25 Oktober 2009

Ohivi! Ohivi! Leipopo Stonnett!

Das Unheil kommt aus der Höhe oder der Tiefe. Es ist kein Teil der Stadt, aber immer schon da, in der Luft, unter der Erde. Wie zu Beginn von Psycho schwenkt die Kamera über eine Skyline. Tokio statt Phoenix. Der Zoom beginnt diesmal nicht bei einem Fenster, sondern bei einem Gullideckel. Ein Rabe krächzt, der Deckel wird zur Seite geschoben, eine Hand erscheint …


Der da zum Vorschein kommt im grünen Koboldkostüm, das rechte Auge milchig, die Nägel zu Krallen verwachsen, der Bart rot und lang wie Catweazles, eiert kurze Zeit später in einer der schönsten Filmsequenzen der letzten Jahre eine Straße des Tokioter Geschäftsdistrikts Ginza entlang, rempelt Passanten an, entreißt einem Mann die Krücke und einem anderen die Zigarette, die er kurz darauf in einen Kinderwagen schmeißt, er frisst Blumen und Fotos und leckt einem Schulmädchen die Achsel ab und verschwindet ebenso plötzlich, wie er erschien, wieder in der Kanalisation. Wenige Tage später wird er zurückkehren mit einer Tasche voller Handgranaten, die er dort unten gefunden hat, neben einer imperialen Fahne und der Aufschrift "Unsere Helden von Nanking 1937". Wer ist dieser humpelnde Gnom, der Tokio in Angst und Schrecken versetzt?

Leos Carax' Merde, das mittlere Segment des Omnibus-Films Tokyo!, gibt darauf keine endgültige Antwort. Er ist ein 30-minütiger, sehr konzentrierter und witziger Schnellkurs zur filmischen Konstruktion eines Monsters, über das man Folgendes lernen kann:

1. Es ist immer ein hybrides Wesen, zusammengesetzt aus nicht immer passenden Teilen. Carax’ Merde (den definitiv nur einer so spielen kann: Denis Lavant) ist ein Meta-Monster, in dem sich Anspielungen auf viele Film-Ungestalten verdichten. Godzillas Schrei ist mehrmals im Film zu hören, Merdes erster Gang durch Tokio ist mit der original Godzilla-Musik von Ifukube Akira unterlegt. Das Mädchen, dem Merde die Achsel ableckt, bewegt sich wie Fay Wray bei der ersten Annäherung von King Kong. Die Kanalisation erinnert an das Phantom der Oper, das Rabenkrächzen an Poe und Hitchcocks Birds. Ein etwas ratloser Jonathan Rosenbaum nennt Jean Renoirs Jekyll-und-Hyde-Verfilmung Le testament du docteur Cordelier als naheliegendste Inspiration, Merdes späterer Hinweis auf seinen Gott, der Spiegel verbietet, lässt an Dracula denken.

2. Das Monster kommt von außen und von innen, es ist ganz souverän in seiner Andersartigkeit und doch in diesem Anderssein komplett auf die Menschen bezogen, denen es ein Monster ist (mehr dazu hier). Carax macht sich einen großen Spaß daraus, Merde als gänzlich unjapanisch und zugleich als Verkörperung des von Japan Verdrängten darzustellen. So verweisen nicht nur die Handgranaten der kaiserlichen Armee, mit denen Merde ein Blutbad anrichtet, auf Japans Vergangenheit, sondern auch Merdes Lieblingsspeise, "ichimonji"-Chrysanthemen, ein Insignium der kaiserlichen Macht. Auf dem Rücken trägt Merde als Tattoo ein schwarzes Quadrat, wie ein Yakuza mit einem Hang zu abstrakter Kunst. Selbst Merdes eigentümliche Sprache, das Merdogon, das außer ihm nur vier Menschen auf der Welt beherrschen, klingt mit seinen rapide wechselnden Tonhöhen und der gebellten Intonation manchmal wie ein hitziger Wortwechsel in einem Gangster-Film von Kinji Fukasaku.


Dass das Verhältnis des Monsters zu den Menschen kein dialektisches, auf ein höheres Ziel gerichtetes ist, sondern ein rein antagonistisches, wird an Merdes Äußerungen während der Gerichtsverhandlung deutlich, die sein Anwalt Maitre Volant (Jean-Francois Balmer) aus dem Merdogon übersetzt: "I don’t like innocent people. I don’t like people (...) And among all people the Japanese are really the most disgusting. (...) They live way too long and their eyes are shaped like a woman’s sex." Das ist allerreinste Hasspoesie der unversöhnlichsten Art, vollkommen willkürlich im Herausgreifen bestimmter körperlicher Aspekte, die als abnorm denunziert werden. Aus dem Munde des Monsters, das sich in erster Linie durch eine Reihe körperlicher Idiosynkrasien und Ticks manifestiert, hat diese Schmähung jedoch auch etwas sehr Komisches, kommt sie der Verdammung des Monsters durch die Mehrheit doch einfach zuvor. Auf den (wunderbar ambivalenten) Hinweis des Staatsanwalts, dass rassistische Fremde in Japan nicht gern gesehen sind, und seine Frage, warum Merde ausgerechnet nach Japan gekommen sei, antwortet dieser: "My god always places me among the people I hate the most. It’s the cross I have to bear." Selbst in diesem Auserwältheitsgedanken, dem Glaube an die Bestimmung und ihre blutigen Folgen, ist Merde ganz antijapanisch und japanisch zugleich, schließlich hat dieser Glaube auf der Pazifikinsel eine lange Tradition.

3. Das Monster ist Körper. Und zwar in extremis, soll heißen, der Körper des Monsters ist immer kurz davor, aus dem Leim zu gehen, er ist permanent im Vergehen, zugleich aber auch im Werden begriffen. Er ist entweder zu groß für die Welt, wie die Leiber von King Kong und Godzilla, er ist zusammengesetzt aus Disparatem, wie Frankenstein und Herbert Wests Kreaturen aus der Re-Animator-Trilogie, oder ist ständig von schmerzhaften Transformationen bedroht, wie die Körper von Jekyll/Hyde und all den Werwölfen, an denen sich die FX-Spezialisten immer schon am liebsten ausgetobt haben. Merde selbst, dem Denis Lavant mit seinem ausgemergelt-muskulösen Körper eine extreme Physis verleiht, ist eine Ansammlung körperlicher Manierismen: der seltsam ausholende Gang, der starre Blick nach oben, das Fressen von Blumen, die jaulende Sprache, die runzlige Visage, die Klauen, der immer irgendwie verdrehte Leib.

4. Das Monster ist mächtig und mitleiderregend zugleich. Mitleiderregend, weil es immer allein ist, weil es keine Masse, Rasse, Klasse, Nation oder Religion hinter sich hat, die seine Monstrosität in eine "Menschlichkeit" hüllt, unter deren Deckmantel es den Finger heben, ihn auf jemand anderes richten und sagen könnte: "Monster". Mächtig, weil es keine Masse, Rasse, Klasse, Nation oder Religion hat, die es einschränkt und begrenzt, es ist offen für alle Bedeutungen, sodass, auch das zeigt Merde sehr schön, es schnell zum Gegenstand aller Ängste und Sehnsüchte der Menschen wird. In einem Al-Quaida-Trainingscamp wird es dann gesichtet, der Papst sieht den Teufel, Spielzeughersteller werfen grüne Figuren auf den Markt, die Jugend trägt T-Shirts: Free Merde! Fuck Japan!

Hier kann man sich selbst schon mal einüben in der neuen Merde-Religion:



Letzte Worte: "The sky has grown old." Coming soon: Merde in USA.

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Am Mittwoch, den 4. November, läuft Tokyo! (Regie: Michel Gondry, Leos Carax, Bong Joon-ho) im Rahmen des Radar International Film Festivals Hamburg um 20 Uhr in der Kleinen Freiheit 42

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