Phoenix, 14. Mai 2013: Ein Gespräch mit dem Autor James Sallis. Eine kürzere (James Sallis würde sagen: bessere) Version dieses Interviews ist in der taz erschienen.
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Herr Sallis, am Phoenix College unterrichten Sie einen Kurs mit dem Titel „Romane schreiben“. Was kann man dort von Ihnen lernen?
James Sallis: Zuerst muss man wissen, dass das ein Langzeitkurs ist, einige meiner Studenten begleite ich schon neun Jahre. Bei mir sitzen keine Amateure, sondern Schriftsteller, die an ihrem ersten oder zweiten Roman schreiben und zum Teil schon Verträge haben. Das Erste, was man zu hören kriegt, ist mein Vortrag darüber, warum Creative-Writing-Kurse Zeitverschwendung sind. Es gibt nur eine Art, schreiben zu lernen: Setz dich an deinen Schreibtisch und mache es. Und ich weiß, wovon ich spreche, ich habe einige Kurse besucht, und es gibt nur sehr wenige Lehrer, die einem wirklich etwas über das Schreiben vermitteln können. Es ist ein sich selbst tragendes System, die meisten Kursleiter haben früher Creative-Writing-Kurse besucht und kauen nur die Phrasen wider, die sie dort gehört haben. Die meisten von ihnen sind schlechte Lehrer und noch schlechtere Autoren. Die Kunst des Scheibens lässt sich nicht formalisieren, deshalb erkläre ich meinen Schülern gleich zu Beginn, dass ich intuitiv arbeite und die richtige Form bei jedem einzelnen Werk während des Schreibens erst herausfinden muss.
Wie findet man die richtige Form?
Man muss lernen, die volle Aufmerksamkeit auf das zu richten, was man zu Papier bringt. Dafür braucht man vor allem Geduld, man muss warten können, bis sich der nächste Satz an den vorherigen fügt. Das Erste, was einem beim Schreiben einfällt, ist fast immer ein Pastiche, der Schatten von etwas Vorangegangenem. Wenn ich mir zum Beispiel eine Kneipe vorstelle, kommen mir zuerst Bars in den Sinn, die mir in TV-Shows, Filmen, Büchern begegnet sind. Man kann lernen, diese ersten Bilder zu verwerfen und auch die zweiten und noch viele folgende. Man muss warten können und tief in sich hineinschauen, um auf eine echte Bar zu stoßen, die man vielleicht mal irgendwo gesehen hat und seitdem in sich trägt. Meistens sind es nur Teile, die man zusammenträgt, um seinen eigenen Raum auf der Seite entstehen zu lassen. Man muss visualisieren lernen: Wenn man selbst es nicht vor Augen hat, wird der Leser es niemals sehen können. Mit den Dialogen ist es dasselbe: Wenn ich ein Gespräch präzise und für den Leser nachvollziehbar aufschreiben will, muss ich es genauestens vor meinem inneren Ohr hören können, den Tonfall, die Intonation, den Rhythmus. Gerade dass ich eine Szene in ihrer Gesamtheit präzise hören und sehen kann, erlaubt es mir, sie mit ausgewählten Details, in skizzenartiger Kompression dem Leser zu vermitteln. Auch diese Verknappung ist eine Sache, auf die ich häufig zu sprechen komme: Wenn du im Zweifel bist, schmeiß es raus. Nichts ist jemals dadurch schlechter geworden, dass es gekürzt wurde. Meine Studenten sagen mir oft, dass das nur Entschuldigung für mich sei, sehr dünne Bücher schreiben.
Wie sieht eine Unterrichtseinheit aus?
Ich halte keine Vorträge, sondern wir sprechen über die Manuskripte, an denen die Studenten gerade arbeiten. Ich lese sie mir durch, unterstreiche Passagen, mache Vorschläge zur Struktur, und stelle immer wieder Fragen wie: Bist du wirklich in deiner Story? Gibst du ihr deine volle Aufmerksamkeit? Beim Schreiben schleichen sich immer wieder Automatismen ein, man glaubt zu wissen, wie sich die Geschichte entwickelt, und formt sie dann wie ein Töpfer einen Aschenbecher. Diesen Automatismus versuche ich immer wieder zu unterbrechen, denn er verhindert die Magie des Schreibens, die Möglichkeit, dass die Figuren auf der Seite plötzlich unvorhersehbare Dinge tun und die eigentliche Geschichte sich plötzlich als etwas ganz anderes erweist. Die zentrale Tugend ist: Aufmerksamkeit. Es darf einem nichts davon entgehen, was diese Figuren wollen, denen man ebenso sehr eine Form gibt wie sie sich selbst. In den meisten Fällen wissen wir gar nicht, was wir eigentlich schreiben.
Gilt das für alle Schriftsteller?
Viele würden es wahrscheinlich nicht zugeben, aber ich bin überzeugt davon, dass das eine universelle Regel ist. Ich habe das Handwerk in einem klassischen Schreibseminar gelernt, mit allem, was dazugehört: Plot Points, Spannungsbogen etc. Das ist wie Malen nach Zahlen, man füllt nur noch das Muster aus. Das fand ich grauenhaft langweilig, es hatte nichts mit der Freude des Erschaffens zu tun, also fing ich an zu improvisieren und habe damit bis heute nicht aufgehört. Das ist für mich eine wahre Freude, wie ein Kleinkind mit seinem Bagger, eine Welt vor meinen Augen entstehen zu sehen, von der ich vorher nichts wusste. Ich halte das auch für eine der zentralen Wahrheiten des Schreibens: Nur wenn man sich selbst begeistert und überrascht, kann man auch den Leser begeistern und überraschen. Wenn ich drei Seiten geschrieben habe und Langeweile verspüre, fliegen sie raus und ich probiere es auf eine andere Art. Das erzähle ich auch oft im Kurs: „Leute, ich habe es schon wieder getan. Ich dachte, ich wüsste, wo es langgeht, aber gerade ist eine neue Figur aufgetaucht, und ich habe keine Ahnung, was sie vorhat.“ Ich versuche meinen Studenten aber auch das Bewusstsein zu vermitteln, dass das Schreiben ein Job wie jeder andere ist. Es gibt eine Magie dabei, aber sie entsteht erst während der Arbeit, für die man dieselbe Disziplin braucht wie ein Autowäscher. Schreiben ist kein heroischer Akt, es ist Alltag und Beruf.
Wenn ich Sie recht verstanden habe, geht es beim Schreiben darum, übernommene Bilder und Kopien zu verwerfen und in einem selbst unkorrumpierte Originale zu finden. Nun ist für mich eine der zentralen poetischen Einsichten beim Lesen Ihrer Bücher, dass der Mensch sich konstituiert aus Erinnerungen, aus Fragmenten von Filmen und Büchern, aus fremdem Material.
Das stimmt, das ist ein Gedanke, auf den ich immer wieder zurückkomme, dass die Figuren ihr Selbstbild aus Fragmenten zusammenbasteln, manchmal hält es eine Zeit, meistens nicht. Es gibt also nicht so etwas wie eine platonische Ur-Bar im Inneren des Menschen, der Unterschied besteht vielmehr zwischen den künstlichen Bildern, die man im Fernsehen gesehen hat, und solchen aus einer echten Bar, die man mal besucht hat. Es geht also beim Schreiben nicht nur um Aufmerksamkeit nach innen, sondern natürlich auch nach außen, um das genaue Wahrnehmen dessen, was um einen herum vorgeht. Eine der Aufgaben, die ich meinen Studenten gebe, besteht darin, sich in ein Café zu setzen, zu lauschen und aus dem Gehörten und Gesehenen eine zweiseitige Geschichte zu machen. Ich will, dass alles in diese zwei Seiten kommt, die weitgehend aus Dialog bestehen sollen. Es geht dabei, ich wiederhole mich gern, nicht um stilistische Brillanz, sondern um Aufmerksamkeit. Und zwar nicht für den Inhalt, sondern für die zugrundeliegende Emotion des Gehörten. Das ist eine der schwierigsten Übungen, denn die meisten Menschen haben einfach keine Ohren für das, was um sie herum vorgeht, sie hören nur sehr selektiv. Meine schwierigsten Studenten sind Anwälte. Die sind darauf geeicht, alles, was sie hören, in ein juristisches Raster einzufügen und in eine bestimmte Terminologie zu übersetzen. Da ist kein Raum für Zwischentöne, das genaue Gegenteil von dem, was Literatur macht. Ich erzähle im Kurs immer von Tschechow, den ich für den ersten großen modernen Schriftsteller halte, weil er so viel Raum für den Leser geschaffen hat. Es gibt bei ihm einen schönen Vergleich zwischen der Prosa des 19. Jahrhunderts, die seitenlange Beschreibungen einer Landschaft liefert, und seiner eigenen Herangehensweise. Bei ihm steht nur so etwas wie: Aus dem Boden ragte eine zerbrochene Flasche, auf der das Mondlicht glänzte. So ein Satz versetzt den Leser mitten in die Szene, statt ihn nur von außen darauf schauen zu lassen.
Unterrichten Sie aus ökonomischer Notwendigkeit?
Als ich anfing, war es ein Brotjob, genau wie die Texte und Rezensionen, die ich über Jahre für Zeitungen und Magazine verfasst habe. Seit Drive kann ich allerdings von meinen Einnahmen als Autor leben. Das habe ich aber nicht den USA zu verdanken, sondern Europa. Meine Lizenzeinnahmen aus Ländern wie Deutschland, Frankreich und Finnland sind größer als die Honorare, die ich von meinen amerikanischen Verlegern erhalte. Als ich letztes Jahr in Europa auf einer Lesereise war und mit meiner Frau im Flieger nach Hause saß, sagte sie zu mir: „Mit jedem zurückgelegten Kilometer wirst du ein kleines Stückchen unbekannter.“
Haben Sie schon Angebote bekommen, für Hollywood oder das Fernsehen zu arbeiten?
Ja, aber ich lehne sie ab. Ich weiß mittlerweile, was ich kann und was nicht geht, und das sind Auftragsarbeiten. Das habe ich über Jahre probiert und bin immer wieder daran gescheitert. Ich kann noch nicht mal für Freunde eine Kurzgeschichte verfassen, wenn sie mich darum bitten. Noch viel weniger könnte ich ein Drehbuch schreiben, das auf der Idee eines anderen basiert. Entweder werde ich von einer inneren Notwendigkeit erfasst, oder es wird ein Fake.
Gibt es manchmal Änderungswünsche Ihrer Verleger?
Weniger Änderungswünsche als Ratlosigkeit. In der Verlagsbranche geht es ja vor allem darum, dem Produkt einen Stempel aufzudrücken, damit man es besser vermarkten kann. Und meine Bücher tendieren in letzter Zeit immer häufiger dazu, von dem abzuweichen, was man sich herkömmlich unter einem Krimi vorstellt. The Killer Is Dying hat sicherlich Züge eines Thrillers, aber es gehen darin auch noch ganz andere Dinge vor. Mein neues Buch Others of My Kind, das im September erscheint, ist der Einschätzung meines Verlegers zufolge überhaupt kein Krimi. Es wird trotzdem veröffentlicht, aber ich spüre die Bedenken aufseiten des Verlags, ob die Leser das verstehen werden.
Worum geht es darin?
Der Roman handelt von einer Frau, die als Kind entführt und jahrelang in einer unter einem Bett verstauten Kiste eingesperrt war. Als bei einem Spaziergang die Stimme dieser Frau zum ersten Mal in meinem Kopf auftauchte, lief ich schnell nach Hause und brachte einen großen Teil des ersten Kapitels zu Papier. Später fragte ich mich, ob ich mich wirklich ein ganzes Buch lang mit so einer widerlichen Geschichte beschäftigen will, aber dann fielen mir diese ganzen Sendungen im Fernsehen ein, die von entführten Frauen handeln, denen furchtbare Dinge zugefügt werden. Am Ende werden sie gerettet, und die Geschichte ist zu Ende. Ich fand schon immer, dass die eigentliche Geschichte dann erst beginnen müsste, und zwar aus der Perspektive der Frau erzählt. Zu den bodenständigsten, ausgeglichensten Menschen, die ich kenne, gehören viele, denen größtes Leid widerfahren ist. Sie haben Angehörige verloren, Kriege oder extreme Gewalt erlebt und haben dann diese traumatischen Erfahrungen bewältigt und daraus eine sehr starke Persönlichkeit geformt. Über einen solchen Prozess und eine solche Person wollte ich schreiben. Das Buch, an dem ich aktuell arbeite, ist noch weiter vom Genre entfernt. Es gibt es ein Verbrechen und eine Auflösung, aber im Grunde ist es das Porträt einer Kleinstadt und ihrer Bewohner. Das Wunderbare an Krimis ist ja, dass man unter dem Deckmantel des Genres schreiben kann, worüber man will. Die Konventionen bieten den Rahmen, in dem man alles Mögliche stattfinden lassen kann, und Verbrechen und Gewalt sind die Würze, die dem Rest den Geschmack gibt.
Verbrechen und Gewalt als Würze, das bringt mich auf eine Frage, die sich mir bei vielen amerikanischen Krimis stellt: Woher kommt diese wahnsinnige Gewalt? Natürlich ist sie eine Konvention und ein Faszinosum, oft hat sie aber für meinen Geschmack eine zu elementare Wucht, ist zu archaisch, um dazu zu taugen, etwas über die Gesellschaft und die Menschen zu erzählen, und sie überschattet auch viele feinere Beobachtungen.
Ich hoffe, dass Sie sich irren. Es klingt ja immer sehr prätentiös, wenn man so etwas sagt, aber ich glaube, eine der Stärken meiner Bücher liegt darin, dass sie daran erinnern, dass die Menschen zu den grausamsten Dingen fähig sind. Wir haben Auschwitz geschaffen, wir führen blutige Kriege und wir leben in Städten wie New Orleans oder Baltimore, in denen im Schnitt jeden Tag ein Mord begangen wird. Vor allem in den USA gibt es ein reiches Erbe verdrängter Gewalt, die in uns ist, in der Gesellschaft. Es ist wichtig, sich dieser Gewalt zu stellen und sie in uns selbst zu erkennen. Mein zentrales Thema sind Beziehungen, das Bewahren von Identitäten und sozialen Bindungen unter Bedingungen, die diese Beziehungen zu zerstören drohen. Wenn man wie ich lange auf der Straße gelebt hat, dann sieht man sehr viel Gewalt und Zerstörung, und ich versuche in meinen Büchern diese Welt möglichst authentisch wiederzugeben.
Mehr noch als mit der Gewalt beschäftigen Sie sich in Ihren Büchern mir dem, was danach kommt, mit Genesungs-, Entzugs- und Rekonstruktionsprozessen. Es gibt viele Hospitalszenen, viele Krankenschwestern, viele Rekonvaleszenten, die sich anhand von Erinnerungen ihre Identität zusammensuchen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Na ja, ich glaube, unser Leben ist nichts anderes ein langer, immer wieder neu begonnener Genesungsprozess. Geoffrey O’Brien stellt in Hardboiled America die Vermutung an , dass in den klassischen Pulp-Geschichten der Detektiv nur deshalb so häufig verprügelt wird, weil der Autor jeden Morgen aufs Neue seinen Kater überwinden muss. Was die vielen Klinikszenen betrifft, so sind diese der Authentizität geschuldet, von der ich schon gesprochen habe. Jeder, der mal auf der Straße gelebt hat, landet früher oder später im Krankenhaus. Ich habe außerdem über 25 Jahren lang in Kliniken gearbeitet, wo ich für die Überwachung der Beatmungsmaschinen verantwortlich war. Zuerst war ich in der Notaufnahme tätig, später arbeitete ich immer häufiger auf der Entbindungsstation und kümmerte mich um Frühgeburten. Das hat mich gerettet, weil ich auch in den schwierigsten Zeiten immer einen Job gefunden habe, und es hat dazu geführt, dass ich vieles gesehen habe, was ich in meinen Büchern verarbeite: Menschen vom Rand der Gesellschaft, Alkoholiker, Frauen, die von ihren Männern verprügelt wurden. Einige, die immer wiederkehrten, habe ich sehr gut kennengelernt. Das ist ein Teil Amerikas, der oft übersehen wird.
Steckt darin nicht auch eine sehr amerikanische Auffassung von Gewalt, dass sie nicht nur etwas Zerstörerisches ist, sondern auch etwas Positives, etwas, das Platz macht für das Neue, für eine neue Chance, ein neues Selbstbild, eine neue Gesellschaft?
Oh ja, jemand hat mal gesagt, dass sich Amerika zur Demokratie gemordet hat. Und wir haben eine große Begabung darin, nichts aus unserer Geschichte zu lernen. Der Vietnamkrieg hätte uns einiges lehren können, aber offensichtlich haben wir nichts das Geringste daraus gelernt. Ich habe schon in vielen Essays und Interviews darauf hingewiesen, dass der amerikanische Roman sich grundlegend vom europäischen unterscheidet. Der moderne europäische Roman handelt davon, wie ein Individuum seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Der amerikanische Roman handelt vom Kampf des Einzelnen gegen die Gesellschaft. Diese bis heute nicht abgerissene Traditionslinie lässt sich bis zur „frontier literature“ zurückverfolgen, die von der Westexpansion und der Eroberung der Wildnis handelt. Die Figuren von James Fenimore Cooper, Mark Twain und Herman Melville sind ausgeprägte Einzelgänger, die fern der Zivilisation nach ihren eigenen Regeln leben. In der Figur des Lonesome Cowboy, der aus der Wüste in die Stadt geritten kommt, dort für Ordnung sorgt und wieder in den Sonnenuntergang davonreitet, hat dieser amerikanische Individualismus seine populärste Ausprägung gefunden. Dieser Mythos ist tief in unser aller Psyche verankert, wir sind alle immer noch Cowboys. Und es ist ein ansteckender Mythos, die Mexikaner, die hierherkommen, tragen allesamt Cowboyboots, Bluejeans und Stetsons. Als ich an Drive arbeitete, wurde mir schnell bewusst, dass ich einen zeitgenössischen Western schreibe. Driver ist eine Frontier-Figur, die dasselbe macht wie Huck Finn und alle amerikanischen Helden: „lighting out for the territory“, das heißt die Erkundung neuer Gebiete, aber auch das Verschwinden darin. Natürlich ist die Landkarte mittlerweile ausgefüllt, es gibt keine leeren Flecken mehr, aber literarisch ist der Western-Mythos immer noch fruchtbar, paradoxerweise gerade auch in sehr urbanen Erzählformen wie Hip-Hop-Musik oder den in Washington spielenden Krimis von George Pelecanos.
Taugt Phoenix als Schauplatz einer Krimireihe?
Auf jeden Fall. Große Teile von Driven spielen hier, es ist definitiv eine Stadt, in der der Protagonist ein Auto braucht. Das Besondere und sehr Amerikanische an Phoenix ist, dass der Ort so neu ist, er ist fast zufällig, ohne Notwendigkeit entstanden. Ich meine, wie kommt man auf die Idee, an diesem Ort, an dem es das ganze Jahr über um die 40 Grad heiß ist und kein Wasser gibt, eine Stadt zu gründen? Es ist also von vornherein ein etwas absurder Ort ohne Historie, dafür aber sehr wandelbar. Phoenix hat schon viele Einwandererwellen erlebt, es ist eine wahrhaft multikulturelle Stadt, aber sie hat keinen eigenen Charakter. Es gibt keine gewachsenen Strukturen, nur Ansammlungen verschiedener Einwandergruppen. Phoenix ist riesig, unüberschaubar, ständig im Wandel, umgeben vom Nichts und damit sehr modern.
Eine spezifische Eigenart amerikanischer Krimis ist ein gewisser Waffenfetischismus, der in Ihren Werken allerdings nicht so ausgeprägt ist wie etwa in Lee Childs’ Reacher-Romanen. Besitzen Sie eine Waffe?
Ich habe keine, aber viele unserer Freunde und Bekannten besitzen welche. In Phoenix und Tucson sind Waffen äußerst beliebt, es gibt hier ständig Messen und Gun Shows, wo man fachsimpeln und sich die neuesten Modelle ansehen kann. Arizona ist ein Open-Carry-State, man kann seine Waffen also offen herumtragen. Neulich habe ich an einer Ladentür einen „No open carry“-Aufkleber gesehen, bisher kannte ich nur die Aufforderung, Hemd und Schuhe zu tragen. Dieser Waffenfetischismus macht auch mir Angst, obwohl ich in einer Kleinstadt in Arkansas aufgewachsen bin, wo die Jagd zum Alltag gehörte, die Menschen dort lebten von dem, was sie erlegten, von Eichhörnchen, Kaninchen und Hirschen. Etwas anderes ist das in Städten wie New Orleans. Als ich dort lebte, war ich mit meiner Frau mal zu einer Dinnerparty eingeladen. Einer der Gäste zog plötzlich seine neue Pistole raus, und wir beide waren sehr schockiert. Gleich danach holten auch alle anderen Gäste ihre Waffen hervor, aus verborgenen Holstern und Taschen, und legten sie auf den Tisch. Das waren allesamt wohlerzogene, gutbürgerliche, ganz normale Leute, und wir waren die Einzigen unter ihnen, die keine Waffe besaßen.
Ein anderes spezifisches Merkmal amerikanischer Krimis neben der Gewalt und den Waffen ist die Häufigkeit von Szenen, in denen gegessen und getrunken wird. Bei Ihnen werden zum Beispiel Unmengen von Kaffee konsumiert, wie kommt das?
Mein Freund, der Schriftsteller Samuel R. Delany, hat gesagt, dass Schreiben von „instant nostalghia“ handelt, also von einem permanenten, sich ständig erneuernden Gefühl des Entschwindens der Gegenwart in eine Vergangenheit, der man nur in der Sprache habhaft werden kann. All diese Szenen in Küchen und auf Verandas, in denen die Figuren allein oder gemeinsam Kaffee oder Wein trinken, stellen für mich ein grundlegendes Ritual dar, mit dem das Chaos zumindest für eine kurze Zeit gebannt wird. Diese Szenen sind sehr wichtig, sie strukturieren den Tag und geben uns Gelegenheit, gemeinsam mit den Menschen, die uns am meisten bedeuten, all die kleinen und großen Dinge zu besprechen, die unser Leben ausmachen. Literarisch sind diese Szenen sehr wertvoll, weil sie dem Autor erlauben, dem Leser auf subtile, unaufgeregte Weise wichtige Informationen zu liefern. In Bar- oder Café-Gesprächen kann man die Figuren sehr genau profilieren und bestimmte Stimmungen oder Orte sehr präzise umreißen. Die Kunst, die ich meinen Studenten immer wieder zu vermitteln suche, besteht darin, gerade solche „kleinen“ und „unbedeutenden“ Szenen so zu schreiben, als ob sie die gesamte Crux enthalten und das gesamte emotionale Gewicht des Romans tragen.
Noch eine letzte Frage. In London waren Sie 1968/69 Mitherausgeber des bedeutenden Science-Fiction-Magazins New World, in Ihren Rezensionen und Essays bekunden Sie Ihre Begeisterung für das Genre, warum haben Sie selbst noch keine SF-Romane veröffentlicht?
Aus demselben Grund, aus dem ich keine Auftragsarbeiten annehme: Ich kann es einfach nicht. Was mich an dem Genre fasziniert, sind seine poetischen und metaphorischen Aspekte. Eine meiner Lieblingsgeschichten ist „The Man Who Lost the Sea“ von Theodore Sturgeon. Sie beginnt mit einem Kind, das mit einem Hubschrauber spielt, doch nach und nach wird dem Leser bewusst, dass sich hinter dem Bewusstsein des Kindes das eines Astronauten verbirgt, der auf einem fernen Planeten stirbt. Das Kind ist eine Erinnerung, die ihn in seinen letzten Stunden heimsucht. Es ist also eine klassische SF-Geschichte, mit allem, was dazugehört, ein Astronaut, ein Raumanzug, ein fremder Planet. Aber es ist auch eine Geschichte über das Sterben in äußerster Einsamkeit, also über unser aller Tod, den wir allein, isoliert und heimgesucht von Erinnerungen erleiden werden. Diese metaphorische Ebene macht Science Fiction zu einem sehr poetischen und mythischen Genre, das in seinen besten Momenten tief in den Archetypen unseres Unterbewusstseins verwurzelt ist. Das gilt auch für Krimis und andere Genres wie Western, Horror und Fantasy, sie sind direkt mit den ältesten Mythen der Menschheit verbunden und können diese für die Gegenwart poetisch anzapfen.
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