Oder auch: Blick zurück Nr. 1
Im Gespräch mit Harun Farocki spricht Georg K. Glaser von "Rissen in der glatten Welt der Überzeugungen", um die es ihm bei seiner schriftstellerischen Arbeit geht. Walter Benjamins Satz "Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe" weist gedanklich in dieselbe Richtung, wie auch eine Bemerkung des Erzählers aus Chris Markers Sans Soleil. Er sagt, dass die Menschen bei der Betrachtung der Geschichte, vor allem bei Revolutionen und historischen Wendepunkten, eine Art Kollektivbewusstsein vermuten, dass die Geschehnisse vorantreibt. Sans Soleil macht die Risse in der glatten Welt dieser Überzeugung sichtbar. Vielleicht sollte man auch sagen: Er stellt diesen Riss dar. Und zwar, indem er nicht nur von außen auf die Dinge und Menschen schaut, sondern sie auch zurückschauen lässt.
"Gibt es etwas Dümmeres als die an Filmschulen gelehrte Regel, dass die gefilmten Menschen nicht in die Kamera schauen dürfen?" Die Frage seines Erzählers beantwortet Chris Marker, indem er sie zurückschauen lässt, etwa die Frauen auf den Kapverden. Die Kamera lässt sich mit ihnen auf einen gleichberechtigten Blickwechsel ein, eine Verführung, wie es der Erzähler nennt. Das plötzliche Heben der Lider, der direkte Blick zurück in die Kamera. Staring Back heißt auch das jüngste Werk von Chris Marker, eine Sammlung von Porträtbildern aus sechs Jahrzehnten, die noch bis Ende Juni im Museum für Gestaltung in Zürich zu sehen ist.
Der Blick zurück auf den Zuschauer muss keiner im herkömmlichen Sinne sein. Er lässt sich auch gestalten durch die Montage der Bilder, durch ihren Fluss und ihre Brüche, sodass sich aus ihnen Fragen an den Betrachter ergeben: Kann man Dinge verstehen, von denen man sich Bilder ansieht? Warum diese Bilder und nicht andere? Woher stammen diese Bilder, wer hat sie gemacht? Darf ich diese Bilder sehen, ohne hinterher zu handeln? Und überhaupt: Was starrst du mich so an?
Sans Soleil ist ein Film, der Fragen formuliert, der die Dinge und Menschen aus verschiedenen Perspektiven zeigt, der ständig neue Verbindungen, zeitliche und räumliche, herstellt. Geeint werden diese Bilder und Töne in der Figur des Kameramannes, dessen das Filmmaterial begleitende Briefe ein Erzähler mal in direkter, mal in indirekter Rede widergibt. Diese doppelte Rahmung erinnert den Betrachter daran, dass er es mit einer subjektiven und erinnernden Wahrnehmung zu tun hat. Thomas Tode spricht von einem wandelbaren Beobachter, für den das, was er an einem Tage filmt, sich am nächsten Tag durch das Vergehen der Zeit, den Prozess der Erinnerung verändert hat und offen geworden ist für neue Interpretationen.
Man könnte Sans Soleil vielleicht als den Versuch bezeichnen, genau hinzublicken, ohne zu durchdringen. Der Film erprobt diesen Blick an vielen Themen und Motiven, am bewaffneten Kampf gegen die Kolonialmacht Portugal auf Guinea-Bissau und den Kapverden, an Katzen und Hunden, die als Gottheiten, Haustiere und Museumsexponate zur Selbstbespiegelung des Menschen dienen, vor allem aber an Japan. Japan ist der Hauptort des Films, der wie ein fremder Planet begutachtet wird, wobei sich Bemühen um Verständnis und Hingabe an die Fremdheit immer die Waage halten. Der Beobachter schaut zu, zum Beispiel bei einem endlosen, wunderschönen Straßenfest, aber er hält sich mit erklärenden Deutungen zurück.
Dieser Moment des Schwankens zwischen Schauen und Verstehen, zwischen reiner Selbstvergessenheit und selbstbewusster Reflexion spielt auch bei einem anderen Thema eine Rolle, um das es in Sans Soleil geht: den Momenten der Vergesellschaftung, in denen "das Geheimnis der Jugendlichen" zum Verschwinden gebracht wird. Jenes 13-jährige Mädchen, von dem der Erzähler an einer Stelle spricht, das ein anderes fesselte und aus einem Hochhaus stürzte, besaß es wohl nicht. Und wahrscheinlich werden es die 20-jährigen Mädchen, die einmal im Jahr in Kimonos gehüllt werden, Geschenke erhalten und frei telefonieren dürfen, schon bald vergessen haben, wenn sie erst mal einen Mann haben und einen Haushalt führen. Dieses Geheimnis besteht in der Gabe der Jugendlichen, über jedes Unrecht, das in der Welt geschieht, so empört zu sein, als sei es ihnen selbst widerfahren.
Der Kameramann hat diese Gabe verloren, aber er will das Wissen darum, eine Ahnung davon, was uns verloren gegangen ist, weitergeben. Dieses Wissen lässt sich nicht herstellen, indem man die Kamera auf einen Menschen hält und hofft, dass er sein Geheimnis preisgibt. Es geht darum, den anderen zurückblicken zu lassen und selbst sichtbar zu werden als ein wandelbarer Beobachter, sich zu öffnen für die Dinge, die das Herz schneller schlagen lassen. Den Tod und die Schönheit.
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