18 Mai 2008

Schnauze halten


Peter Geyers "Jesus Christus Erlöser" dokumentiert in schöner Klarheit ein Wunder, das sich eigentlich bei jeder Kinovorführung ereignet, dem Zuschauer aber selten bewusst wird: das Wunder, dass viele Menschen gleichzeitig 90 Minuten lang die Schnauze halten.

Es ereignet sich erst spät an jenem legendären Abend am 20. November 1971 in der Berliner Deutschlandhalle, nachdem Kinski schon diverse Male abgebrochen und wieder neu begonnen hat. Die Reihen haben sich gelichtet, nur noch 100 Leute hocken um ihn rum, die keinen Mucks mehr von sich geben und Kinskis Version der Lehre und des Lebens Christi lauschen. Zuvor konnte man sehen, wie das Wunder immer wieder nicht eintrat und die Zuschauer die Performance unterbrachen. Dabei überwog neben der Lust an der eigenen Stimme ein Phänomen, das zur Grundvoraussetzung der Arbeit des Künstlers gehört, der zentrale Widerspruch seines Schaffens geradezu: Er (Stimme, Körper, Worte) wird dem von ihm Dargestellten zum Verwechseln ähnlich. Kinski wurde also Jesus und die Leute meinten, ihre Aufgabe bestünde darin, ihn daran zu erinnern, dass da wohl ein Irrtum vorliege ("Du predigst doch nur Hass", "Der hat doch schon seine Million auf dem Konto").

Beim Kino kann man ja schlecht jemand anbrüllen und zur Rechenschaft ziehen, deshalb war es toll, dass bei der Vorführung in Hamburg Regisseur Peter Geyer zu Gast war und hinterher mit "Jesus Christus Erlöser" verwechselt wurde. Heute leben wir ja in höflicheren Zeiten, in denen man den, der sich da vorne gerade macht, nicht mehr anbrüllt, sondern höflich fragt, was er denn emotional empfinde, wenn er seinen eigenen Film sehe. Die Hoffnung hinter solchen Fragen ist vielleicht die, dass der da vorn entweder ein Märtyrer ist, der für seine Überzeugungen zu sterben bereit ist (=Jesus) oder ein Scharlatan (= Michael Moore, dessen Enthüllungen nicht stimmen können, weil er mit ihnen viel Kohle verdient). In jedem Fall werden die durchs Werk sichtbar gewordenen Widersprüche durch das Durchschauen des Künstlers zum Verschwinden gebracht. Als Jünger oder Apostat lässt sich nun weiterhin ein ruhiges Leben führen.

Überhaupt dieser Wahnsinn: Da hat einer über Jahre an einem Werk gearbeitet, das der Zuschauer in 90 Minuten wegkonsumiert, und hinterher soll wieder der Autor die ganze Arbeit machen. Geyer weigerte sich ebenso heldenhaft wie Kinski, emotional eins zu werden mit seinem Werk. Wo Kinski schrie "Halt die Schnauze du dumme Sau", wies Geyer darauf hin, dass er überhaupt nicht emotional veranlagt sei und keinerlei Zweck mit dem Film verfolge als den, Kinskis Auftritt wieder möglichst getreu sichtbar zu machen. Er verglich sich mit einem Mann, der ein 18000-Teile-Puzzle zusammengefügt hat. Die Reihen im Kino lichteten sich, und viel später, so gegen zwei Uhr morgens, als auch der Abend damals in der Deutschlandhalle zu Ende ging, stand Geyer draußen vorm Kino inmitten einiger getreuer Zuhörer. So hat wohl auch Jesus einst gestanden, den man im Laufe des Abends etwas schätzen gelernt hat als jemand, der es immerhin vollbracht hat, dass ein paar Leute für eine gewisse Zeit die Schnauze halten.

Keine Kommentare: