10 Juni 2008

Blick zurück Nr. 3

Jeder, der schon einmal den Kopf eines anderen im Schoß gehalten und ihm lange genug ins umgekehrte Gesicht geschaut hat, weiß, dass auch im vertrautesten Menschen ein Alien steckt. Die lieb gewonnenen Linien und Falten lösen sich plötzlich auf und fügen sich zu etwas Fremdem und Beunruhigendem zusammen, das man meist mit einem Lachen abtut. Allzu lange möchte man nicht hinschauen.


Der südkoreanische Regisseur Lee Chang-dong wagt in seinem Film Secret Sunshine einen langen Blick in das umgekehrte Gesicht seiner Hauptfigur Shin-ae (gespielt von der großartigen Jeon Do-yeaon). Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Einstellung im Film auftaucht, nach dem misslungenen Stelldichein mit einem verheirateten Apotheker, ist sie fast schon am Ende ihrer Höllenfahrt (Spoiler ahead!). Ihr Mann ist tot, ihr Sohn wurde entführt und umgebracht, die anfängliche Tröstung der christlichen Religion hat sich verflüchtigt. In der Stadt, in der sie einen Neuanfang wagen wollte, ist sie eine Fremde geblieben. Das Wunder von Secret Sunshine ist, dass er erzählerisch den Blick um 180 Grad dreht und man irgendwann nicht mehr voyeuristisch auf Shin-ae und ihr Leid blickt, sondern mit Shin-ae auf die Gesellschaft, die sie umgibt. Nichts an ihrer Umgebung hat sich verändert, aber die Konturen des sozialen Gefüges der Kleinstadt Milyang fügen sich im Laufe dieses Films neu zusammen: fremd und beunruhigend.

Secret Sunshine enthält eine der brillantesten Dekonstruktionen der Religion, die ich je gesehen habe. Nach dem Tod ihres Sohnes wird Shin-ae sehr offensiv von einer Reihe von Frauen umworben, die Mitglieder in einer christlichen Religionsgemeinschaft sind. So wie Waschmittelverkäufer porentiefe Reinheit versprechen diese Frauen Tröstung für das Leid. Nach anfänglichem Zögern kommt Shin-ae mit zu einem Gottesdienst, wo es ihr zum ersten Mal gelingt, ihrer Trauer durch Schreie und Tränen Ausdruck zu verleihen. Die folgende Hingabe Shin-aes an die Worte der Bibel, ihr selbstvergessenes Beten und Singen, registriert der Film ohne jeden sarkastischen Unterton; die Glaubensgemeinschaft erscheint tatsächlich als ein Ort, an dem das Leid eines Menschen aufgehoben ist, für das im Alltag, im Beruf, unter Freunden kein Platz ist.

Die Ahnung, dass diese Tröstung nicht von Dauer sein kann, bestätigt sich in einer Szene, die zum Besten gehört, was ich seit Jahren gesehen habe. Shin-ae, begleitet von zwei ihrer Glaubensschwestern, besucht im Gefängnis den Mann, der ihren Sohn entführt und umgebracht hat. Sie will ihm im Namen Jesu vergeben. Das Lächeln, das anfangs ihre Züge umspielt, wirkt wie eine Schutzmaske, ein Visier der frommen Denkungsart, mit dem sie ihren vergebenden Worten, die sie sich vorher zurechtgelegt hat, Nachdruck verleihen möchte. Die Sorge des Zuschauers um Shin-ae, die er ab der ersten Minute des Films um sie hat, erreicht jetzt ihren Höhepunkt, man möchte sie beschützen vor der Konfrontation mit dem Mörder. Wenn sein Gesicht schließlich auf der anderen Seite des Glases auftaucht, ist man verwirrt. Seine Züge umspielt ein selbstversunkenes Lächeln, das dem von Shin-ae gleicht. Noch bevor sie das erste ihrer zurechtgelegten Worte vorbringen kann, erklärt ihr der Mann: Schön, dass sie komme, es gehe ihm gut, er wolle ihr mitteilen: Er hat zum christlichen Glauben gefunden. Jesus hat ihm schon vergeben.

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