22 November 2013

Wie in den Siebzigern

Wenn mir ein neuerer Film gefällt, denke ich oft: „Könnte aus den 70ern sein.“ Oder: „Sieht aus wie ein Seventies-Streifen.“ Oder: „Wow, tolles verschlepptes Tempo, wie in den Siebzigern.“ Der Verweis auf diese braunstichige Dekade ist für mich mittlerweile zum höchsten Lob für einen Film geworden, was aber verbirgt sich hinter diesem Kompliment? Zwei Dinge fallen auf: Zum einen enthält mein Urteil eine Genre- und eine Länder-Zuweisung, fast immer handelt es sich um amerikanische Gangster-, Polizei-, Kriminalfilme: The Yards (2000) und We Own the Night (2007) von James Gray, L.A. Confidential (1997) von Curtis Hanson, Cop Land (1997) von James Mangold, Night Falls on Manhattan (1996) und Before the Devil Knows Your Dead (2007) von Sidney Lumet, Brooklyn’s Finest (2009) von Antoine Fuqua, Reindeer Games (2000) von John Frankenheimer, Gone Baby Gone (2007) und The Town (2010) von Ben Affleck, City by the Sea (2002) von Michael Caton-Jones. Zum anderen steckt im Bezug auf die Siebziger die Verbeugung vor einem unzeitgemäßen Erzählen, eine Distanzierung von der Gegenwart, das angenehme Gefühl einer Abwesenheit vieler Elemente, die das heutige amerikanische Mainstreamkino dominieren: digitale Effekte und Bildwelten, Plottwists, twentysomething hardbodies, anorexische Bullock-Clon-Fressen, MarvelDComic-Franchises, 40-jährige männliche Jungfrauen, Emo Vampires, Hans-Zimmer-Soundtracks, Tykwer-Kitsch, Nolan-Bombast. Der Verzicht auf all das ist sympathisch, aber welche positiven Eigenschaften lassen sich benennen, die aus einem Film einen 70er-Streifen machen?

Fragmente des Realen 1: City by the Sea

Manchmal wird einem die Antwort auf eine Frage, über die man schon einige Zeit nachgedacht hat, plötzlich auf einem Silbertablett serviert. Letzte Woche begann der britische Filmdozent und Northern-Soul-DJ Garrath Churm seine Einführung zu Barry Shears Across 110th Street (1972) mit einem Zitat von Abbas Kiarostami:
„The first generation filmmakers looked at life, and made films. The second generation of filmmakers watched the films of the first generation, looked at life, and made films. The third generation just watched the films of the first and second generations, and made films. The fourth generation, which is us, looks neither at life, nor watches the films, we merely go trough the product catalogues, and base our movies on technical capabilities.“
Ich hatte eine Einführung ins Blaxploitation-Genre erwartet, doch Churm sprach von anderen Dingen, vom Zusammenbruch des Hollywood-Studiosystems 1967, von den sich neu eröffnenden Möglichkeiten für junge Filmemacher, die einige von ihnen nutzten, um die Kamera wieder auf das Leben zu richten. Er sprach davon, wie die Filmemacher sich den ungeschönten Gesichtern der Menschen zuwandten und den ungefegten Straßen der Städte, was kaum ein amerikanischer Film der Gegenwart mehr tut, das Elend ist heute digital designed, die Slums sind Sets, das Alter ist air-brushed. Das müde, faltendurchfurchte, von Wut und Resignation zerfressene Gesicht von Anthony Quinn, die desolate Art, wie die Klamotten an dem von ihm porträtierten Cop herunterhängen, würden heute wegretuschiert, in Across 110th Street gehören sie zu einer Vielzahl von Realitäts-Effekten, aus denen sich der soziale Kosmos des Stadtteils Harlem zu jener Zeit rekonstruieren ließe.

Zur Kontrastierung zeigte Churm die Anfangssequenzen von Jack Hills Pam-Grier-Vehikeln Coffy (1973) und Foxy Brown (1974), die deutlich machten, dass auch das Blaxploitation-Genre nicht an der Realität, sondern an der Variation übernommener und von ihm selbst geschaffener Stereotypen, Plots, Star-Personas interessiert war: Mit Pimp-Paraphernalia ausgestattete Figuren bewegen sich zu funky Soundtracks durch für konventionelle Kamerafahrten hergerichtete Studiosets und sprechen so, wie es sich für die ihnen zugewiesene erzählerische Funktion gehört. Das Opening von Across 110th Street ist von einem anderen Planeten, von ganz oben, in einer Serie von Aerial Shots, nähert sich die Kamera einem durch Harlem fahrenden Wagen und der Welt der Erzählung, die sich bei schwindender Distanz nicht von der realen unterscheiden lässt: bustling street life on all corners, Müll auf den Straßen, Ruinenhäuser. Sofort ist zu erkennen, dass die Kamera sich nicht für eine einzige Figur, einen Ort, einen Plot interessiert, sondern für alles, was um sie herum vorgeht. Kurz darauf die eigentliche Exposition, kurz, knapp, präzise: ein Überfall, ein Koffer voller Geld, ein Raum voller Leichen, drei Männer auf der Flucht.

Fragmente des Realen 2: Across 110th Street

Nach dieser Eröffnung passieren sehr viele Dinge, die der Film in einer Reihe atmosphärisch dichter Szenen miteinander in Verbindung bringt. Auf einem Familienfest in einem am Central Park gelegenen Apartment stecken ein alter und ein junger Mann ihre Köpfe zusammen und beschließen, dass es Zeit ist für eine Lektion. Vor dem Gebäude, in dem sich der Überfall ereignet hat, stehen Polizisten, Nachbarn, Schaulustige, palavern, versuchen herauszufinden, was geschehen ist. In Harlemer Kneipen, Clubs und Hinterzimmern werden Namen genannt und Pläne geschmiedet. Am Tatort treffen ein alter weißer und ein junger schwarzer Cop aufeinander. In Mietskasernen warten Frauen auf ihre Männer. Mit großer Neugier nimmt der Film den Überfall zum Anlass, überall hineinzugucken, einzutauchen in verschiedene Milieus, die Sights und Sounds der Stadt aufzusammeln. Die drei Männer verliert er dabei eine Zeitlang aus dem Blick, aber was er dafür in den Blick kriegt, ist das Gesamtgefüge des sozialen Kosmos, durch den der Raub Schockwellen sendet. Keine einzelnen Figuren oder Plotlines stehen im Fokus dieses außergewöhnlichen Erzählens, sondern soziale Strukturen, Hierarchien, Abhängigkeitsverhältnisse. Armut wird sichtbar, Rassismus wird sichtbar, sehr viel Gewalt wird sichtbar, aber nicht lokalisiert in einzelnen Figuren, sondern herausgearbeitet in einer Vielzahl von Kontrastierungen und Perspektivwechseln. Garrath Churm sprach von der demokratischen Weise, in der der Film Anteilnahme und Spott auf seine Figuren verteilt, jeder kriegt sein Fett weg, jeder hat Stärken, sogar der alte, rassistische Cop (Anthony Quinn), der in vielen Situationen ein feineres Gespür für die Menschen beweist als sein politisch korrekter Kollege.

In der demokratischen Auffassung seiner Figuren, in seiner Lust, in oft sehr enge, unbekannte Räume vorzudringen (u.a. das chaotischste Polizeirevier der Filmgeschichte, ein gigantisches Kriminalarchiv, urbane Brachen, Mietskasernen, immer wieder Dächer), in seiner Aufmerksamkeit für Sprechweisen und Gesten erinnerte mich Across 110th Street an The Wire (eine Erinnerung der Vergangenheit an die Zukunft), die TV-Serie, die kriminalistische Erzählformen der 70er adaptiert und komplett modernisiert hat. Ihr Schöpfer David Simon hat mal zur Beschreibung dieser Art des Erzählens von der griechischen Tragödie mit ihren Götterfiguren gesprochen, die das Schicksal der aufbegehrenden Menschen lenken („But instead of the old gods, The Wire is a Greek tragedy in which the postmodern institutions are the Olympian forces“, David Simon im Gespräch mit Nick Hornby). Vielleicht lässt sich mit diesem Hinweis ein Credo formulieren, das beschreibt, wie Across 110th Street, The Wire und all die Filme funktionieren, die mich an die 70er erinnern: Es sind ausgesprochen welthaltige, also an der Realität interessierte und zugleich klassisch erzählte Dramen, die vom Aufbegehren eines Einzelnen oder einer Gruppe gegen die herrschenden Mächte (Familien, Firmen, Milieus, Klassen, Stadviertel) handeln.

Fragmente des Realen 3: The Wire

Da dieses Aufbegehren meist gegen die herrschenden Gesetze verstößt, hat man es fast immer mit Kriminalfilmen zu tun, einem Genre, das wie geschaffen ist für die Erkundung der sozialen Realität, von Milieus, alternativen Lebensweisen, Orten, Menschen. Was aber heißt, dass die geschilderten Dramen „klassisch“ erzählt sind? In erster Linie bedeutet das für mich: Das gesamte Geschehen, an so viele Orte und in so viele Richtungen es sich auch ausbreiten mag, muss sich konsequent und folgerichtig aus der Exposition ergeben. Das heißt nicht, dass schon in den ersten Szenen alle Figuren, ihre Beziehungen und Spannungen untereinander eingeführt werden müssen, sondern dass innerhalb kürzester Zeit ein sozialer Kosmos skizziert wird, den das Aufbegehren, der Sündenfall, der Mord, der Raub, der Bruch mit der Familie, das Verlassen der Gruppe erschüttern wird. Erschüttern, aber niemals zerstören: 70er-Jahre-Filme sind auch zutiefst fatalistisch, das ist die natürliche Folge ihres Realitätsinteresses und ihres konsequenten Erzählens. Niemand gelangt über die 110. Straße oder aus Baltimore hinaus. Die Kehrseite dieses Fatalismus, dieser Begrenzung nach außen, ist ein großer Reichtum im Inneren, denn je genauer ein Werk hinschaut, desto mehr ausdifferenzierte Alltagspraktiken, Sprechweisen, Gruppenrituale, Gags, auch Momente der Freiheit werden sichtbar.

Was dieses Erzählen nicht ist, habe ich mal in einem anderen Text als „Adjustment“-Plot beschrieben, also eine an Computerspielen und Virtualisierungsfantasien orientierte Narration, die ständig ihre eigenen Erzählvoraussetzungen ändert, löscht, resettet und in einem bis zum Ende durchgezogenen expositorischen Gestus neue Figuren, Level, Räume, Konzepte, Stimmungen, Genres einführt. 70er-Jahre-Filme hingegen sind für mich zutiefst humanistische Werke, die von der Begrenztheit und Fehlbarkeit ihrer Figuren auf eine Art handeln, die von Selbstbeschränkung, Knappheit, Neugier geprägt ist. Überraschungen ergeben sich bei diesem Erzählen nicht aus gewitzten Drehbucheinfällen und High-Concept-Visuals, sondern aus all den welterschütternden Komplikationen, die entstehen, wenn Menschen gegen die Regeln der sozialen Gefüge handeln, in denen sie leben.

Nach der Vorführung von Across 110th Street hängte Garrath Churm ein Plakat an die Wand im Foyer des Metropolis-Kinos. Darauf standen folgende Filmtitel:

Fat City von John Huston (1972) nach dem tollen Roman von Leonard Gardner
Medium Cool von Haskell Wexler (1969)
Wanda von Barbara Loden (1970)
Hi, Mom! von Brian De Palma (1970)
Five Easy Pieces von Bob Rafelson (1970)
Two-Lane Blacktop von Monte Hellman (1971)
The Long Goodbye von Robert Altman (1973)

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Heute Abend läuft um 22.35 Uhr und 2.10 Uhr City by the Sea auf 3sat. Die verfallenen Gebäude, vor deren Hintergrund sich das schöne 70er-Jahre-Drama zwischen einem Cop-Vater (Robert De Niro) und einem Junkie-Sohn (James Franco) abspielt, gehören nicht zum Handlungsort Long Beach, sondern wurden on location im Küstenstädtchen Asbury Park gefilmt. Die Bewohner waren not amused.

Nachtrag vom 23.11.: Am 5.12. (Nacht zum Freitag) um 1.55 Uhr läuft Brooklyn’s Finest auf ARD

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