10 November 2012

Im Gespräch mit dem Film

Das folgende Interview mit Michael Baute sollte ursprünglich ergänzend zu einem Text über die im Internet florierende Praxis der Video Essays erscheinen. Der Text ist unter dem Titel „Der Zuschauer als Schöpfer“ in der Ausgabe 11/2012 von epd Film veröffentlicht worden, für das Interview war kein Platz mehr. Vielleicht ist es an diesem Ort besser aufgehoben.

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Der Berliner Filmautor und -kurator Michael Baute befasst sich auf vielfältige Weise mit unterschiedlichen Arten der Filmvermittlung. Zu den von ihm bevorzugten Formen zählen das Bloggen (seit 2001 für newfilmkritik) und der Dialog (transkribierte Gespräche mit anderen Filmenthusiasten erschienen u.a. in Jungle World, Kolik und Cargo, vgl. Linkliste am Ende des Interviews). 2008/09 hat er sich gemeinsam mit Volker Pantenburg, Stefanie Schlüter und Stefan Pethke im Projekt Kunst der Vermittlung der Praxis audivisueller Filmvermittlung gewidmet. 2010 produzierte er für das Museum für Gestaltung in Zürich den Godardloop, der sich dem Gesamtwerk Godards mit filmischen Mitteln annähert.

Herr Baute, einigen wir uns erst mal auf die Terminologie: Welchen Begriff benutzen Sie für Internet-Videos, die sich der Filmanalyse widmen?

Michael Baute: Ich finde die Bezeichnung „Video Essay“, die sich in den USA durchgesetzt hat, ganz in Ordnung. Man muss sich aber klarmachen, dass der Begriff des Essays im amerikanischen Sprachgebrauch weniger aufgeladen ist als im europäischen. Es gibt in Europa eine lange Tradition des literarischen und filmischen Essays, ich denke da an Regisseure wie Harun Farocki, Hartmut Bitomsky und Johan Grimonprez, die sich ihren Gegenständen auf sehr komplexe und intellektuelle Weise annähern. Wenn man diese Tradition kennt, muss man sich erst mal daran gewöhnen, dass in den USA auch sehr unterkomplexe Arbeiten mit dem Begriff des Essays belegt werden.

Wann sind Sie zum ersten Mal einem solchen Video Essay begegnet?

Michael Baute: Die ersten dieser Clips fand ich 2007/2008 im Web, zu einer Zeit, als ich mich im Rahmen des Projekts Kunst der Vermittlung der Geschichte des filmvermittelnden Films widmete. Es gibt ja eine reiche Tradition der Auseinandersetzung mit Film mit den Mitteln des Films, die sich aber meist an den Rändern des Filmbetriebs ereignete, im Experimentalfilm, im Essayfilm, in den deutschen Fernsehredaktionen, besonders der WDR-Filmredaktion in den 60er- bis 90er-Jahren, in einigen Zweigen der französischen Filmpädagogik. Im Rahmen unseres Projekts haben wir Kevin B. Lee, einen der wichtigsten US-amerikanischen Videoblogger, nach Berlin eingeladen. Dabei ist er auch mit Vorläufern des essayistischen Films konfrontiert worden, was für ihn eine sehr wichtige Erfahrung war.
 

Kevin B. Lee über Sam Raimis Evil Dead 2


Inwiefern?

Michael Baute: Seine Herangehensweise an diese neue Form der Filmvermittlung speist sich ja ursprünglich aus einer sehr naiven Form von Cinephilie, dem Abarbeiten einer Liste. Mit der Zeit wurden seine Arbeiten komplexer, reflexiver und formbewusster. Mittlerweile ist er einer der wenigen, die vom Herstellen von Video Essays leben, indem er regelmäßig für die Website Press Play Filme herstellt. Dabei bemüht er sich um eine Balance zwischen Sachen, die hohe Klickzahlen bringen, wie zum Beispiel sein Film über The Spielberg Face, der eine Art Durchbruch für ihn war, und persönlicheren Arbeiten, in denen er seine Form der Essays weiterzudenken und in einen größeren Kontext zu stellen versucht. Mittlerweile bin ich befreundet mit Kevin, ab und zu schickt er mir Rohschnitte von Arbeiten. Ich tausche mich dann mit ihm darüber aus und wir machen uns auf Sachen aufmerksam, die wir nicht kennen.

Haben Sie für sich, sei es durch Ihre eigene Praxis, sei es durch das Beraten von anderen, schon Regeln herausgefunden, was im Video Essay funktioniert und was nicht?

Michael Baute: Sehr wichtig ist für mich das Verhältnis von O-Ton und Voice-over. In den USA, auch bei erfahrenen Video Essayisten wie Kevin B. Lee, Matt Zoller Seitz oder Jim Emerson, gibt es für meinen Geschmack oft zu viel Voice-over. Man merkt, dass sie ursprünglich keine Filmemacher sind, sondern von einer journalistischen Textökonomie und -dramaturgie her kommen. Erst kommt der Text, dann die Montage, die die Bilder den Texten unterlegt. Das widerspricht der Tradition des deutschen und französischen filmvermittelnden Films, in der am Anfang die Bilder und ihre Montage stehen, denen zum Schluss der Text angepasst wird. Dieser Umgang mit den Bildern, ohne zugrunde liegenden Text, das ist das Schwierige und zugleich Neue an dieser Form der Filmvermittlung.




Gemeinsam mit Stefan Pethke haben Sie an der Fachhochschule Potsdam ein Seminar zur filmischen Filmvermittlung gegeben. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?

Michael Baute: Bei dem Seminar hatten die Studenten fünf Tage Zeit, zu einem von drei zur Auswahl stehenden Filmen eine Szenenanalyse zu erstellen, und zwar nur mit dem Material des jeweiligen Films. Es war interessant zu sehen, wie die Studenten ohne große filmhistorische oder theoretische Vorkenntnisse relativ schnell aufgrund ihrer allgemeinen Medienkompetenz Formen fanden und Dinge artikulieren konnten, die ihnen im vorhergehenden abstrakten und methodischen Gespräch nicht aufgefallen waren. Das Wort „Filmanalyse“ hat sie eingeschüchtert, aber der Umgang mit Filmbearbeitungsprogrammen öffnete ihnen den Zugang. Beim wiederholten Sehen, Anhalten, Verlangsamen und Schneiden des Films wurden ihnen grundlegende filmische Operationen wie Zooms und Schwenks zugänglich. Was sie nicht in Worte fassen konnten, ließ sich plötzlich direkt abbilden Die Sprache bekam in diesem Prozess eine untergeordnete, eher hinweisende Rolle und schien so Bestandteil des Filmmaterials zu werden, statt über ihm zu liegen. Da entstanden ganz tolle Sachen, wo der Film mit dem Kommentar in einen Dialog tritt. Dieses Dialogische ist für mich das Entscheidende an dieser Form, wenn der Kommentar in ein Gespräch mit den Bildern kommt, von ihnen hinterfragt oder sogar widersprochen wird.

Welche Vorteile bietet Film gegenüber Text bei der Filmanalyse?

Michael Baute: Wichtig scheint mir, dass der Umgang mit dem Material des Films selbst einen genaueren Blick hervorbringt. Die sprachliche Rekapitulation eines Films, die aus der Erinnerung erfolgt und nicht mit Blick auf das konkrete Filmmaterial, tendiert zu einem vereinfachenden Zugang, der mit verallgemeinernden Kategorien wie dem Genre oder Schlagworten wie „Arthouse“ oder „Berliner Schule“ arbeitet und meint, damit schon alles gesagt zu haben. Am Filmmaterial kann sich der Zweifel an vereinfachenden Zuschreibungen entzünden. Statt die vage Erinnerung mit einer ungenauen Textphrase zu kaschieren, schaue ich immer wieder hin. Ich kann mir einen bestimmten Schnitt so oft ansehen, bis ich verstehe, welche Rolle er in einer Argumentation haben kann. Man dringt tiefer in die Mikrostruktur eines Films ein, entdeckt Symmetrien, Ähnlichkeiten, Motive, die einem eine präzisere Formulierung von Erzählhaltungen ermöglichen. Beim Seminar in Potsdam fiel uns auch auf, dass diese Arbeit eine genauere Analyse der Wirkungen filmischer Operationen erlaubte. Die Studenten konnten hinterher genauer beschreiben, was bestimmte Kameraschwenks oder Schnitte bei ihnen gefühlsmäßig bewirkten.


Michael Baute und Ekkehard Knörer über Helmut Käutners Unter den Brücken


Welche Verfahrensweisen sind besonders produktiv für Video Essays?

Michael Baute: Eine zentrale Operation ist das Wiederholen, von Bildern, von Szenen, von Gesten. Wiederholung ist ja etwas, was eigentlich verpönt ist. Doch statt der befürchteten Redundanz kann das Wiederholen eines Bildes genau die gegenteilige Wirkung haben und überraschende Erkenntnisse ermöglichen. Ein Bild hat innerhalb eines Films ja nicht nur eine, sondern viele Assoziationen und Kontexte. Ein Zoom zum Beispiel ist ein körperlicher Reiz, ein Effekt, er hat aber auch eine zeigende Funktion, er macht auf etwas aufmerksam, er trägt außerdem zum Rhythmus des gesamten Werks bei oder verbindet es als Zitat mit anderen Filmen. Eine andere Verfahrensweise, die für mich und die Cutterin Bettina Blickwede bei der Arbeit am Godardloop wichtig war, ist der Split Screen. Das ist ja eine sehr alte Technik der Parallelmontage, die im Unterhaltungskino immer etwas Kurioses und Artifizielles behalten hat. In den letzten zehn Jahren hat sie aber eine Renaissance erfahren, weil die Arbeit am Computer den Umgang mit mehreren zugleich sichtbaren audiovisuellen Fenstern zur Norm gemacht hat. Tendenziell hat man heute immer mehrere Kanäle mit unterschiedlichen Informationen offen. Beim Godardloop bestand das Problem in einer derartigen Fülle von Material, dass man es nur sehr schwer in einer linearen Single-Frame-Montage hätte präsentieren können. Der Split Screen erlaubte es, das Material für den Betrachter nicht nur sichtbar, sondern auch vergleichbar zu machen. Der Zuschauer wird in die Lage versetzt, eigene Querbezüge herzustellen und wiederkehrende Motive und Formen im Werk Godards miteinander zu vergleichen.

Welches Material, welche Werkzeuge braucht man zum Erstellen eines solchen Essays?

Michael Baute: Das Tolle ist, dass alle dafür nötigen Mittel leicht zu beschaffen oder schon vorhanden sind. Die Filme sind in Form von DVDs oder aus dem Internet heruntergeladenen Dateien verfügbar, jeder hat mittlerweile einen DVD-Player zu Hause oder ein Abspielprogramm auf den Rechner, um die grundlegende Operation durchzuführen: das wiederholte Abspielen des Films oder einzelner Szenen. Diese uns umgebenden Medien der Konsumption werden mit einfachen, zusätzlichen Mitteln zu Produktionsmitteln für eigene Arbeiten. Dafür nötig ist nicht viel mehr als eine einfache Video-Schnittsoftware, mit der man das Ausgangsmaterial bearbeiten kann. Am bekanntesten sind Programme wie Final Cut oder Premiere, es gibt aber auch viele Umsonst-Programme, mit denen man gut arbeiten kann.

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Video Essays Galore:
Fandors Keyframe
Press Play
Audiovisualcy
Moving Image Source (Filme von Matt Zoller Seitz, B. Kite u.a.)
Jim Emersons Scanners
Motion Studies von Volker Pantenburg und Kevin B. Lee

Michael Baute im Gespräch:
über Lars Beckers Kanak Attack
über Takeshi Kitanos Brother
über Bruno Dumonts L’Humanité
über Dominique Cabreras Nadia und der große Streik
über David Lynchs Straight Story
über Eric Zoncas La petite voleur
über Paul Verhoevens Hollow Man

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