19 Oktober 2013

Das Telefon sagt Du

Anmerkungen zum Wahren, Schönen und Guten auf Zelluloid anlässlich der Reihe Bizarre Cinema #10
#9 Travis Bickle mit Hund // Vietnam-Vets
#8 Das zweiköpfige Biest // Töten ohne Waffen
#7 Ein Arzt, wie er nicht sein soll // Mad Doctors
#6 Reel Animals // Grizzly
#5 Guter schlechter Film // Stanley
#4 50 Tote! // Assault on Precinct 13
#3 Penetra-, Muta-, Deformationen // Brian Yuzna
#2 Wo dein Geld ist // Blutiger Freitag
#1 Join Us // Evil Dead

Über Telefone im Horrorfilm: Black Christmas und When a Stranger Calls (Back)

„Es gibt nach groben Schätzungen 1,8 Millionen Szenen in Filmen und Fernsehserien, in denen telefoniert wird. Die meisten Bilder, auf die ich stieß, stammen aus Horrorfilmen. Wie kommt das?“ (Rainer Knepperges, zu dessen toller Telefon-Serie dieser Post als Hommage und Fortsetzung gedacht ist)

Schrecken und Faszination der Telefone liegen vielleicht darin begründet, dass sie die einzigen massengefertigten Objekte sind, die dank ihrer Funktion eine Aura haben: Sie besitzen zwar nicht die von Walter Benjamin evozierte „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, dafür aber die per Wählscheibe oder Knopfdruck reproduzierbare Erscheinung einer Nähe, so fern das Gegenüber auch sein mag. Das Telefon ist die Verbindung mit dem Draußen, die am weitesten in den intimen Bereich des menschlichen Daseins vorgedrungen ist. Früher jedenfalls war es so: Das Telefon hatte einen festen Ort im Haus, zu dem man sich hinbegab, um ihm seine Aufwartung zu machen, eine Sitzgelegenheit war meist in der Nähe. Der Apparat war ein Idol in seiner Nische, dem man mit rituellen, intimen Gesten zu huldigen pflegte. Oft stand er am Bettrand, die Filmgeschichte ist voll von Agenten, Kommissaren, Politikern, die zu nächtlicher Stunde vom klingelnden Ungetüm auf ihrem Nachttisch aus dem Schlaf gerissen werden.

Das Idol in seinem Reich: Zimmer 13 von Harald Reinl

Die Zeiten haben sich geändert: War das Telefon früher ein Apparat, mit dem das Öffentliche ins Private drang, sorgt es in seiner Reinkarnation als Handy für die Ausweitung des Privaten in die Öffentlichkeit. Verloren gegangen ist durch diesen Wandel ein schönes Repertoire an Gesten. Alte Telefonapparate sind fast schon obszön haptische Objekte, zu ihrer Benutzung bedarf es eines ganzen Arsenals intensiver Fummeleien, die erotischer sind als das stumpfe Herumgetippe auf einem Display: das Ergreifen des Apparats, das Penetrieren und Drehen der Wählscheibe, das Aufheben und Umklammern des Hörers, das in unterschiedlichen Härtegraden variierende Auflegen, das zärtliche Gezwirbel des Kabels.

Seine haptische Qualität und die damit einhergehende Intimät tragen wesentlich zur Unheimlichkeit des Telefons bei. Da es so sehr Teil des Heims und Erweiterung des Körpers ist, kann es das Draußen umso unvermittelter hineingeleiten ins Vertraute. Let the Right one in: Das Telefon ist der Hausbewohner, der den dunklen Gast hineinbittet. Dank seiner Heimeligkeit kann das Telefon das Zuhause unheimlich werden lassen, mit einem Handy hingegen (und seinem biederen Cousin, dem schnurlosen Telefon) hat der Benutzer von vornherein sein Privates öffentlich gemacht. Ein Handy ist im Hause nie ganz zu Hause, der mit ihm verbundene Schrecken ist anderer Art: Verortungsparanoia.


Manchmal, das ist auch eine Frage der Klassenzugehörigkeit, gibt es mehrere Telefone im Haus. In George Cukors Philadelphia Story können zum Beispiel living room, sitting room, terrace, pool und auch die stables angerufen werden, „damit man mit den Pferden sprechen kann, ohne sie ins Haus zu bitten“, James Stewart bestellt Kaviarsandwiches und Bier für die Brautjungfern. Mehrere Anschlüsse erlauben es außerdem, anderen heimlich zuhören. Der Telefon-Äther vergangener Tage war ein Raum der Stimmen, denen man lauschen konnte. Daraus können Komödien entstehen wie Pillow Talk (1959) oder Thriller wie Sorry Wrong Number (1948), in dem Barbara Stanwyck ein Mordkomplott belauscht. Der erste Telefon-Horrorfilm ist allerdings viel früher gedreht worden: In D.W. Griffiths The Lonely Villa (1909) kann eine Frau, die in ihrem Haus überfallen wird, gerade noch ihren Mann anrufen. Während er im Film rechtzeitig zurückkehren kann, um seine Frau zu retten, ist er in Andre de Lordes zugrundeliegendem Grand-Guignol-Stück Au telephone (1901) dazu verdammt, dem Mord an seiner Frau akustisch beizuwohnen. In seinem Aufsatz  „Heard Over the Phone: The Lonely Villa and the de Lorde tradition of the terrors of technology“ bringt Tom Gunning diesen „Alptraum männlicher Impotenz“ mit einem grundlegenden Unbehagen an der damals noch ganz neuen Technologie in Zusammenhang. Das Telefon überwindet zwar Raum und Zeit, aber es zementiert auch Distanz und erzwingt Passivität: „Electronic sound on the telephone can pass to and fro instantly, but the flesh and blood husband and father remains fixed and humiliated.“


In den zwei Filmen, die Bizarre Cinema am 17.12.2011 im Rahmen eines Weihnachts-Specials gezeigt hat, haben sich Art und Adressat des Telefonhorrors deutlich gewandelt. Bob Clarks Black Christmas (1974) und Fred Waltons When a Stranger Calls (1979) sind die berühmtesten Adaptionen der urbanen Legende vom „Man Upstairs“. Beide Filmen erzählen von Mädchen, bei Clark eine Studentinnen-WG, bei Walton eine Babysitterin, die von einem Anrufer terrorisiert werden, der sich, das ist die Pointe der Legende, nicht außerhalb des Hauses, sondern im oberen Geschoss befindet. Dass beide Filme trotz dieses Spoilers extrem spannend und spooky sind (sie gehören zu den besten Horrorfilmen der Dekade), hat neben ihren handwerklichen Qualitäten mit der Brillanz zu tun, mit dem sie die für das Genre grundlegenden Kategorien des Drinnen und des Draußen erodieren, porös machen, hinterfragen.

Black Christmas bedient sich dabei vor allem einer akustischen Strategie. Die Stimme des obszönen Anrufers, den die Mädchen „the Moaner“ oder „Super Tongue“ nennen, ist ein fantastisch sounddesigntes Monstrum aus disparaten Elementen, aus denen sich den gesamten Film über kein korrespondierender Körper, kein Geschlecht konstruieren lässt. Im Kapitel „Phony Performances“ seines Buches Vocal Tracks schreibt Jacob Smith über den Anrufer: „His obscene performance primarily involves the wordless expression of sheer bodily co-presence: gasps, moans, sighs, and slurps.“ Wie bei Griffith suggeriert die Stimme eine kaum zu ertragende körperliche Nähe, verweist aber auf eine ganz andere Art von Ohnmacht: Nicht aus der genauen Lokalisierbarkeit des Anrufers, sondern aus der Möglichkeit, dass er überall und jeder sein kann, resultiert das Grauen. Black Christmas findet dafür Bilder in einer fantastischen Sequenz, in der ein Anruf des Stöhners technisch zurückverfolgt wird: Die Kamera bewegt sich durch eine gigantische Telefonanlage, Reihen um Reihen riesiger Verbindungsmodule und Schaltstationen, ein die gesamte Stadt vernetzendes Kommunikationslabyrinth – während es auf der Tonspur stöhnt, sabbert, schreit.

Super Tongue am Apparat: Olivia Hussey in Black Christmas

When a Stranger Calls wirkt auf den ersten Blick konventioneller, vor allem die berühmten ersten 20 Minuten, in denen die Babysitterin Jill (Carol Kane) von einem Anrufer bedroht wird, bleiben akustisch und spannungsmäßig hinter Black Christmas zurück. Deutlich wird aber schon in diesem ersten Drittel das außerordentliche Interesse, das Fred Walton an der Inszenierung von Innenräumen hat, an der Auslotung eines Zuhauses. Das Klingeln des Telefons, die Stimme des Anrufers und schließlich auch der stille Apparat, der jeden Moment klingeln könnte, dienen Walton dazu, dem Zuschauer etwas Grundlegendes fremd und unheimlich werden zu lassen. All die stillen Objekte, die unser Heim konstituieren, die Flure, Treppen, Winkel, Türen, die während unser Abwesenheit vor sich hindämmern, kriegen beim Klingeln des Telefons eine andere Anmutung, eine Aura von Erwartung, wie eine Armee wartender Dinge, die nur auf den Weckruf ihres tönenden Anführers warten, um endlich ihre Knechtschaft abzuwerfen.

Wirklich begeisternd wird When a Stranger Calls im zweiten und letzten Drittel, weil er die Perspektive radikal umdreht: Walton erzählt sehr empathisch, wie der von der Polizei gefasste Anrufer, ein psychisch kranker Mann, nach Jahren aus der Klinik entlassen wird und versucht, einen Ort für sich zu finden. Man ist nun als Zuschauer nicht mehr drinnen und hat Angst vor dem Draußen, sondern man ist draußen und erlebt die vielleicht noch existenziellere Angst, nirgendwo hineingelangen zu können, in kein Haus, kein Herz, keine Gemeinschaft. Die Szenen in einer Bar, in der der Mann versucht, mit einer Frau ein Gespräch zu beginnen und schließlich in ihre Wohnung zu gelangen, sind für mich eine der beeindruckendsten Darstellungen des gelingenden Wunders menschlicher Kommunikation und Attraktion, gerade weil hier jemand ganz hoffnungslos daran scheitert. Das ist ohne jeden komischen Effekt inzeniert, sehr gut gespielt, und obwohl man sich die ganze Zeit Sorgen um die Frau macht, empfindet man auch die Hilflosigkeit des Mannes. Wenn er im letzten Drittel einen weiteren Versuch unternimmt, mit Gewalt Teil eines Hauses und seiner Bewohner zu werden, ist er nicht mehr nur eine bedrohliche Stimme, sondern ein Mensch, der die Einsamkeit nicht mehr erträgt.

Mutter spricht wieder, diesmal durchs Telefon: Anthony Perkins in Psycho II

Was ist eine Stimme, was macht ihre Unheimlichkeit aus? Sie kann fundamentale Kategorien von Subjekt und Welt durcheinanderbringen, weil sie Drinnen und Draußen zugleich ist. Mit ihren individuell ganz unterschiedlichen Modulationen und Tonhöhen steht sie für ein unverwechselbares Subjekt, aber sie lässt sich auch sehr leicht manipulieren, verfremden oder aufzeichnen (der Schönheit und dem Horror aufgezeichneter Stimmen wird im Club Silencio in David Lynchs Mulholland Drive gehuldigt). Die Stimme kann das Äußerste nach innen kehren, wenn sie sich in uns manifestiert und so ihre Macht ins Unermessliche steigert. Die mächtigsten Stimmen sind die der Mutter (Psycho) und des Vaters (Cruising), die als verinnerlichte aus einem selbst sprechen: „You know what to do.“

Eine Stimme hat keinen festen Ort: Sie entsteht im Körper, aber im Entstehen ist sie auch schon außerhalb, unabhängig von ihm. Sie ist beim Sprecher und gleichzeitig beim Empfänger: Das macht macht auf noch unheimlichere Weise als sein Vorgänger Fred Waltons TV-Produktion When a Stranger Calls Back (1993) deutlich. Die Babysitterin Julia (Jill Schoelen), die in den ersten 20 Minuten dieses wiederum dreigeteilten Films heimgesucht wird, hat es mit nicht mit einer Telefon-, sondern mit einer Stimme hinter einer Tür zu tun. Die erzählt von einer Autopanne, bittet um Einlass und darum, die Pannenhilfe anrufen zu dürfen, und ist alles andere als obszön oder auch nur bemerkenswert. Es ist eine alltägliche Stimme mit einem alltäglichen Anliegen, aber sie kommt immer wieder zurück zur Haustür, der dazugehörige Körper bleibt unsichtbar, und es häufen sich die clever gestreuten Hinweise, dass ein Fremder im Haus ist oder war. Spielt der Mann vor der Tür ein perfides Spiel? Gibt es vielleicht zwei Männer? When a Stranger Calls Back zeigt eindrucksvoll den Horror, der aus der Unmöglichkeit entsteht, einer Stimme einen konkreten Ort zuzuweisen.

Draußen oder schon drinnen? Jill Schoelen in When a Stranger Calls Back

Der fünf Jahre später spielende Mittelteil des Films erzählt von dem neuen Leben als Studentin, dass sich die immer noch traumatisierte Julia aufbauen will, und liefert Hinweise, dass der Verfolger von einst immer noch in ihrer Nähe ist. Ihr zur Seite stehen nur die nun als Psychologin arbeitende Jill (Carol Kane) und ein auch im ersten Teil auftauchender Detektiv (gravitätisch und wie immer toll: Charles Durning). Die Antwort auf die Frage, ob damals ein oder zwei Männer Julia bedrohten, ist vielleicht nicht besonders originell, wenn man sie hier aufschreiben würde, ganz außerordentlich ist aber die Art und Weise, wie Fred Walton diese Antwort im letzten Drittel des Films inszeniert. Fühlte man sich die ganze Zeit schon an David Lynchs Lost Highway erinnert, an dessen Fantasma, dass im Innersten des Zuhauses das ganz Fremde lauert, so überfällt einem beim Finale plötzlich die Ahnung: Lynch hat When a Stranger Calls Back gesehen. Die enigmatischste Figur von Lost Highway, der Mystery Man, findet sich hier vorgeformt, vor allem im Hinblick auf ihre Stimme. Wie der Mystery Man, der akustisch an zwei Orten zugleich sein und deshalb mit sich selbst telefonieren kann, so ist der schwarze Mann aus When a Stranger Calls Back eine Figur des Übergangs, der Gespaltenheit, der Transgression und des akustischen Zwischenreichs zwischen Dunkel und Licht, Drinnen und Draußen, aus dem sie am Ende hervortritt. Muss man sehen, um es zu glauben.

Und jetzt alle:
Jeder kennt doch diesen Ton
Die Post schickt ihn durchs Telefon
Dieses Zeichen nennt man frei
Und so fühl ich mich dabei
Warum in die Ferne schweifen
Ich muss nur zum Hörer greifen
Ich heb ab und frage wer
ist dieser nette junge Herr?
Und das Telefon sagt Du
Und ich hör ihm weiter zu
Und es sagt nur immer Du, Du
Ich denk nicht immer nur an mich
sondern gerne auch an Dich
Ich nehm den Hörer und frag schlau
Wer gefällt heut jeder Frau?
Dieses wunderschöne Uuuh
was für mich klingt wie nur Du
Ich heb ab und bin ganz still
weil ich’s noch mal hören will
(Andreas Dorau: „Das Telefon sagt Du“, vom Album neu!)

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