieus, alternativen Lebensweisen, Orten, Menschen. Was aber heißt, dass die geschilderten Dramen „klassisch“ erzählt sind? In erster Linie bedeutet das für mich: Das gesamte Geschehen, an so viele Orte und in so viele Richtungen es sich auch ausbreiten mag, muss sich konsequent und folgerichtig aus der Exposition ergeben. Das heißt nicht, dass schon in den ersten Szenen alle Figuren, ihre Beziehungen und Spannungen untereinander eingeführt werden müssen, sondern dass innerhalb kürzester Zeit ein sozialer Kosmos skizziert wird, den das Aufbegehren, der Sündenfall, der Mord, der Raub, der Bruch mit der Familie, das Verlassen der Gruppe erschüttern wird. Erschüttern, aber niemals zerstören: 70er-Jahre-Filme sind auch zutiefst fatalistisch, das ist die natürliche Folge ihres Realitätsinteresses und ihres konsequenten Erzählens. Niemand gelangt über die 110. Straße oder aus Baltimore hinaus. Die Kehrseite dieses Fatalismus, dieser Begrenzung nach außen, ist ein großer Reichtum im Inneren, denn je genauer ein Werk hinschaut, desto mehr ausdifferenzierte Alltagspraktiken, Sprechweisen, Gruppenrituale, Gags, auch Momente der Freiheit werden sichtbar.
Was dieses Erzählen nicht ist, habe ich mal in einem anderen Text als „Adjustment“-Plot beschrieben, also eine an Computerspielen und Virtualisierungsfantasien orientierte Narration, die ständig ihre eigenen Erzählvoraussetzungen ändert, löscht, resettet und in einem bis zum Ende durchgezogenen expositorischen Gestus neue Figuren, Level, Räume, Konzepte, Stimmungen, Genres einführt. 70er-Jahre-Filme hingegen sind für mich zutiefst humanistische Werke, die von der Begrenztheit und Fehlbarkeit ihrer Figuren auf eine Art handeln, die von Selbstbeschränkung, Knappheit, Neugier geprägt ist. Überraschungen ergeben sich bei diesem Erzählen nicht aus gewitzten Drehbucheinfällen und High-Concept-Visuals, sondern aus all den welterschütternden Komplikationen, die entstehen, wenn Menschen gegen die Regeln der sozialen Gefüge handeln, in denen sie leben.
Nach der Vorführung von Across 110th Street hängte Garrath Churm ein Plakat an die Wand im Foyer des Metropolis-Kinos. Darauf standen folgende Filmtitel:
Fat City von John Huston (1972) nach dem tollen Roman von Leonard Gardner
Medium Cool von Haskell Wexler (1969)
Wanda von Barbara Loden (1970)
Hi, Mom! von Brian De Palma (1970)
Five Easy Pieces von Bob Rafelson (1970)
Two-Lane Blacktop von Monte Hellman (1971)
The Long Goodbye von Robert Altman (1973)
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Heute Abend läuft um 22.35 Uhr und 2.10 Uhr City by the Sea auf 3sat. Die verfallenen Gebäude, vor deren Hintergrund sich das schöne 70er-Jahre-Drama zwischen einem Cop-Vater (Robert De Niro) und einem Junkie-Sohn (James Franco) abspielt, gehören nicht zum Handlungsort Long Beach, sondern wurden on location im Küstenstädtchen Asbury Park gefilmt. Die Bewohner waren not amused.
Nachtrag vom 23.11.: Am 5.12. (Nacht zum Freitag) um 1.55 Uhr läuft Brooklyn’s Finest auf ARD
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Fragmente des Realen 1: City by the Sea |
Manchmal wird einem die Antwort auf eine Frage, über die man schon einige Zeit nachgedacht hat, plötzlich auf einem Silbertablett serviert. Letzte Woche begann der britische Filmdozent und Northern-Soul-DJ Garrath Churm seine Einführung zu Barry Shears Across 110th Street (1972) mit einem Zitat von Abbas Kiarostami:
„The first generation filmmakers looked at life, and made films. The second generation of filmmakers watched the films of the first generation, looked at life, and made films. The third generation just watched the films of the first and second generations, and made films. The fourth generation, which is us, looks neither at life, nor watches the films, we merely go trough the product catalogues, and base our movies on technical capabilities.“Ich hatte eine Einführung ins Blaxploitation-Genre erwartet, doch Churm sprach von anderen Dingen, vom Zusammenbruch des Hollywood-Studiosystems 1967, von den sich neu eröffnenden Möglichkeiten für junge Filmemacher, die einige von ihnen nutzten, um die Kamera wieder auf das Leben zu richten. Er sprach davon, wie die Filmemacher sich den ungeschönten Gesichtern der Menschen zuwandten und den ungefegten Straßen der Städte, was kaum ein amerikanischer Film der Gegenwart mehr tut, das Elend ist heute digital designed, die Slums sind Sets, das Alter ist air-brushed. Das müde, faltendurchfurchte, von Wut und Resignation zerfressene Gesicht von Anthony Quinn, die desolate Art, wie die Klamotten an dem von ihm porträtierten Cop herunterhängen, würden heute wegretuschiert, in Across 110th Street gehören sie zu einer Vielzahl von Realitäts-Effekten, aus denen sich der soziale Kosmos des Stadtteils Harlem zu jener Zeit rekonstruieren ließe.
Zur Kontrastierung zeigte Churm die Anfangssequenzen von Jack Hills Pam-Grier-Vehikeln Coffy (1973) und Foxy Brown (1974), die deutlich machten, dass auch das Blaxploitation-Genre nicht an der Realität, sondern an der Variation übernommener und von ihm selbst geschaffener Stereotypen, Plots, Star-Personas interessiert war: Mit Pimp-Paraphernalia ausgestattete Figuren bewegen sich zu funky Soundtracks durch für konventionelle Kamerafahrten hergerichtete Studiosets und sprechen so, wie es sich für die ihnen zugewiesene erzählerische Funktion gehört. Das Opening von Across 110th Street ist von einem anderen Planeten, von ganz oben, in einer Serie von Aerial Shots, nähert sich die Kamera einem durch Harlem fahrenden Wagen und der Welt der Erzählung, die sich bei schwindender Distanz nicht von der realen unterscheiden lässt: bustling street life on all corners, Müll auf den Straßen, Ruinenhäuser. Sofort ist zu erkennen, dass die Kamera sich nicht für eine einzige Figur, einen Ort, einen Plot interessiert, sondern für alles, was um sie herum vorgeht. Kurz darauf die eigentliche Exposition, kurz, knapp, präzise: ein Überfall, ein Koffer voller Geld, ein Raum voller Leichen, drei Männer auf der Flucht.
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Fragmente des Realen 2: Across 110th Street |
Nach dieser Eröffnung passieren sehr viele Dinge, die der Film in einer Reihe atmosphärisch dichter Szenen miteinander in Verbindung bringt. Auf einem Familienfest in einem am Central Park gelegenen Apartment stecken ein alter und ein junger Mann ihre Köpfe zusammen und beschließen, dass es Zeit ist für eine Lektion. Vor dem Gebäude, in dem sich der Überfall ereignet hat, stehen Polizisten, Nachbarn, Schaulustige, palavern, versuchen herauszufinden, was geschehen ist. In Harlemer Kneipen, Clubs und Hinterzimmern werden Namen genannt und Pläne geschmiedet. Am Tatort treffen ein alter weißer und ein junger schwarzer Cop aufeinander. In Mietskasernen warten Frauen auf ihre Männer. Mit großer Neugier nimmt der Film den Überfall zum Anlass, überall hineinzugucken, einzutauchen in verschiedene Milieus, die Sights und Sounds der Stadt aufzusammeln. Die drei Männer verliert er dabei eine Zeitlang aus dem Blick, aber was er dafür in den Blick kriegt, ist das Gesamtgefüge des sozialen Kosmos, durch den der Raub Schockwellen sendet. Keine einzelnen Figuren oder Plotlines stehen im Fokus dieses außergewöhnlichen Erzählens, sondern soziale Strukturen, Hierarchien, Abhängigkeitsverhältnisse. Armut wird sichtbar, Rassismus wird sichtbar, sehr viel Gewalt wird sichtbar, aber nicht lokalisiert in einzelnen Figuren, sondern herausgearbeitet in einer Vielzahl von Kontrastierungen und Perspektivwechseln. Garrath Churm sprach von der demokratischen Weise, in der der Film Anteilnahme und Spott auf seine Figuren verteilt, jeder kriegt sein Fett weg, jeder hat Stärken, sogar der alte, rassistische Cop (Anthony Quinn), der in vielen Situationen ein feineres Gespür für die Menschen beweist als sein politisch korrekter Kollege.
In der demokratischen Auffassung seiner Figuren, in seiner Lust, in oft sehr enge, unbekannte Räume vorzudringen (u.a. das chaotischste Polizeirevier der Filmgeschichte, ein gigantisches Kriminalarchiv, urbane Brachen, Mietskasernen, immer wieder Dächer), in seiner Aufmerksamkeit für Sprechweisen und Gesten erinnerte mich Across 110th Street an The Wire (eine Erinnerung der Vergangenheit an die Zukunft), die TV-Serie, die kriminalistische Erzählformen der 70er adaptiert und komplett modernisiert hat. Ihr Schöpfer David Simon hat mal zur Beschreibung dieser Art des Erzählens von der griechischen Tragödie mit ihren Götterfiguren gesprochen, die das Schicksal der aufbegehrenden Menschen lenken („But instead of the old gods, The Wire is a Greek tragedy in which the postmodern institutions are the Olympian forces“, David Simon im Gespräch mit Nick Hornby). Vielleicht lässt sich mit diesem Hinweis ein Credo formulieren, das beschreibt, wie Across 110th Street, The Wire und all die Filme funktionieren, die mich an die 70er erinnern: Es sind ausgesprochen welthaltige, also an der Realität interessierte und zugleich klassisch erzählte Dramen, die vom Aufbegehren eines Einzelnen oder einer Gruppe gegen die herrschenden Mächte (Familien, Firmen, Milieus, Klassen, Stadviertel) handeln.
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Fragmente des Realen 3: The Wire |
Da dieses Aufbegehren meist gegen die herrschenden Gesetze verstößt, hat man es fast immer mit Kriminalfilmen zu tun, einem Genre, das wie geschaffen ist für die Erkundung der sozialen Realität, von Milieus, alternativen Lebensweisen, Orten, Menschen. Was aber heißt, dass die geschilderten Dramen „klassisch“ erzählt sind? In erster Linie bedeutet das für mich: Das gesamte Geschehen, an so viele Orte und in so viele Richtungen es sich auch ausbreiten mag, muss sich konsequent und folgerichtig aus der Exposition ergeben. Das heißt nicht, dass schon in den ersten Szenen alle Figuren, ihre Beziehungen und Spannungen untereinander eingeführt werden müssen, sondern dass innerhalb kürzester Zeit ein sozialer Kosmos skizziert wird, den das Aufbegehren, der Sündenfall, der Mord, der Raub, der Bruch mit der Familie, das Verlassen der Gruppe erschüttern wird. Erschüttern, aber niemals zerstören: 70er-Jahre-Filme sind auch zutiefst fatalistisch, das ist die natürliche Folge ihres Realitätsinteresses und ihres konsequenten Erzählens. Niemand gelangt über die 110. Straße oder aus Baltimore hinaus. Die Kehrseite dieses Fatalismus, dieser Begrenzung nach außen, ist ein großer Reichtum im Inneren, denn je genauer ein Werk hinschaut, desto mehr ausdifferenzierte Alltagspraktiken, Sprechweisen, Gruppenrituale, Gags, auch Momente der Freiheit werden sichtbar.
Was dieses Erzählen nicht ist, habe ich mal in einem anderen Text als „Adjustment“-Plot beschrieben, also eine an Computerspielen und Virtualisierungsfantasien orientierte Narration, die ständig ihre eigenen Erzählvoraussetzungen ändert, löscht, resettet und in einem bis zum Ende durchgezogenen expositorischen Gestus neue Figuren, Level, Räume, Konzepte, Stimmungen, Genres einführt. 70er-Jahre-Filme hingegen sind für mich zutiefst humanistische Werke, die von der Begrenztheit und Fehlbarkeit ihrer Figuren auf eine Art handeln, die von Selbstbeschränkung, Knappheit, Neugier geprägt ist. Überraschungen ergeben sich bei diesem Erzählen nicht aus gewitzten Drehbucheinfällen und High-Concept-Visuals, sondern aus all den welterschütternden Komplikationen, die entstehen, wenn Menschen gegen die Regeln der sozialen Gefüge handeln, in denen sie leben.
Nach der Vorführung von Across 110th Street hängte Garrath Churm ein Plakat an die Wand im Foyer des Metropolis-Kinos. Darauf standen folgende Filmtitel:
Fat City von John Huston (1972) nach dem tollen Roman von Leonard Gardner
Medium Cool von Haskell Wexler (1969)
Wanda von Barbara Loden (1970)
Hi, Mom! von Brian De Palma (1970)
Five Easy Pieces von Bob Rafelson (1970)
Two-Lane Blacktop von Monte Hellman (1971)
The Long Goodbye von Robert Altman (1973)
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Heute Abend läuft um 22.35 Uhr und 2.10 Uhr City by the Sea auf 3sat. Die verfallenen Gebäude, vor deren Hintergrund sich das schöne 70er-Jahre-Drama zwischen einem Cop-Vater (Robert De Niro) und einem Junkie-Sohn (James Franco) abspielt, gehören nicht zum Handlungsort Long Beach, sondern wurden on location im Küstenstädtchen Asbury Park gefilmt. Die Bewohner waren not amused.
Nachtrag vom 23.11.: Am 5.12. (Nacht zum Freitag) um 1.55 Uhr läuft Brooklyn’s Finest auf ARD
16 November 2013
Stuntman’s Paradox
Anmerkungen zum Wahren, Schönen und Guten auf Zelluloid anlässlich der Reihe Bizarre Cinema #11
#10 Das Telefon sagt Du // When a Stranger Calls (Back)
#9 Travis Bickle mit Hund // Vietnam-Vets
#8 Das zweiköpfige Biest // Töten ohne Waffen
#7 Ein Arzt, wie er nicht sein soll // Mad Doctors
#6 Reel Animals // Grizzly
#5 Guter schlechter Film // Stanley
#4 50 Tote! // Assault on Precinct 13
#3 Penetra-, Muta-, Deformationen // Brian Yuzna
#2 Wo dein Geld ist // Blutiger Freitag
#1 Join Us // Evil Dead
Über Stuntmen
Die meisten Ausschnitte stammten aus US-amerikanischen Produktionen der 70er- und 80er-Jahre, in denen der Stuntmankörper spektakulär hinter dem Vorhang hervor- und ins Rampenlicht trat. Gezeigt wurden unter anderem Clips aus Gordon Douglas’ Viva Knievel! (1977, Stuntman: Evel Knievel), Burt Reynolds’ Stick (1985, Stuntman: Dar Robinson) und Steve De Jarnatts Cherry 2000 (1987). Ein halbstündiger Film von Thorsten Wagner war dem türkischen Hollywood-Blockbuster-Rip-off-Kino der 80er-Jahre und insbesondere seinem größten Sexsymbol Cüneyt Arkin gewidmet, dessen Starpersona wie die von Jackie Chan Schauspieler und Stuntman vereint (mehr zu Wagners Film, einem der besten des letzten Jahres, findet sich hier, man muss ein gutes Stück nach unten scrollen).
Zum Abschluss wurde Richard Rush’ The Stunt Man (1980, dt. Der lange Tod des Stuntman Cameron) gezeigt, in dem ein Vietnamveteran auf der Flucht vor der Polizei auf das Filmset eines Kriegsfilms gerät. Damit er sich dort verstecken kann, übernimmt er den Job eines verstorbenen Stuntman und gerät damit in die Fänge des größenwahnsinnigen Regisseurs, der die Kunst über das Leben stellt. Oder ist alles ganz anders? The Stunt Man ist zugleich eine Ode an den Beruf des Stuntman und eine gnadenlose Dekonstruktion des Illusionscharakters des Blockbuster-Kinos à la Hollywood. Er war sozusagen der postmoderne Gipfelpunkt einer US-Renaissance des Stuntman, der mit der Sichtbarmachung und Entmystifizierung des Stuntman-Körpers eine kritische Absicht verfolgte. Ihm vorausgegangen war die goldene Dekade dieses Berufsstandes, eine Feier des gefährdeten und versehrten Körpers: In Sydney Pollacks The Great Waldo Pepper (1975) spielt Robert Redford einen Stuntflieger der 20er-Jahre, Evel Knievel tourte mit seiner Motorrad-Show durch die Staaten, der Autofanatiker und Abschleppdienst-Unternehmer H.B. Halicki stellte mit Gone In 60 Seconds (1974) neue Blechschaden- und Verletzungs-Rekorde auf, und der Stuntman und Stunts-Unlimited-Mitgründer Hal Needham wurde mit Burt-Reynolds-Filmen wie Smokey and the Bandit (1977, dt. Ein ausgekochtes Schlitzohr) und Hooper (1978) zu einem der erfolgreichsten Regisseure der 70er.
Für die Popularität von Stuntmen und Stuntmen-Figuren im 70er-Jahre-Kino lassen sich viele Gründe anführen: Mit der Krise des klassischen Hollywoodkinos waren auch seine formalen Axiome außer Mode geraten, auch aufgrund der andauernden TV-Konkurrenz begann eine Suche nach neuen Spektakel-Formen, die ins Kino locken. Ein anderes Erklärungsmodell könnte darin bestehen, das Stunt-Phänomen als Antwort auf eine Repräsentations- und eine damit einhergehende Männlichkeitskrise zu sehen: Die Attentate der 60er-Jahre, Vietnam, Watergate hatten das Selbstbild Amerikas als starke, aufrechte, gerechte Nation erschüttert, und man brauchte neue, echte, unkomplizierte Helden. Mir gefällt auch der Gedanke, dass in all den Karambolagen, Explosionen, Abstürzen der 70er-Jahre auch schon eine prophetische Ahnung der digitalen Zukunft mitschwingt, man wird Zeuge eines letzten Aufbäumen des Stuntkörpers, bevor er dank Motion Capture in die unendlichen Weiten des beliebig formbaren virtuellen Raums entschwindet (wie das dann aussieht, macht Denis Lavant in Leos Carax’ Holy Motors vor).
Die Namen von Hal Needham, Dar Robinson, Jackie Chan, Evel Knievel sind heute noch bekannt, aber wer erinnert sich außer Filmhistorikern noch an Yakima Canutt? Dabei ist der Mann wahrscheinlich der beste und wichtigste Stuntman, den es je in Hollywood gab, keiner hat mehr Stunts entwickelt, mehr Einfluss auf die Gestaltung von klassischen Actionszenen gehabt, mehr für die Professionalisierung des Berufsstandes getan. Er ist das unsichtbare Bindeglied zwischen der Slapstickzeit und den 70ern, seine Karriere begann 1919 und endete 1975 mit seiner Arbeit als Second Unit Director an Nevada Pass.
1895 wurde er als Enos Edward Canutt im Bundesstaat Washington geboren und wuchs auf einer Ranch auf. Mit 11 ritt er seinen ersten Bronco zu, mit 16 hatte er den ersten öffentlichen Rodeo-Auftritt, mit 17 wurde er zum „World’s Best Bronco Buster“ gekürt. In den 1900er- und 1910er-Jahren legte er eine steile Karriere als Bronco-Reiter, Bulldoger und All-Around Cowboy hin, von 1914 bis 1923 war er Profi-Rodeoreiter, seine erste Weltmeisterschaft gewann er 1917. Den Spitznamen, der ihn sein Leben lang begleiten sollte, erhielt er aufgrund eines Presse-Irrtums, was der Stadt Yakima ihren einzigen berühmten Sohn eintrug, auf den sie bis heute stolz ist: „Canutt is the most famous person NOT from Yakima Washington.“ Canutts Hollywood-Karriere begann wie damals üblich durch einen Zufall, 1919 begegnete er dem Western-Star Tom Mix und spielte in zwei seiner Filme mit. Die Freundschaft mit Douglas Fairbanks, der in denselben Sportclub wie Canutt ging, brachte weitere kleine Rollen und Stunts mit sich, es folgten erste Hauptrollen. Bis 1928 wirkte Yakima Canutt in 48 Stummfilmen mit, danach war wegen des Aufkommens des Tonfilms Schluss mit seiner Schauspielkarriere: „Meine Stimme klang wie ein Hillbilly in einem Brunnenschacht.“ (Die biografischen Angaben und das Zitat stammen aus dem Wikipedia-Eintrag zu Canutt und dem Artikel „Cowboy Stuntman Yakima Canutt“ von Deborah J. Lightfoot)
1932 traf Canutt einen Mann, auf dessen spätere Karriere und Star-Persona er einen kaum zu überschätzenden Einfluss hatte: Bei den Dreharbeiten von The Shadow of the Eagle doubelte er bei einem Motorradstunt Marion Michael Morrison, der zwei Jahre zuvor auf Anregung von Raoul Walsh für The Big Trail den Künstlernamen John Wayne angenommen hatte. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Freundschaft und sie arbeiteten bei den vielen weiteren Filmen gemeinsam an der Entwicklung von Stunts. Vor allem bauten sie das auf Boxtechniken zurückgehende Pass System aus, das Prügeleien realistischer wirken ließ, obwohl sich die Kontrahenten nicht berührten. Wayne lernte von Canutt nicht nur, wie man von einem Pferd fällt, ohne sich zu verletzen, sondern er bildete seine gesamte Leinwand-Persönlichkeit nach dessen Vorbild, ahmte Sprache und Gang des Stuntman nach: „Ich habe Wochen damit verbracht zu studieren, wie Yakima sich bewegt und wie er spricht. Er war ein echter Cowboy.“ In Ronald L. Davis’ Duke: The Life and Image of John Wayne beschreibt Wayne den von Canutt erlernten Gang noch etwas genauer: „I just imagine that I have a pea between the cheeks of my ass and I don’t want to drop it.“
1940 musste Canutt für eine Weile als Stuntman pausieren: Bei den Dreharbeiten zu Jack Conways Boom Town erlitt er schwere innere Verletzungen, als er für Clark Gable vom Pferd fiel. Vom Produzent Sol Siegel erhielt er das Angebot, Actionsequenzen zu inszenieren, und nach einem weiteren Unfall 1943, bei dem er sich beide Fußknöchel brach, verlegte er sich endgültig auf seine Drittkarriere als Actionsequenz-Regisseur. In nur wenigen Jahren wurde er zu einem der gefragtesten Second-Unit-Regisseure von Hollywood, der vor allem für gigantische Produktionen mit aufwendigen Massenszenen gesucht wurde. Für Ivanhoe (1952) brachte Canutt den britischen Stuntmen das einhändige Reiten bei, er inszenierte das spektakuläre Wagenrennen in Ben Hur (1959) und arbeitete mit an Historienschinken wie Die Ritter der Tafelrunde (1953), Spartacus (1960), El Cid (1961) und Der Untergang des Römischen Reiches (1964).
1967 erhielt Canutt den Oscar für sein Lebenswerk, insbesondere für seine Verdienste um Sicherheitsstandards in der Stunt-Arbeit. Er hat einen Stern auf dem Walk of Fame. 1985 starb er im Alter von 90 Jahren eines, so sagt man, friedlichen und natürlichen Todes. Jeder, der Filme liebt, hat seine Arbeit und seinen Körper unzählige Male gesehen, aber nur einmal in seiner 56 Jahre umspannenden Karriere ist sein Stunt-Körper aus der Unsichtbarkeit hervorgetreten, kurz, aber unvergesslich. In John Fords Stagecoach (1939) springt er im Indianerkostüm von einer dahinrasenden Kutsche auf ein Pferdegespann, hangelt sich zwischen den Gäulen nach vorn, wird von John Wayne in den Rücken geschossen, fällt zu Boden, Pferde und Kutsche rasen über ihn hinweg – und in einer seltenen Geste des illusionszerstörenden Verharrens bleibt die Kamera bei ihm und beobachtet, wie er wieder aufsteht:
Das in Hollywood verpönte Verharren der Kamera, nachdem die Action eigentlich schon vorbei ist, das Wiederaufrichten des Stunt-Körpers, lädiert, gebeugt, aber ungebrochen, hat niemand so sehr zelebriert wie Jackie Chan. Der beste, der härteste und erfindungsreichste Stuntman aller Zeiten hat seine Star-Persona nicht auf die Illusion eines unverletzbaren Heldenkörpers aufgebaut, sondern auf ein offen zur Schau gestelltes, selbstironisch gebrochenes, aus vielen Kameraperspektiven festgehaltenes Spektakel des Schmerzes. Jackie Chan springt von Häuserdächern und durch Fensterscheiben, fährt auf Rollschuhen unter Lastwagen hindurch, hängt an Hubschraubern, kämpft ohne Bandagen, und er gewinnt am Ende immer, doch man sieht auf der Leinwand (spätestens bei den Take-outs während der End-Credits) auch den Preis, den er dafür zu zahlen hat: Versehrtheit, Schmerzen, ewige Wiederholung. (Ein schöner Vergleich zwischen den Action-Choreografien Hollywoods und Jackie Chans findet sich bei David Bordwell).
Jackie Chan kam am 7. April 1954 zur Welt und erhielt den Namen Chan Kong-sang – „der in Hongkong geborene Chan“. Er war zwölf Monate im Bauch der Mutter und hatte bei der Geburt zwölf Pfund Lebendgewicht, was ihm den Spitznamen „Pao-Pao“ (Kanonenkugel) einbrachte. Sein kolossales Gewicht bewahrte ihn davor, für 2000 Dollar an die entbindende Ärztin verkauft zu werden, denn er musste ja was Besonderes sein. Seine Kindheit verbrachte Chan in der Villa des französischen Konsuls in Hongkong, wo seine Mutter als Wäscherin sein Vater als Koch arbeiteten, vielleicht der Grund für die lebenslange Fixierung aufs Essen (und das Gefühl, nicht genug davon zu bekommen), die sich wie ein roter Faden durch die unbedingt lesenswerte Autobiografie I Am Jackie Chan (dt. Jackie Chan – Ein Leben voller Action bei Heyne) zieht.
Dort ist auch zu lesen, dass Chan schon ab frühester Kindheit durch seinen Vater, der es seinen Ahnen aus Shandong schuldig zu sein glaubte, den Sohn zu einem nordchinesischen Krieger zu erziehen, einem strengen disziplinarischen Regime unterworfen wurde: aufstehen mit der Sonne, kalt waschen, Training an selbst gebauten Geräten. 1960 kam diese Kindheit zu einem Ende, als Chan von seinen Eltern in die Chinese Drama Academy in Hongkong gebracht wurde, wo er die folgenden zehn Jahre von Meister Yu Jim-Yuen in den Künsten der Peking-Oper unterrichtet wurde. In Chans erstaunlich nüchterner und humorvoller Darstellung dieser Jahre erscheint die Academy als eine Mischung aus Dickenschem Waisenhaus, osteuropäischem Leistungszentrum und Konzentrationslager, ein Ort der Entbehrung, Disziplinierung, Unterwerfung – aber auch einer der Solidarität, der körperlichen Bildung und Abhärtung.
1970 war nicht nur Jackie Chans Ausbildung abgeschlossen, sondern auch die Zeit der Peking-Oper abgelaufen. Diese uralte Form des Bühnen-Entertainments fand immer weniger Zuschauer, viele Theater machten dicht, stattdessen strömten die Einwohner Hongkongs unvermindert in die Kinos, Studios wie Cathay, Shaw Brothers und Golden Harvest dominierten den gesamten asiatischen Filmmarkt mit ihren Produktionen. Statt auf der Bühne verdienten Jackie Chan und seine Academy-Brüder Sammo Hung und Yuen Biao ihr Geld als Stuntmen, meist als Tagelöhner, manchmal als längerfristig Angestellte. Einen seiner allerersten Stunt-Credits verdiente sich Chan für den Bruce-Lee-Film Fist of Fury (1972, dt. Todesgrüße aus Shanghai), in dem er auch gleich gegen den Meister antreten durfte: „I was just a stuntman on the film, but I doubled for the head villain himself, Mr. Suzuki. During the final fight scene, Bruce kicks me through a wall, my body flying fifteen feet before hitting the ground – at the time, that was the longest distance a Hong Kong stuntman had ever been thrown without some kind of safety device.“
Nach Bruce Lees Tod 1973 machte sich die gesamte Filmindustrie von Hongkong auf die Suche nach einem Ersatz. Jackies Karriere stand viele Jahre im Schatten dieser Suche, bis er Ende der 70er-Jahre langsam seinen eigenen Stil ausprägte. Der von ihm entwickelte Kampfstil und seine Leinwand-Persönlichkeit sind in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Lees Image. Chan: „Er kickt hoch und ich niedrig, er ist der unbesiegbare Held, ich bin ein Underdog, seine Filme sind düster-intensiv, meine ganz leicht.“ Chan bezeichnet sich selbst als Akrobat und Lee als einen Kämpfer, der die Kampfkunst erlernte, um reale Fights zu gewinnen. Der Unterschied zwischen den beiden ließe sich auch als einer zwischen Narziss und Masochist beschreiben: Lee gewinnt, weil er sich die Niederlage einfach nicht vorstellen kann, Jackie gewinnt, weil er sich weigert zu verlieren und einfach nicht aufgibt. Bei ihm ist der Schmerz immer sichtbar, die Kämpfe sind sehr lang, es gibt keine entscheidenden Treffer, nur Durchhaltevermögen. Es gibt bei ihm sehr viele Einstellungen mit schmerzverzerrtem Gesicht, oft reibt er sich die Faust, wenn sie was Hartes getroffen hat. In seiner Autobiografie schreibt Chan: „I live for pain. Even when I was young I loved pain.“
Aber Jackie Chan ist nicht nur ein Schmerzensmann, sondern auch einer größten Komödianten, die die Filmgeschichte hervorgebracht hat. Seine besten Stunts sind nicht nur erstaunliche Akte körperlicher Selbstgefährdung, sondern direkt zurück zu seinem Vorbild Buster Keaton führende Wunder an Inszenierungskunst. Jeder Schauplatz wird bei ihm zu einem Hindernisparcours, jeder Gegenstand wird Element einer aus dem Lot geratenen Welt, die Jackie Chan mit endloser Eleganz, Schnelligkeit und körperlicher Härte vor dem endgültigen Chaos bewahrt. Jackie Chan führt zurück zu den Ursprüngen des Kinos, alles ist Zerstörung, Bewegung, Gelächter, bei ihm beginnt die Welt zu tanzen wie bei Buster Keaton, Charlie Chaplin, Harold Lloyd und Gene Kelly (vor allem in Vincente Minnellis irrwitzigem The Pirate):
#10 Das Telefon sagt Du // When a Stranger Calls (Back)
#9 Travis Bickle mit Hund // Vietnam-Vets
#8 Das zweiköpfige Biest // Töten ohne Waffen
#7 Ein Arzt, wie er nicht sein soll // Mad Doctors
#6 Reel Animals // Grizzly
#5 Guter schlechter Film // Stanley
#4 50 Tote! // Assault on Precinct 13
#3 Penetra-, Muta-, Deformationen // Brian Yuzna
#2 Wo dein Geld ist // Blutiger Freitag
#1 Join Us // Evil Dead
Über Stuntmen
„The successful creation of the illusion by stuntmen ensues that audiences will have no knowledge of the stuntmen involved. They will believe that it was their favorite action star who performed the stunts. This is a stuntmen’s greatest reward. It is also the stuntman’s paradox: the more successfull they are, the less they are known. They are truly the faceless heroes of film, the athletic magicians of moviemaking.“ (Stunts Unlimited)Das Stuntman’s Paradox, das der elitäre Berufsverband der A-List-Stuntmen in Hollywood sich stolz auf die Fahnen schreibt, verweist auf die zentrale Regel des klassischen Hollywoodkinos: Die Illusion muss perfekt sein, der Körper des Stuntman also unsichtbar. Vielleicht war das auch der Grund, warum beim Bizarre-Cinema-Special „Beruf: Stuntman“, das am 24.3.2012 im B-Movie stattfand, die klassische Hollywoodära fast komplett ausgeklammert wurde. Im Fokus standen stattdessen zwei Phasen, die die Ära der unsichtbaren Illusion einrahmen und in denen der Stuntman eine außerordentliche Form von Sichtbarkeit erhielt, in denen offen zur Schau gestellte Körperbeherrschung, Timing und Destruktionslust wichtiger waren als die Erzählung: die Stummfilm-/Slapstickzeit und das Attraktions-Kino der späten 70er/frühen 80er Jahre. Die Auswahl der Filmausschnitte und die dazu erzählten Anekdoten reichten von den perfekt getimten Zerstörungsorgien Buster Keatons (Steamboat Bill Jr., 1928) und Harold Lloyds (Safety Last, 1923) bis zur masochistischen Kampfkunst Jackie Chans (Police Story, 1985), der in vielen seiner Stunts an die Tradition des Keaton-Slapstick anschließt.
Die meisten Ausschnitte stammten aus US-amerikanischen Produktionen der 70er- und 80er-Jahre, in denen der Stuntmankörper spektakulär hinter dem Vorhang hervor- und ins Rampenlicht trat. Gezeigt wurden unter anderem Clips aus Gordon Douglas’ Viva Knievel! (1977, Stuntman: Evel Knievel), Burt Reynolds’ Stick (1985, Stuntman: Dar Robinson) und Steve De Jarnatts Cherry 2000 (1987). Ein halbstündiger Film von Thorsten Wagner war dem türkischen Hollywood-Blockbuster-Rip-off-Kino der 80er-Jahre und insbesondere seinem größten Sexsymbol Cüneyt Arkin gewidmet, dessen Starpersona wie die von Jackie Chan Schauspieler und Stuntman vereint (mehr zu Wagners Film, einem der besten des letzten Jahres, findet sich hier, man muss ein gutes Stück nach unten scrollen).
Zum Abschluss wurde Richard Rush’ The Stunt Man (1980, dt. Der lange Tod des Stuntman Cameron) gezeigt, in dem ein Vietnamveteran auf der Flucht vor der Polizei auf das Filmset eines Kriegsfilms gerät. Damit er sich dort verstecken kann, übernimmt er den Job eines verstorbenen Stuntman und gerät damit in die Fänge des größenwahnsinnigen Regisseurs, der die Kunst über das Leben stellt. Oder ist alles ganz anders? The Stunt Man ist zugleich eine Ode an den Beruf des Stuntman und eine gnadenlose Dekonstruktion des Illusionscharakters des Blockbuster-Kinos à la Hollywood. Er war sozusagen der postmoderne Gipfelpunkt einer US-Renaissance des Stuntman, der mit der Sichtbarmachung und Entmystifizierung des Stuntman-Körpers eine kritische Absicht verfolgte. Ihm vorausgegangen war die goldene Dekade dieses Berufsstandes, eine Feier des gefährdeten und versehrten Körpers: In Sydney Pollacks The Great Waldo Pepper (1975) spielt Robert Redford einen Stuntflieger der 20er-Jahre, Evel Knievel tourte mit seiner Motorrad-Show durch die Staaten, der Autofanatiker und Abschleppdienst-Unternehmer H.B. Halicki stellte mit Gone In 60 Seconds (1974) neue Blechschaden- und Verletzungs-Rekorde auf, und der Stuntman und Stunts-Unlimited-Mitgründer Hal Needham wurde mit Burt-Reynolds-Filmen wie Smokey and the Bandit (1977, dt. Ein ausgekochtes Schlitzohr) und Hooper (1978) zu einem der erfolgreichsten Regisseure der 70er.
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Neujahr 1967: Evel Knievel springt über den Brunnen vorm Caesars Palace in Las Vegas |
Für die Popularität von Stuntmen und Stuntmen-Figuren im 70er-Jahre-Kino lassen sich viele Gründe anführen: Mit der Krise des klassischen Hollywoodkinos waren auch seine formalen Axiome außer Mode geraten, auch aufgrund der andauernden TV-Konkurrenz begann eine Suche nach neuen Spektakel-Formen, die ins Kino locken. Ein anderes Erklärungsmodell könnte darin bestehen, das Stunt-Phänomen als Antwort auf eine Repräsentations- und eine damit einhergehende Männlichkeitskrise zu sehen: Die Attentate der 60er-Jahre, Vietnam, Watergate hatten das Selbstbild Amerikas als starke, aufrechte, gerechte Nation erschüttert, und man brauchte neue, echte, unkomplizierte Helden. Mir gefällt auch der Gedanke, dass in all den Karambolagen, Explosionen, Abstürzen der 70er-Jahre auch schon eine prophetische Ahnung der digitalen Zukunft mitschwingt, man wird Zeuge eines letzten Aufbäumen des Stuntkörpers, bevor er dank Motion Capture in die unendlichen Weiten des beliebig formbaren virtuellen Raums entschwindet (wie das dann aussieht, macht Denis Lavant in Leos Carax’ Holy Motors vor).
Die Namen von Hal Needham, Dar Robinson, Jackie Chan, Evel Knievel sind heute noch bekannt, aber wer erinnert sich außer Filmhistorikern noch an Yakima Canutt? Dabei ist der Mann wahrscheinlich der beste und wichtigste Stuntman, den es je in Hollywood gab, keiner hat mehr Stunts entwickelt, mehr Einfluss auf die Gestaltung von klassischen Actionszenen gehabt, mehr für die Professionalisierung des Berufsstandes getan. Er ist das unsichtbare Bindeglied zwischen der Slapstickzeit und den 70ern, seine Karriere begann 1919 und endete 1975 mit seiner Arbeit als Second Unit Director an Nevada Pass.
1895 wurde er als Enos Edward Canutt im Bundesstaat Washington geboren und wuchs auf einer Ranch auf. Mit 11 ritt er seinen ersten Bronco zu, mit 16 hatte er den ersten öffentlichen Rodeo-Auftritt, mit 17 wurde er zum „World’s Best Bronco Buster“ gekürt. In den 1900er- und 1910er-Jahren legte er eine steile Karriere als Bronco-Reiter, Bulldoger und All-Around Cowboy hin, von 1914 bis 1923 war er Profi-Rodeoreiter, seine erste Weltmeisterschaft gewann er 1917. Den Spitznamen, der ihn sein Leben lang begleiten sollte, erhielt er aufgrund eines Presse-Irrtums, was der Stadt Yakima ihren einzigen berühmten Sohn eintrug, auf den sie bis heute stolz ist: „Canutt is the most famous person NOT from Yakima Washington.“ Canutts Hollywood-Karriere begann wie damals üblich durch einen Zufall, 1919 begegnete er dem Western-Star Tom Mix und spielte in zwei seiner Filme mit. Die Freundschaft mit Douglas Fairbanks, der in denselben Sportclub wie Canutt ging, brachte weitere kleine Rollen und Stunts mit sich, es folgten erste Hauptrollen. Bis 1928 wirkte Yakima Canutt in 48 Stummfilmen mit, danach war wegen des Aufkommens des Tonfilms Schluss mit seiner Schauspielkarriere: „Meine Stimme klang wie ein Hillbilly in einem Brunnenschacht.“ (Die biografischen Angaben und das Zitat stammen aus dem Wikipedia-Eintrag zu Canutt und dem Artikel „Cowboy Stuntman Yakima Canutt“ von Deborah J. Lightfoot)
„In the five years between 1925 and 1930, fifty-five people were killed making movies, and more than ten thousand injured. By the late 1930s, the maverick stuntman willing to do anything for a buck was disappearing. Now under scrutiny, experienced stunt men began to separate themselves from amateurs by building special equipment, rehearsing stunts, and developing new techniques.“ (Falling: How Our Greatest Fear Became Our Greatest Thrill, Garrett Soden)Da für ihn als Schauspieler außer kleinen, stummen Rollen nichts mehr zu holen war, sattelte Cannutt um: Seine Gabe, auch sehr schwierige und gefährliche Stunts in einer Einstellung zu bewältigen, sorgte für zunehmende Aufträge vor allem kleiner Studios wie Mascot und Republic. Für 50 Dollar choreografierte und inszenierte er Stuntsequenzen und spielte sie auch gleich selbst. Dabei griff er auf eine Vielzahl Rodeotechniken zurück, die er für den Film erweiterte und so den Grundstein für das Handwerk des Stuntman in Hollywood legte. Zu seinen Innovationen gehören der Crupper Mount (Bocksprung von hinten in den Sattel), der „L“-Steigbügel (in dem man beim Fallen nicht hängen blieb) und das berühmt-berüchtigte „Running W“, ein an den Vorderbeinen des Pferdes befestigter Draht, der es an einer bestimmten Stelle zu Fall bringt und den Reiter aus dem Sattel fliegen lässt. Viele Pferde starben dabei, 1940 wurde die Vorrichtung deshalb verboten (Canutt: „I did some three hundred Running W’s and never crippled a horse“). Canutts berühmtesten Stunt entwickelte er 1937 für den Western Riders of the Dawn: Er fällt von einer Kutsche, die fährt über ihn weg, er hält sich hinten fest, klettert hoch und wieder nach vorn (die Szene wurde in Jäger des Verlorenen Schatzes zitiert).
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Doing the Crupper Mount: Yakima Canutt |
1932 traf Canutt einen Mann, auf dessen spätere Karriere und Star-Persona er einen kaum zu überschätzenden Einfluss hatte: Bei den Dreharbeiten von The Shadow of the Eagle doubelte er bei einem Motorradstunt Marion Michael Morrison, der zwei Jahre zuvor auf Anregung von Raoul Walsh für The Big Trail den Künstlernamen John Wayne angenommen hatte. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Freundschaft und sie arbeiteten bei den vielen weiteren Filmen gemeinsam an der Entwicklung von Stunts. Vor allem bauten sie das auf Boxtechniken zurückgehende Pass System aus, das Prügeleien realistischer wirken ließ, obwohl sich die Kontrahenten nicht berührten. Wayne lernte von Canutt nicht nur, wie man von einem Pferd fällt, ohne sich zu verletzen, sondern er bildete seine gesamte Leinwand-Persönlichkeit nach dessen Vorbild, ahmte Sprache und Gang des Stuntman nach: „Ich habe Wochen damit verbracht zu studieren, wie Yakima sich bewegt und wie er spricht. Er war ein echter Cowboy.“ In Ronald L. Davis’ Duke: The Life and Image of John Wayne beschreibt Wayne den von Canutt erlernten Gang noch etwas genauer: „I just imagine that I have a pea between the cheeks of my ass and I don’t want to drop it.“
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John Wayne und Yakima Canutt in The Star Packer (1934) |
1940 musste Canutt für eine Weile als Stuntman pausieren: Bei den Dreharbeiten zu Jack Conways Boom Town erlitt er schwere innere Verletzungen, als er für Clark Gable vom Pferd fiel. Vom Produzent Sol Siegel erhielt er das Angebot, Actionsequenzen zu inszenieren, und nach einem weiteren Unfall 1943, bei dem er sich beide Fußknöchel brach, verlegte er sich endgültig auf seine Drittkarriere als Actionsequenz-Regisseur. In nur wenigen Jahren wurde er zu einem der gefragtesten Second-Unit-Regisseure von Hollywood, der vor allem für gigantische Produktionen mit aufwendigen Massenszenen gesucht wurde. Für Ivanhoe (1952) brachte Canutt den britischen Stuntmen das einhändige Reiten bei, er inszenierte das spektakuläre Wagenrennen in Ben Hur (1959) und arbeitete mit an Historienschinken wie Die Ritter der Tafelrunde (1953), Spartacus (1960), El Cid (1961) und Der Untergang des Römischen Reiches (1964).
1967 erhielt Canutt den Oscar für sein Lebenswerk, insbesondere für seine Verdienste um Sicherheitsstandards in der Stunt-Arbeit. Er hat einen Stern auf dem Walk of Fame. 1985 starb er im Alter von 90 Jahren eines, so sagt man, friedlichen und natürlichen Todes. Jeder, der Filme liebt, hat seine Arbeit und seinen Körper unzählige Male gesehen, aber nur einmal in seiner 56 Jahre umspannenden Karriere ist sein Stunt-Körper aus der Unsichtbarkeit hervorgetreten, kurz, aber unvergesslich. In John Fords Stagecoach (1939) springt er im Indianerkostüm von einer dahinrasenden Kutsche auf ein Pferdegespann, hangelt sich zwischen den Gäulen nach vorn, wird von John Wayne in den Rücken geschossen, fällt zu Boden, Pferde und Kutsche rasen über ihn hinweg – und in einer seltenen Geste des illusionszerstörenden Verharrens bleibt die Kamera bei ihm und beobachtet, wie er wieder aufsteht:
Das in Hollywood verpönte Verharren der Kamera, nachdem die Action eigentlich schon vorbei ist, das Wiederaufrichten des Stunt-Körpers, lädiert, gebeugt, aber ungebrochen, hat niemand so sehr zelebriert wie Jackie Chan. Der beste, der härteste und erfindungsreichste Stuntman aller Zeiten hat seine Star-Persona nicht auf die Illusion eines unverletzbaren Heldenkörpers aufgebaut, sondern auf ein offen zur Schau gestelltes, selbstironisch gebrochenes, aus vielen Kameraperspektiven festgehaltenes Spektakel des Schmerzes. Jackie Chan springt von Häuserdächern und durch Fensterscheiben, fährt auf Rollschuhen unter Lastwagen hindurch, hängt an Hubschraubern, kämpft ohne Bandagen, und er gewinnt am Ende immer, doch man sieht auf der Leinwand (spätestens bei den Take-outs während der End-Credits) auch den Preis, den er dafür zu zahlen hat: Versehrtheit, Schmerzen, ewige Wiederholung. (Ein schöner Vergleich zwischen den Action-Choreografien Hollywoods und Jackie Chans findet sich bei David Bordwell).
Jackie Chan kam am 7. April 1954 zur Welt und erhielt den Namen Chan Kong-sang – „der in Hongkong geborene Chan“. Er war zwölf Monate im Bauch der Mutter und hatte bei der Geburt zwölf Pfund Lebendgewicht, was ihm den Spitznamen „Pao-Pao“ (Kanonenkugel) einbrachte. Sein kolossales Gewicht bewahrte ihn davor, für 2000 Dollar an die entbindende Ärztin verkauft zu werden, denn er musste ja was Besonderes sein. Seine Kindheit verbrachte Chan in der Villa des französischen Konsuls in Hongkong, wo seine Mutter als Wäscherin sein Vater als Koch arbeiteten, vielleicht der Grund für die lebenslange Fixierung aufs Essen (und das Gefühl, nicht genug davon zu bekommen), die sich wie ein roter Faden durch die unbedingt lesenswerte Autobiografie I Am Jackie Chan (dt. Jackie Chan – Ein Leben voller Action bei Heyne) zieht.
Dort ist auch zu lesen, dass Chan schon ab frühester Kindheit durch seinen Vater, der es seinen Ahnen aus Shandong schuldig zu sein glaubte, den Sohn zu einem nordchinesischen Krieger zu erziehen, einem strengen disziplinarischen Regime unterworfen wurde: aufstehen mit der Sonne, kalt waschen, Training an selbst gebauten Geräten. 1960 kam diese Kindheit zu einem Ende, als Chan von seinen Eltern in die Chinese Drama Academy in Hongkong gebracht wurde, wo er die folgenden zehn Jahre von Meister Yu Jim-Yuen in den Künsten der Peking-Oper unterrichtet wurde. In Chans erstaunlich nüchterner und humorvoller Darstellung dieser Jahre erscheint die Academy als eine Mischung aus Dickenschem Waisenhaus, osteuropäischem Leistungszentrum und Konzentrationslager, ein Ort der Entbehrung, Disziplinierung, Unterwerfung – aber auch einer der Solidarität, der körperlichen Bildung und Abhärtung.
1970 war nicht nur Jackie Chans Ausbildung abgeschlossen, sondern auch die Zeit der Peking-Oper abgelaufen. Diese uralte Form des Bühnen-Entertainments fand immer weniger Zuschauer, viele Theater machten dicht, stattdessen strömten die Einwohner Hongkongs unvermindert in die Kinos, Studios wie Cathay, Shaw Brothers und Golden Harvest dominierten den gesamten asiatischen Filmmarkt mit ihren Produktionen. Statt auf der Bühne verdienten Jackie Chan und seine Academy-Brüder Sammo Hung und Yuen Biao ihr Geld als Stuntmen, meist als Tagelöhner, manchmal als längerfristig Angestellte. Einen seiner allerersten Stunt-Credits verdiente sich Chan für den Bruce-Lee-Film Fist of Fury (1972, dt. Todesgrüße aus Shanghai), in dem er auch gleich gegen den Meister antreten durfte: „I was just a stuntman on the film, but I doubled for the head villain himself, Mr. Suzuki. During the final fight scene, Bruce kicks me through a wall, my body flying fifteen feet before hitting the ground – at the time, that was the longest distance a Hong Kong stuntman had ever been thrown without some kind of safety device.“
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Bruce Lee vs. Jackie Chan: Enter the Dragon (1973) |
Nach Bruce Lees Tod 1973 machte sich die gesamte Filmindustrie von Hongkong auf die Suche nach einem Ersatz. Jackies Karriere stand viele Jahre im Schatten dieser Suche, bis er Ende der 70er-Jahre langsam seinen eigenen Stil ausprägte. Der von ihm entwickelte Kampfstil und seine Leinwand-Persönlichkeit sind in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Lees Image. Chan: „Er kickt hoch und ich niedrig, er ist der unbesiegbare Held, ich bin ein Underdog, seine Filme sind düster-intensiv, meine ganz leicht.“ Chan bezeichnet sich selbst als Akrobat und Lee als einen Kämpfer, der die Kampfkunst erlernte, um reale Fights zu gewinnen. Der Unterschied zwischen den beiden ließe sich auch als einer zwischen Narziss und Masochist beschreiben: Lee gewinnt, weil er sich die Niederlage einfach nicht vorstellen kann, Jackie gewinnt, weil er sich weigert zu verlieren und einfach nicht aufgibt. Bei ihm ist der Schmerz immer sichtbar, die Kämpfe sind sehr lang, es gibt keine entscheidenden Treffer, nur Durchhaltevermögen. Es gibt bei ihm sehr viele Einstellungen mit schmerzverzerrtem Gesicht, oft reibt er sich die Faust, wenn sie was Hartes getroffen hat. In seiner Autobiografie schreibt Chan: „I live for pain. Even when I was young I loved pain.“
Aber Jackie Chan ist nicht nur ein Schmerzensmann, sondern auch einer größten Komödianten, die die Filmgeschichte hervorgebracht hat. Seine besten Stunts sind nicht nur erstaunliche Akte körperlicher Selbstgefährdung, sondern direkt zurück zu seinem Vorbild Buster Keaton führende Wunder an Inszenierungskunst. Jeder Schauplatz wird bei ihm zu einem Hindernisparcours, jeder Gegenstand wird Element einer aus dem Lot geratenen Welt, die Jackie Chan mit endloser Eleganz, Schnelligkeit und körperlicher Härte vor dem endgültigen Chaos bewahrt. Jackie Chan führt zurück zu den Ursprüngen des Kinos, alles ist Zerstörung, Bewegung, Gelächter, bei ihm beginnt die Welt zu tanzen wie bei Buster Keaton, Charlie Chaplin, Harold Lloyd und Gene Kelly (vor allem in Vincente Minnellis irrwitzigem The Pirate):
09 November 2013
Das Bild davor und das Bild danach
Über Revision von Philip Scheffner, Nacht zum Dienstag, 12.11.2013, 0.05 Uhr auf Arte, danach eine Woche auf Arte+7
Beim Schreiben über Revision, also bei der schriftlichen Rekonstruktion der audiovisuellen Aufarbeitung eines Vorgangs, bei dem um 3.45 Uhr am Morgen des 29. Juni 1992 in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze zwei rumänische Staatsbürger durch Kopfschuss starben, stellt sich erneut die Frage, die Regisseur Philip Scheffner jedem der von ihm befragten Protagonisten gestellt hat: Wann hat diese Geschichte für Sie begonnen? Sollte man mit der Zeitungsmeldung anfangen, die davon erzählt, wie zwei Jäger in der Morgendämmerung Wildschweine in einem Feld zu sehen glaubten? Mit den Polizisten, Feuerwehrmännern, Landwirten, die sich nicht mehr erinnern können, wo genau die Leichen von Eudache Calderar und Grigore Velcu lagen? Oder mit den immer wiederkehrenden Bildern der sanft gewellten Landschaft, über der die Schatten der 13 Windräder ihre regelmäßigen Bahnen ziehen?
Beim Schreiben über Revision, also bei der schriftlichen Rekonstruktion der audiovisuellen Aufarbeitung eines Vorgangs, bei dem um 3.45 Uhr am Morgen des 29. Juni 1992 in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze zwei rumänische Staatsbürger durch Kopfschuss starben, stellt sich erneut die Frage, die Regisseur Philip Scheffner jedem der von ihm befragten Protagonisten gestellt hat: Wann hat diese Geschichte für Sie begonnen? Sollte man mit der Zeitungsmeldung anfangen, die davon erzählt, wie zwei Jäger in der Morgendämmerung Wildschweine in einem Feld zu sehen glaubten? Mit den Polizisten, Feuerwehrmännern, Landwirten, die sich nicht mehr erinnern können, wo genau die Leichen von Eudache Calderar und Grigore Velcu lagen? Oder mit den immer wiederkehrenden Bildern der sanft gewellten Landschaft, über der die Schatten der 13 Windräder ihre regelmäßigen Bahnen ziehen?
„In dieser Frage nach der Struktur und dem Anfang schlägt sich schon viel nieder – die Perspektive, die eingenommen wird, Berwertungen und politische Fokussierung, das Ausblenden tausend anderer Geschichten, die sich aus verschiedenen Anfängen ergeben und andere Schwerpunkte setzen würden. Es zeigt, glaube ich, dass ich auch als Autor in allen meinen Filmen mitbeteiligt bin.“ (Philip Scheffner im Gespräch mit Alejandro Bachmann und André Siegers, Kolik 20/2013)Vielleicht beginnt man dort, wo auch Scheffner seine Recherche anfängt: bei den Menschen, die von dem Geschehen am unmittelbarsten betroffen waren. Das Ungeheuerlichste an der Geschichte von den zwei Jägern und den zwei toten Rumänen ist nämlich die Tatsache, dass bisher niemand den Angehörigen das bisherige Ende dieser Geschichte erzählt oder ihnen Gelegenheit gegeben hat, ihre eigene Version davon zu erzählen. Als Scheffner 20 Jahre nach dem Geschehen die Familien Calderar und Velcu in Rumänien aufsucht, hat ihnen noch keine deutsche Behörde Mitteilung vom Verlauf des Gerichtsprozesses gegen die beiden Jäger oder von ihrem Freispruch gemacht. Revision holt also einen elementaren Akt der Rechtsfindung nach, an dem das deutsche Rechtssystem offenbar gescheitert ist: Er legt gegenüber den Frauen und Kindern der toten Männer Zeugnis ab und nimmt ihr Zeugnis zu Protokoll.
Frage: „Welche Form von Erkenntnis oder Zeugenschaft steckt also schlussendlich noch in den Bildern?“Durch eine simpel anmutende, die Form des Dokumentarfilms aber radikal erweiternde Verschiebung sorgt Scheffner dafür, dass die Befragten die Kontrolle über ihre eigene Geschichte und ihre Darstellung bewahren: Statt sie dabei zu filmen, wie sie ihre Geschichten erzählen, filmt er sie, während sie ihre zuvor aufgezeichneten Ausführungen hören und kommentieren. So kommen sie zwar nicht zu ihrem Recht, aber immerhin in eine Position der Selbst-Repräsentation, von der aus die Suche nach dem Recht einen weiteren Anfang nehmen kann. Zu Ende erzählt ist diese Geschichte hoffentlich noch lange nicht.
Scheffner: „Spontan würde ich sagen: gar keine. Oder eben eine, die sich durch den Kontext, die Perspektive der Erzählung, das Bild davor und das Bild danach immer wieder neu erschafft. (...) Mir geht es wirklich mehr um das Erarbeiten: dass man sehr genau hinsieht, das ernst nimmt und sich dann fragt, was man da eigentlich sieht; und dass man versucht, zu rekonstruieren, wie das sein kann, dass das, was man sieht, überhaupt zu sehen ist oder eben nicht.“
02 November 2013
Movie Monster Mash-up
Im Februar 2014 startet im Hamburger Metropolis-Kino eine Retrospektive der Filme von Brian De Palma. Die Sichtung und die Kopiensuche sind noch in vollem Gange, der Fokus wird wahrscheinlich auf den 60er- bis 80er-Jahren liegen, ab den 90ern nimmt die Kopien-Verfügbarkeit rapide ab. Die (Wieder-)Begegnung mit den Filmen Brian De Palmas ist eine reine Freude, von der hier von Zeit zu Zeit Zeugnis abgelegt werden soll.
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Filme von Brian De Palma: Woton’s Wake (1962)
Der in Schwarzweiß gedrehte dritte Kurzfilm von De Palma ist eine wüste Tour de Force durch die Kinogeschichte, oder vielmehr: durch eine Reihe ihrer Motive, Figuren, Konstellationen, die der damals 22-jährige Regisseur vermischt, persifliert, intensiviert. William Finley, der für De Palma ähnlich wichtig war wie De Niro für Martin Scorsese und Denis Lavant für Leos Carax, ein exaltiertes Alter Ego zu seinem kontrollierenden Super Ego, ist Woton Wretchichevsky, ein polymorph-perverser Beelzebub, der sich aus einer Vielzahl von Kinophantomen und -monstren zusammensetzt. Als Vorläufer der vielen manipulativen und zugleich impotenten Männerfiguren, die in De Palmas Oeuvre den Frauen mit phallischen Apparaten wie Kameras, Mikrofonen und Werkzeugen zuleibe rücken, sucht Woton seine weiblichen Opfer mit einem Bunsenbrenner heim, vielleicht eine Verneigung vor Godzilla (1954), vielleicht eine Anspielung an die verbrannten Körper aus Alain Resnais’ Hiroshima, mon amour (1959), dessen Skript am Anfang von Woton’s Wake auf einem Bücherregal zu sehen ist. Aus Finleys wandelbarem, nie ganz sichtbar werdenden Gesicht stechen die schwarz umschminkten Augen des somnambulen Cesare aus Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) und die Hakennase vieler Stummfilm-Sukkubi hervor, seine spinnenartigen Finger tasten wie die Hände von Murnaus Nosferatu eher ratlos als geil über seine Opfer, sein gebückter Gang führt ihn über expressionistische Häuserfassaden und durch ein rumpeliges Kellergewölbe, in dem das gesamte Teufelsanbeterszubehör aus Benjamin Christensens Häxan (1922) aufbewahrt zu sein scheint.
Nachdem Woton ein junges Mädchen eingefangen und in sein unterirdisches Reich verschleppt hat, offenbart sich dieselbe Ratlosigkeit angesichts des gefesselten und mit Zirkel und Flammenwerfer malträtierten weiblichen Körpers, die auch die drei jungen Männer in Greetings (1968), den Komponisten Winslow Leach in Phantom of the Paradise (1974) und den Soundtechniker Jack Terry in Blow Out (1981) im entscheidenden Moment befällt: Mann werkelt doch lieber an seinen Apparaten weiter. Fröhlicher, spielerischer als in allen späteren Filmen De Palmas wird das Gefummel des Mannes von der Frau zurückgewiesen, und es beginnt eine neckische Jagd durch die Straßen einer Stadt. Die immer wieder aufflammende Lust an der Erkundung von Fassaden, Straßen, Häusern erinnert an die Keystone Cops und Vertovs mobiles Kameraauge (transfiguriert in Wotons geile Lüstlingsaugen), an Panzerkreuzer Potemkin gemahnen eine Treppe und schnell hintereinander geschnittene Löwen, deren letzter eine Torte ins steinerne Antlitz kriegt. Die Verfolgung führt in die wahrscheinlich erste Hitchcock-Einstellung in De Palmas Werk, eine Außenaufnahme eines modernen Gebäudes mit verglastem Treppenhaus, durch das man die gefährdete, immer gut gelaunte Heldin ins Obergeschoss flüchten sieht. Dort „verbirgt“ sie sich in der Rolle einer gelangweilten Schachspielerin, die das in tiefem Ernst gefurchte Gesicht ihres Gegenübers nachahmt, Figuren übereinanderstapelt und in einer der vielen Szenentransformationen des Films schließlich den Teufel aus Bergmans Das siebente Siegel (1957) auf weibliche Art matt setzt. Woton verwandelt sich unter anderem noch in Lon Chaneys Wolf Man, in das Phantom der Oper und in den Papierflugzeuge haschenden King Kong, das Mädchen aber kriegt er nicht.
Das von De Palma und Finley mit Gusto und Ironie betriebene Monster-Mash-up weist auf den ähnlich energiegeladenen und in viele Richtungen strebenden Phantom of the Paradise voraus, der Motive aus Faust, dem Phantom der Oper und Das Bildnis des Dorian Gray zu einer kruden Rock-Oper vermengt, durch die sich wie durch fast alle Werke De Palmas als roter Faden die Jagd eines in jeder Hinsicht impotenten Mannmonsters nach einer angebeteten Frau zieht, nach ihrem Geheimnis, ihrer Seele, ihrer Stimme (ein Motiv, das in Blow Out wiederkehrt). Der anarchische Sampling-Gestus, die Lust am Vermischen klassischer Elemente und gleichzeitig ihre exaltierte Verarschung, erinnert an Leos Carax’ Merde, der Denis Lavant auf Tokio loslässt. Verbunden sind die Filme auch durch die körperliche Versatilität ihrer Hauptdarsteller, die den Trieben und Hemmungen ihrer Figuren anschaulich Ausdruck verleihen. Seine 1,93 Meter beugt, bückt und verrenkt Finley im geheimen Rhythmus seiner Impulse, seine leicht vorstehenden Pupillen, die in Phantom of the Paradise aus dem Silberhelm des Monsters hervorstieren, geilen chamäleongleich in alle Richtungen. Wie eine von Jack Smith’ Flaming Creatures geistert er durch das frühe Ouevre De Palmas (Murder à la Mod, 1968, Sisters, 1973) und verbreitet eine Aura unstillbarer und zugleich sehr zarter Dauererregung. Sehr interessant ist in dieser Hinsicht De Palmas im Splitscreen-Verfahren gedrehtes Dokument einer Aufführung von Richard Schechners Performance Group, Dionysus in ’69, in dem Finley die für alle Geschlechter verführerische Hauptfigur spielt. Ähnlich wie in der „Be Black Baby“-Episode aus Hi, Mom! (1979) versucht sich De Palma an der filmischen Abbildung performativer Praktiken, in denen es darum ging, die Grenzen zwischen verschiedenen Erfahrungswelten, zwischen den Rassen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Künstlern und Zuschauern aufzuheben.
These: De Palmas Werke sind eine Folge von Versuchen, diese Grenzen aufzuheben, und zugleich das selbstbewusste Eingeständnis des Scheiterns dieser Versuche.
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Sonntag, 3.11.2013, 14.30 Uhr: Blow Out im Metropolis-Kino
Die beste Quelle for all things De Palma ist De Palma a la Mod
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Filme von Brian De Palma: Woton’s Wake (1962)
Der in Schwarzweiß gedrehte dritte Kurzfilm von De Palma ist eine wüste Tour de Force durch die Kinogeschichte, oder vielmehr: durch eine Reihe ihrer Motive, Figuren, Konstellationen, die der damals 22-jährige Regisseur vermischt, persifliert, intensiviert. William Finley, der für De Palma ähnlich wichtig war wie De Niro für Martin Scorsese und Denis Lavant für Leos Carax, ein exaltiertes Alter Ego zu seinem kontrollierenden Super Ego, ist Woton Wretchichevsky, ein polymorph-perverser Beelzebub, der sich aus einer Vielzahl von Kinophantomen und -monstren zusammensetzt. Als Vorläufer der vielen manipulativen und zugleich impotenten Männerfiguren, die in De Palmas Oeuvre den Frauen mit phallischen Apparaten wie Kameras, Mikrofonen und Werkzeugen zuleibe rücken, sucht Woton seine weiblichen Opfer mit einem Bunsenbrenner heim, vielleicht eine Verneigung vor Godzilla (1954), vielleicht eine Anspielung an die verbrannten Körper aus Alain Resnais’ Hiroshima, mon amour (1959), dessen Skript am Anfang von Woton’s Wake auf einem Bücherregal zu sehen ist. Aus Finleys wandelbarem, nie ganz sichtbar werdenden Gesicht stechen die schwarz umschminkten Augen des somnambulen Cesare aus Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) und die Hakennase vieler Stummfilm-Sukkubi hervor, seine spinnenartigen Finger tasten wie die Hände von Murnaus Nosferatu eher ratlos als geil über seine Opfer, sein gebückter Gang führt ihn über expressionistische Häuserfassaden und durch ein rumpeliges Kellergewölbe, in dem das gesamte Teufelsanbeterszubehör aus Benjamin Christensens Häxan (1922) aufbewahrt zu sein scheint.
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Fragments of a Mash-up-Monster: Woton’s Wake |
Nachdem Woton ein junges Mädchen eingefangen und in sein unterirdisches Reich verschleppt hat, offenbart sich dieselbe Ratlosigkeit angesichts des gefesselten und mit Zirkel und Flammenwerfer malträtierten weiblichen Körpers, die auch die drei jungen Männer in Greetings (1968), den Komponisten Winslow Leach in Phantom of the Paradise (1974) und den Soundtechniker Jack Terry in Blow Out (1981) im entscheidenden Moment befällt: Mann werkelt doch lieber an seinen Apparaten weiter. Fröhlicher, spielerischer als in allen späteren Filmen De Palmas wird das Gefummel des Mannes von der Frau zurückgewiesen, und es beginnt eine neckische Jagd durch die Straßen einer Stadt. Die immer wieder aufflammende Lust an der Erkundung von Fassaden, Straßen, Häusern erinnert an die Keystone Cops und Vertovs mobiles Kameraauge (transfiguriert in Wotons geile Lüstlingsaugen), an Panzerkreuzer Potemkin gemahnen eine Treppe und schnell hintereinander geschnittene Löwen, deren letzter eine Torte ins steinerne Antlitz kriegt. Die Verfolgung führt in die wahrscheinlich erste Hitchcock-Einstellung in De Palmas Werk, eine Außenaufnahme eines modernen Gebäudes mit verglastem Treppenhaus, durch das man die gefährdete, immer gut gelaunte Heldin ins Obergeschoss flüchten sieht. Dort „verbirgt“ sie sich in der Rolle einer gelangweilten Schachspielerin, die das in tiefem Ernst gefurchte Gesicht ihres Gegenübers nachahmt, Figuren übereinanderstapelt und in einer der vielen Szenentransformationen des Films schließlich den Teufel aus Bergmans Das siebente Siegel (1957) auf weibliche Art matt setzt. Woton verwandelt sich unter anderem noch in Lon Chaneys Wolf Man, in das Phantom der Oper und in den Papierflugzeuge haschenden King Kong, das Mädchen aber kriegt er nicht.
Das von De Palma und Finley mit Gusto und Ironie betriebene Monster-Mash-up weist auf den ähnlich energiegeladenen und in viele Richtungen strebenden Phantom of the Paradise voraus, der Motive aus Faust, dem Phantom der Oper und Das Bildnis des Dorian Gray zu einer kruden Rock-Oper vermengt, durch die sich wie durch fast alle Werke De Palmas als roter Faden die Jagd eines in jeder Hinsicht impotenten Mannmonsters nach einer angebeteten Frau zieht, nach ihrem Geheimnis, ihrer Seele, ihrer Stimme (ein Motiv, das in Blow Out wiederkehrt). Der anarchische Sampling-Gestus, die Lust am Vermischen klassischer Elemente und gleichzeitig ihre exaltierte Verarschung, erinnert an Leos Carax’ Merde, der Denis Lavant auf Tokio loslässt. Verbunden sind die Filme auch durch die körperliche Versatilität ihrer Hauptdarsteller, die den Trieben und Hemmungen ihrer Figuren anschaulich Ausdruck verleihen. Seine 1,93 Meter beugt, bückt und verrenkt Finley im geheimen Rhythmus seiner Impulse, seine leicht vorstehenden Pupillen, die in Phantom of the Paradise aus dem Silberhelm des Monsters hervorstieren, geilen chamäleongleich in alle Richtungen. Wie eine von Jack Smith’ Flaming Creatures geistert er durch das frühe Ouevre De Palmas (Murder à la Mod, 1968, Sisters, 1973) und verbreitet eine Aura unstillbarer und zugleich sehr zarter Dauererregung. Sehr interessant ist in dieser Hinsicht De Palmas im Splitscreen-Verfahren gedrehtes Dokument einer Aufführung von Richard Schechners Performance Group, Dionysus in ’69, in dem Finley die für alle Geschlechter verführerische Hauptfigur spielt. Ähnlich wie in der „Be Black Baby“-Episode aus Hi, Mom! (1979) versucht sich De Palma an der filmischen Abbildung performativer Praktiken, in denen es darum ging, die Grenzen zwischen verschiedenen Erfahrungswelten, zwischen den Rassen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Künstlern und Zuschauern aufzuheben.
These: De Palmas Werke sind eine Folge von Versuchen, diese Grenzen aufzuheben, und zugleich das selbstbewusste Eingeständnis des Scheiterns dieser Versuche.
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Sonntag, 3.11.2013, 14.30 Uhr: Blow Out im Metropolis-Kino
Die beste Quelle for all things De Palma ist De Palma a la Mod
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