18 Juli 2008

Der gute Mann von den drei Schluchten


Der chinesische Filmemacher Jia Zhang-ke

"Was liegt eigentlich hinter der Inneren Mongolei?", fragt ein junger Mann in Jia Zhang-kes zweitem Film Platform (2000) seine beiden Kumpels. Sie erklären ihm, dass dahinter die Äußere Mongolei liegt, darüber Russland, und dann kommt das Meer. "Und was kommt danach?" Cui Ming-liang überlegt ein paar Sekunden: "Fenyang". Womit die drei auch schon wieder an ihrem Ausgangspunkt wären, jener Kleinstadt in der Provinz Shanxi, in der der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke geboren wurde. Es ist eine für sein filmisches Werk typische Szene: Ein paar junge Menschen hängen zusammen rum, rauchen wie die Schlote und träumen von fernen Orten. Sie werden diese nie erreichen, aber dafür kommen die Welt und ihre Veränderungen zu ihnen.

Cui Ming-liang ist Akkordeonspieler einer Schauspieltruppe, deren Geschichte von 1979 bis 1990 Platform erzählt. Die Reformen Deng Xiao-pings sorgten damals für wirtschaftliche Liberalisierung und die Öffnung Chinas nach Westen, neue Frisuren tauchten bei den Jugendlichen auf, die Lieder aus dem Radio handelten plötzlich von Liebe und Sehnsucht, und die Landbevölkerung bekam statt kommunistischer Propaganda bald schon Breakdance vorgeführt. Mit seiner großen Brille blickt Cui den dauergewellten Mädchen hinterher und den Zügen, die für den Aufbruch stehen, von dem keiner weiß, wohin er gehen soll. Am Ende von Platform ertönt ein Pfiff, der an einen Zug erinnert, doch es ist nur der Teekessel in der kleinen Stube in Fenyang, wo Cui Ming-liang, nun Vater und ein verheirateter Mann, vor sich hin dämmert.

Auch Jias erster Film Xiao Wu (1997), der sieben Jahre nach den Umwälzungen von Platform spielt, handelt von einer Figur, die den Veränderungen nicht gewachsen ist. Statt der langen Einstellungen und Totalen, die im historischen Platform Distanz zum Geschehen herstellen, herrscht in Xiao Wu zeitliche und physische Nähe zur Hauptfigur. Die Handkamera folgt dem Taschendieb Xiao Wu bei Beutetouren durch Fenyang, zeigt ihn bei der Hochzeit eines neureichen Freundes, bei einem romantischen Intermezzo mit einer Prostituierten. Doch Xiao bleibt einsam, er findet weder Anschluss an die bäuerliche Welt seiner Eltern noch an die neue kapitalistische Betriebsamkeit, an der alle Bewohner seiner längst nicht mehr verschlafenen Heimatstadt teilzuhaben scheinen.

Auch in Jias drittem Film Unknown Pleasures (2002) sind die Hauptfiguren Xiao Ji und Bin Bin nie auf der Höhe der fortschreitenden Kommerzialisierung und Beschleunigung aller Lebensverhältnisse. In der Industriemetropole Datong im Norden Shanxis kommen sie zwar an Raubkopien aller westlichen Filme ran, wechseln wöchentlich die Frisur und können mit dem Motorrad überall hin fahren, aber die Richtung kennen auch sie nicht. Xiao Jis flüchtige Beziehung zu der Tänzerin Qiao Qiao, deren Perücke nicht ganz zufällig an die von Uma Thurman in Pulp Fiction erinnert, wirkt wie ein Versuch, in dieser Welt aus zweiter Hand etwas Eigenes zu finden.


In Jias Film The World (2004), scheinen die Figuren letztlich doch noch in der Welt angekommen zu sein, und in keinem anderen Film Jias wirken sie so verzweifelt. In einem Themenpark, in dem die berühmtesten Sehenswürdigkeiten der Welt in verkleinerter Form zu bewundern sind, wandeln die Angestellten jeden Tag am Eiffelturm vorbei, tanzen vor der Kulisse des Taj Mahal, küssen sich im Schatten des Big Ben. Sie sind modern, sie kommunizieren per Handy, sie beherrschen die Sprache des modernen Beziehungslebens. Und sie wissen, was jenseits der Mongolei liegt: eine Welt, in die man nur mit einem Pass kommt, den sie nie erhalten werden.

Über Still Life (2006)

Eine Ankunft. An Bord eines Schiffes, dicht gedrängt, sitzen Menschen und vertreiben sich die Zeit. Handel werden abgeschlossen, es wird palavert und geraucht, Zigaretten, Flaschen und Karten gehen von Hand zu Hand. Einige Menschen lassen den Blick übers Wasser gleiten, einige nach vorn, zum Hafen hin, den das Schiff bald erreichen wird, andere zurück, zum Ort, von dem sie aufgebrochen sind. Einige sind alt, andere jung, aber im Moment, der ewig anzudauern scheint und doch schon bald vorbei sein wird, spielt das keine Rolle. Sie sind an Bord und bilden eine Gemeinschaft, wie es sie schon vor tausend Jahren gegeben hat und heute, manchmal, auch noch.

Die Eröffnungssequenz von Still Life, in der die langsam sich drehende Kamera von Yu Lik-wai selbst ein Mitglied der Schiffsgemeinschaft zu sein scheint, ist dokumentarisch und ein schöner Traum zugleich. Sie zeigt, was es auch heute noch gibt in China, den Zusammenhalt der Menschen, aber in einem Moment ihrer Auflösung. Wenig später, nach der Ankunft an Land, hat sie sich verflüchtigt, und Han San-ming, einer der Neuankömmlinge in Fengjie, lernt die zwei wichtigsten Lektionen des Ortes: Allein bist du nichts, und der Wert des Geldes bemisst sich nach der Macht seines Besitzers. Mal löst es sich in Luft auf, mal vermehrt es sich wie von selbst.


Jia Zhang-ke erzählt vom Verschwinden und dem, was der Mensch ihm entgegenzusetzen hat. Das Verschwinden bildet den dokumentarischen Hintergrund des Films, der die Abbruch- und Umsiedelungsarbeiten in Fengjie abbildet, einer der vielen Orte, der dem Drei-Schluchten-Staudamm am Jangtse weichen musste. An diesem Ort, dessen Mauern entweder eingerissen oder mit zukünftigen Wasserständen markiert werden, verknüpft Jia die Geschichten zweier Menschen auf der Suche. Der Minenarbeiter Han aus der fernen Provinz Shanxi forscht nach seiner Braut, die er seit 16 Jahren nicht mehr gesehen hat, die junge Frau Guo Shen-hong nach ihrem Mann, der sich seit zwei Jahren nicht mehr hat blicken lassen.

Das individuelle Schicksal zweier Figuren und das dokumentarische Porträt einer Zeit und ihrer sozialen Umbrüche kommen in Still Life zu einem im Kino selten erreichten Gleichgewicht. Korruption und Schlägergangs, die unwillige Bewohner vertreiben, die harte körperliche Arbeit der Abbruchtrupps und Umweltzerstörung, sogar der Staudamm selbst kommen bei der Suche von Han und Guo ins Bild. Der Ort und seine Verwandlung bildet den oft atemberaubend schönen Hintergrund für das Geschehen und ist gleichzeitig der entscheidendende Akteur, der wie ein überindividuelles Schicksal die Handlungen der Menschen bestimmt.

Doch es gibt ein auch ein utopisches Moment in Still Life, das von den Möglichkeiten der Menschen handelt, dem Wandel und den Fliehkräften der chinesischen Gegenwart etwas entgegenzusetzen. Anknüpfend an die erste Szene auf dem Boot zeigt der Film immer wieder Momente, in denen nicht Geld kursiert, sondern Tauschwaren, die auch als Kapitelüberschriften dienen: Schnaps, Tee, Bonbons und die Hauptwährung menschlichen Austausches: Zigaretten. Die intimen Szenen, in denen sie von Hand zu Hand gehen, nie als Bezahlung, immer als Gastgeschenk oder Pfand einer gemeinsamen Zukunft, stellen den Gegenpol zu den Cinemascope-Totalen des wüsten Landes dar, in dem die Figuren keine Spuren hinterlassen.

Heute, zwei Jahre nach den Dreharbeiten, ist Fengjie endgültig verschwunden. Die Granitstraße Nr. 5, in der Han einst mit seiner Frau lebte, ist ebenso überflutet wie die Unterkünfte der Arbeiter, in denen sie sich von ihren fernen Heimatorten erzählten. Nur ein paar Erinnerungen sind geblieben und ein Film. Vielleicht ist das ja gar nicht so wenig.

Jia Zhang-ke über Still Life

Kurz nachdem Jia Zhang-ke mit 2006 mit Still Life den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen hatte, sprach The Wayward Cloud für die taz mit ihm über die Dreharbeiten und die Willkür der chinesischen Zensurbehörden. 2007 folgte anlässlich des Deutschland-Starts ein zweites Interview:

Herr Jia, was hat sie nach Fengjie geführt?

Das erste Mal fuhr ich dorthin, um eine Dokumentation über den Künstler Liu Xiao-dong zu drehen, der dort Porträts der Abbrucharbeiter malte. Vorher hatte ich den Staudamm als rein technisches und wirtschaftliches Unterfangen betrachtet, das änderte sich jedoch mit meiner Ankunft: Der Staub, die Ruinen, der Schutt und all die Menschen, die ihre Wohnungen und Häuser verloren hatten, beeindruckten mich tief. Es schien mir ein übernatürlicher Ort zu sein, nicht von Menschen, sondern von Außerirdischen geschaffen. Jede Woche verschwanden ganze Straßenzüge, jeden Tag fanden sich Obdachlose am Hafen ein. Fengjie schien mir wie ein Sinnbild für ganz China, ein Ort, der seine eigenen Geschichten und Erinnerungen zum Verschwinden bringt.

Wie haben die Menschen dort auf Sie reagiert?

Die meisten Bewohner hielten uns für ein Fernsehteam, bei dem sie ihre Beschwerden loswerden wollten. Man muss dazu wissen, dass das Gebiet von 2000 bis 2004 voller Journalisten war, die vom Bau des Staudamms berichteten. Seitdem ist der Wert der Nachrichten von dort jedoch gesunken, die Medien sind verschwunden. Ich habe den Menschen erklärt, dass ich kein Reporter bin, sondern ein Regisseur.

Haben Sie mit Laiendarstellern gearbeitet?

Außer den drei Hauptdarstellern habe ich nur mit Menschen gedreht, die in Fengjie lebten, vor allem Arbeitern. Die waren froh, dass sie Schauspieler sein durften, ihr Einkommen als Arbeiter ist sehr gering, es beträgt nur 30 Yuan am Tag. Von uns gab es noch mal 20 Yuan obendrauf. Mir ging es zum einen um die Authentizität der sehr körperlichen Arbeit dort, zum anderen um den in Fengjie gesprochenen Dialekt.

Wie ist aus der Doku ein Spielfilm geworden?

Die Idee kam mir nach einer Woche vor Ort. Da die Abbrucharbeiten so schnell vorangingen, blieb keine Zeit für ein richtiges Drehbuch. Ich habe zwei Assistenten die komplette Handlung in einem Hotelzimmer vorgespielt, und die beiden haben sie aufgeschrieben. Während des Drehs haben wir dieses Skript immer wieder abgewandelt und die Dialoge spontan mit den Darstellern entwickelt. Die eine Hälfte des Films stammt von mir, die andere Hälfte von dem Ort Fengjie.

Haben Sie bestimmte Aspekte des Ortes inszeniert, etwa die Abbrucharbeiten an den Häusern oder die Beleuchtung der Brücke?

Ich habe die Dinge gefilmt, wie ich sie vorgefunden habe. Die Körper der Arbeiter waren für mich eine neue Erfahrung, sie waren sehr schön und sehr lebendig, egal ich welcher Umgebung sie sich bewegten, ich brauchte sie nicht zu choreografieren. Die Brücke stellt, ebenso wie einige surreale Einsprengsel, eine Ausnahme dar, sie wurde nachträglich mit CGI-Effekten bearbeitet.

War es ein Problem, die Szene am Staudamm zu drehen?

Ich habe ein Jahr auf die Genehmigung gewartet. Rund um den Damm ist eine militärische Verbotszone von zehn Kilometern errichtet worden, in die nur organisierte Reisegruppen hineindürfen. Weil es sich so lange hinzog, hätte der Produzent gern auf die Szene verzichtet, aber ich wollte sie auf jeden Fall drinhaben. Schließlich ist der Damm das Zentrum des Films, um das sich alles dreht. Es gab viele Bedingungen: Jedes Mitglied des Filmteams wurde streng kontrolliert, Ausländer durften gar nicht rein, und wir durften nur an einer einzigen Stelle drehen. Dass wir die Genehmigung erhalten haben, hat wohl auch damit zu tun, dass ich im Antrag schrieb, dass es um ein tanzendes Paar geht. Sie dachten wohl, dass wir einen Liebesfilm drehen.

Ist die Zensurbehörde nicht mehr so streng wie früher?

Sie ist offener, aber auch widersprüchlicher geworden. Ihre Entscheidungen hängen mit den unterschiedlichsten Faktoren zusammen, z.B. dem Renommee des Regisseurs, seiner kommerziellen Zugkraft und der Tageslaune der Zensoren. Statt einheitlicher Richtlinien herrscht menschliche Willkür. Um diese Verhältnisse zu ändern, habe ich mich mit anderen unabhängigen Regisseuren wie Lou Ye, Wang Xiaoshuai, He Jianjun und Zhang Yuan zusammengetan. Wir plädieren für ein Zensursystem nach westlichem Vorbild, doch bisher wurde keiner unserer Briefe beantwortet.

TV-Tipp: Jia Zhang-kes fantastischer Film The World läuft am Dienstag, den 22. Juli, um 22.55 Uhr auf 3sat im Rahmen der Reihe "China privat"

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