Beim Schreiben über Revision, also bei der schriftlichen Rekonstruktion der audiovisuellen Aufarbeitung eines Vorgangs, bei dem um 3.45 Uhr am Morgen des 29. Juni 1992 in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze zwei rumänische Staatsbürger durch Kopfschuss starben, stellt sich erneut die Frage, die Regisseur Philip Scheffner jedem der von ihm befragten Protagonisten gestellt hat: Wann hat diese Geschichte für Sie begonnen? Sollte man mit der Zeitungsmeldung anfangen, die davon erzählt, wie zwei Jäger in der Morgendämmerung Wildschweine in einem Feld zu sehen glaubten? Mit den Polizisten, Feuerwehrmännern, Landwirten, die sich nicht mehr erinnern können, wo genau die Leichen von Eudache Calderar und Grigore Velcu lagen? Oder mit den immer wiederkehrenden Bildern der sanft gewellten Landschaft, über der die Schatten der 13 Windräder ihre regelmäßigen Bahnen ziehen?
„In dieser Frage nach der Struktur und dem Anfang schlägt sich schon viel nieder – die Perspektive, die eingenommen wird, Berwertungen und politische Fokussierung, das Ausblenden tausend anderer Geschichten, die sich aus verschiedenen Anfängen ergeben und andere Schwerpunkte setzen würden. Es zeigt, glaube ich, dass ich auch als Autor in allen meinen Filmen mitbeteiligt bin.“ (Philip Scheffner im Gespräch mit Alejandro Bachmann und André Siegers, Kolik 20/2013)Vielleicht beginnt man dort, wo auch Scheffner seine Recherche anfängt: bei den Menschen, die von dem Geschehen am unmittelbarsten betroffen waren. Das Ungeheuerlichste an der Geschichte von den zwei Jägern und den zwei toten Rumänen ist nämlich die Tatsache, dass bisher niemand den Angehörigen das bisherige Ende dieser Geschichte erzählt oder ihnen Gelegenheit gegeben hat, ihre eigene Version davon zu erzählen. Als Scheffner 20 Jahre nach dem Geschehen die Familien Calderar und Velcu in Rumänien aufsucht, hat ihnen noch keine deutsche Behörde Mitteilung vom Verlauf des Gerichtsprozesses gegen die beiden Jäger oder von ihrem Freispruch gemacht. Revision holt also einen elementaren Akt der Rechtsfindung nach, an dem das deutsche Rechtssystem offenbar gescheitert ist: Er legt gegenüber den Frauen und Kindern der toten Männer Zeugnis ab und nimmt ihr Zeugnis zu Protokoll.
Frage: „Welche Form von Erkenntnis oder Zeugenschaft steckt also schlussendlich noch in den Bildern?“Durch eine simpel anmutende, die Form des Dokumentarfilms aber radikal erweiternde Verschiebung sorgt Scheffner dafür, dass die Befragten die Kontrolle über ihre eigene Geschichte und ihre Darstellung bewahren: Statt sie dabei zu filmen, wie sie ihre Geschichten erzählen, filmt er sie, während sie ihre zuvor aufgezeichneten Ausführungen hören und kommentieren. So kommen sie zwar nicht zu ihrem Recht, aber immerhin in eine Position der Selbst-Repräsentation, von der aus die Suche nach dem Recht einen weiteren Anfang nehmen kann. Zu Ende erzählt ist diese Geschichte hoffentlich noch lange nicht.
Scheffner: „Spontan würde ich sagen: gar keine. Oder eben eine, die sich durch den Kontext, die Perspektive der Erzählung, das Bild davor und das Bild danach immer wieder neu erschafft. (...) Mir geht es wirklich mehr um das Erarbeiten: dass man sehr genau hinsieht, das ernst nimmt und sich dann fragt, was man da eigentlich sieht; und dass man versucht, zu rekonstruieren, wie das sein kann, dass das, was man sieht, überhaupt zu sehen ist oder eben nicht.“
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