24 Juni 2008

Wolken über Columbine

Der Soundtrack zu diesem Text: Türen der Wahrnehmung von Hildegard Westerkamp

In Gus van Sants Elephant sind dreimal Wolken zu sehen: in der ersten Einstellung; vor dem blutigen Finale, der Himmel wird düster; und ganz am Ende. Diese die Handlung einrahmenden Szenen sind nach meiner Erinnerung die einzigen, in der keine der Schüler zu sehen sind, in der ein Außen sichtbar wird. Verbunden mit dem Geschehen sind sie nur durch einen Blick: Michelle, das Mädchen, das statt Shorts lange Hosen trägt und sich auch sonst um Unsichtbarkeit bemüht, bleibt auf dem Sportplatz kurz stehen, schaut nach oben und lächelt, das einzige Mal im Film. Van Sant liefert keinen Gegenschuss zu diesem Blick, vielleicht schaut Michelle auch etwas anderes an, aber ich bin mir sicher, dass es die Wolken sind. Die Unsichtbare schaut auf das für alle Sichtbare, das niemand sieht. Auch nicht der Fotograf Elias, der auf Porträts spezialisiert ist.


"Formlos Nutzlos Schön" nennt sich The Wayward Cloud in der Unterzeile, drei Attribute, die Wolken und die Figuren der Heranwachsenden in Elephant gemeinsam haben. Ihre Schönheit und ihre Formlosigkeit bedingen einander. So wie Wolken in ständiger Bewegung sind, sich verdichten und wieder auflösen, Gestalten annehmen, dramatische Atmosphären aufbauen und sich gleich darauf wieder in gähnende Leere auflösen, so sind auch die Teenies in Elephant noch im Werden, driftend und schwebend, schön für sich allein, wenn die Sonne oder das Schulflur-Licht ihnen Relief geben, und ein wenig langweilig, wenn sie sich zu größeren Haufen verdichten. Die Figuren, denen van Sant einen Namen gibt, Elias und John, Alex und Eric, Nathan und Carrie, Michelle und Benny, Nicole, Brittany und Acadia, sind keine psychologisch abgerundeten Charaktere, sondern Typen, deren individuelle Konturen nur angedeutet sind.

Eine Szene fand ich auch beim zweiten Sehen blöd, weil sie die Balance zwischen Erzählen und Zeigen, zwischen Typisierung und Charakterisierung in meinen Augen durch einen allzu plumpen Witz stört: Nicole, Brittany und Acadia gehen gleichzeitig in die Mädchentoilette und kotzen ihren Lunch wieder aus. Vielleicht ist das auch als überdeutlicher Hinweis darauf zu verstehen, die Figuren nicht allzu ernst zu nehmen. Meine Vermutung ist: Sie sind weniger die Handelnden eines Dramas, deren Motivation also zu entschlüsseln wäre, sondern sie stehen für bestimmte Haltungen zur Welt, die durch die Schule geformt oder gegen sie behauptet werden müssen. Verschiedene Puppenstadien der Vergesellschaftung sozusagen, an denen man die später daraus schlüpfenden Schmetterlinge noch nicht ohne weiteres erkennen kann.

Die spezifische Art und Weise, wie van Sant seine Figuren inszeniert und damit gesellschaftliche Erklärungsmuster unterwandert, lässt sich am besten an Alex und Eric erkennen, den beiden Jungs, die das Blutbad anrichten. Alle Erklärungen, die ihre Tat nachvollziehbar machen sollen, werden im Film präsentiert, allerdings nicht als in sich zusammenhängendes Täter-Profil, sondern als ein Kaleidoskop unterschiedlicher, sich zum Teil widersprechender Facetten: Hitler im Fernsehen, Ballerspiel auf dem Bett, Erniedrigung in der Schule, Waffen-Mail-Order an die Haustür, Küsse unter der Dusche, die gleichgültige Mutter, all das ist zu sehen, fügt sich aber nicht zu einem schlüssigen Bild. Wie Wolken verdichten sich Motive, lösen sich wieder auf, nehmen andere Gestalt an. Einzig der gelassene Gleichmut, mit dem die beiden zu Werke gehen, bleibt konstant.

Was also konstruiert Gus van Sant in Elephant, wenn er keine Erlärung für das Geschehen liefert? Die Antwort und der Grund, warum der Film statt heilloser Verwirrung die Möglichkeit eines tieferen Verständnisses und einer moralischen Haltung hinterlässt, liegt für mich in der genau der kaleidoskopartigen Struktur begründet, die einfache Erklärungen unmöglich macht. Diese Struktur, die durch Vorwärts- und Zurückbewegung in der Zeit entsteht, durch die Wiederholung und Re-Perspektivierung einzelner Szenen, erlaubt es nicht, einzelne Figuren psychologisch zu durchschschauen, aber sie lässt bestimmte Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen ihnen sichtbar werden, die sich ordnen lassen. Vorm staunenden Auge des Zuschauers erscheint eine Typologie der Haltungen zur Welt und der aus ihnen ableitbaren Handlungen.

Am deutlichsten wird die Struktur, wenn man die Figuren zu Paaren gruppiert. Neben dem offensichtlichen Paar Alex und Eric, die für ein radikal unsoziales Verhältnis zur Welt stehen, gibt es da zum Beispiel Michelle und Elias. Die beiden haben an der Oberfläche nichts miteinander zu tun, wechseln kein Wort, und doch setzt van Sant die beiden miteinander in Bezug. Sie begegnen sich zweimal: einmal im zentralen Knotenpunkt des Films, der dreimal aus unterschiedlichen Perspektiven gedrehten Szene, in der Elias im Flur John trifft und ein Foto von ihm macht, während Michelle geduckt an den beiden vorbeiläuft. Später bringt der Film sie noch einmal zusammen: In der Bibliothek, wo Michelle das erste Opfer von Alex ist, während Elias ein Foto von Alex macht. Dieses Zuschauen, das auch ein Nichteingreifen ist, ist das zentrale verbindende Element zwischen Elias, der Gesichter fotografiert, und Michelle, die Wolken betrachtet.

Den Gegenpol zu Michelle und Elias bilden Nathan und Carrie: Sie schauen den Dingen nicht von außen zu, sondern sind das Highschool-Paradepärchen, das von allen angeschaut wird. Über sie erfährt man am wenigsten, ihr Geplauder ist am belanglosesten, ein bisschen hören sie sich schon an wie Erwachsene beim Smalltalk, vielleicht weil sie im Prozess der Vergesellschaftung schon am weitesten fortgeschritten sind. Sie kommen als letzte dran, im Kühlraum, wo Alex sie dann doch entdeckt. Ihren Tod zögert am längsten hinaus, er genießt seine Macht über sie am offensichtlichsten, sie sind alles, was er selbst nicht hat und an ihnen nicht ertragen kann.

Das letzte und wichtigste Paar bilden John, der als Erster, und Benny, der als Letzter vorgestellt wird. Sie tragen zitronenfalter-gelbe Shirts und bilden somit den auch farblichen Gegenpol zu Alex und Eric in ihren Tarnfarben. John und Benny sind die Einzigen, die nicht nur zuschauen oder flüchten, sondern in das Geschehen eingreifen. John wird mit einer Szene eingeführt, die seine verantwortungsvolle Haltung zur Welt klar illustriert: Er muss sich um seinen betrunkenen Vater kümmern, eine der wenigen Erwachsenen-Figuren des Films, deren Abwesenheit auch eine wichtige Facette in Elephant ist. Später begegnet John Alex und Eric auf ihrem Weg in die Schule, ahnt, was los ist, und verhindert, dass weitere Menschen in das Gebäude hineingehen. Die schönste Figur, weil überhaupt nicht erklärt und zugleich komplett, ist Benny. Inmitten des allgemeinen Chaos und der Panik bewegt er sich mit traumsicherer Gewissheit durch die Flure, gegen den Strom, hin zur Gefahr, um zu helfen. So möchte man auch sein. Wenn das keine radikal moralische Erkenntnis ist.

Mörder und Helden sind in Elephant nicht auf einen Blick zu erkennen, ebensowenig wie man Homosexuelle an äußeren Kennzeichen auf der Straße identifizieren kann. Davon sind auch die Mitglieder des Freundschaftsbündnisses homo- und heterosexueller Schüler überzeugt, die in einer wichtigen Szene von Elephant über dieses Thema sprechen. Der 360-Grad-Schwenk der Kamera, der uns ihre Gesichter zeigt, unterstreicht sehr schön die Erkenntnis, zu der die Schüler selbst gelangen: Ihre sexuelle Vorlieben kann man ihnen nicht auf einen Blick ansehen. Die Skepsis gegenüber der Transparenz von Oberflächen und der leichten Durchschaubarkeit von Menschen und ihren Motiven bedeutet bei van Sant jedoch nicht eine Absage an den Blick und die Erkenntnis schlechthin. Elephant ist eine Einladung an den Zuschauer, das Urteil hinauszuzögern, genauer hinzuzusehen, zu vergleichen, anteilzunehmen.

Der Film ist auch ein Einladung, genauer hinzuhören. Neben klassischen Klavierstücken von Beethoven dominieren mit Türen der Wahrnehmung und Beneath the Forest Floor zwei Soundscapes von Hildegard Westerkamp die Tonspur. Schon die Titel bezeichnen das Programm des Films ingesamt, dass Misstrauen gegenüber der Oberfläche und einseitiger Wahrnehmung, die Einladung zum Perspektivenwechsel und zur Fokussierung der Sinne. Westerkamps Kompositionen (van Sant verwendet sie auch in Last Days) funktionieren als Kontrapunkt, etwa wenn nach dem Massaker Waldgeräusche den Gang eines Überlebenden durch die Flure begleiten (mehr dazu hier). Die Bilder werden nicht musikalisch auf eine Bedeutung hin eingeschworen, sondern durch den Klangraum mit Dingen und Situationen in Verbindung gebracht, die den Zuschauer zum Assoziieren einladen.

Akustische Wolkenschau, Erkenntnis neuer Zusammenhänge, Distanzierung, genauer Blick aus neuer Perspektive – "Türen der Wahrnehmung: a door opens and we enter another sound world. A new sonic space surrounds us and we listen. More and more doors open and we do not know what will meet us. Our ears are alerted. Radio can open many doors to new (and old) sound worlds. The creaking door of a radio drama takes us into a haunted place, a closet door perhaps into Lewis' Narnia, another door leads us into the wilderness, yet another to the train station, into the streets, near a creek, to another continent, or simply into the world of acoustic imagination." (Hildegard Westerkamp zu Türen der Wahrnehmung)

Hier ein angemessen multiperspektivischer Zugang zum Film: Ludger Blanke, Anna Faroqhi, Volker Pantenburg und Stefan Pethke sprechen über Elephant (hier habe ich auch das obige Foto von Michelle kopiert)

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