07 August 2008

Pomp & Langeweile


Kein Weg raus aus Datong: Unknown Pleasures von Jia Zhang-ke

An eine Szene aus Jia Zhang-kes Film Unknown Pleasures (2002) erinnere ich mich gut: Die beiden 19-jährigen Drifter Bin Bin und Xiao Ji befinden sich auf einem ihrer Streifzüge durch die Provinzstadt Datong, auf der Suche nach Zigaretten, Mädchen und ein kleines bisschen Action. An diesem Abend scheint etwas Besonderes los zu sein, die Menschen stehen in großen Gruppen vor Fernsehern, unterhalten sich aufgeregt, schwenken Fahnen und warten. Bin Bin und Xiao Ji bewegen sich durch die immer größer werdende Menge, gehen von Gruppe zu Gruppe, ohne stehen zu bleiben. Plötzlich geht ein Raunen und ein Schreien durch die Masse, die Fahnen werden geschwenkt, Menschen umarmen sich. Bin Bin und Xiao Ji bleiben unbeteiligt, schauen nicht zum Fernseher, zünden sich noch eine an, gehen weiter. Soeben ist verkündet worden, dass die Olympischen Spiele 2008 in Peking stattfinden werden. Ein weiterer scheißlangweiliger Abend in Datong.

Wenn morgen (8.8.) um 14 Uhr unserer Zeit die unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen vorbereitete Eröffnungsfeier der Olympiade beginnt, ist es mal wieder an der Zeit, sich eine Zigarette anzuzünden und woanders hinzusehen. Denn wie das aussehen wird, wenn Tausende schlecht bezahlter chinesischer Statisten sich unter der Regie von Zhang Yimou zu einem bunten Massen-Ornament fügen, konnte man ja schon gut am Finale seines letzten Historien-Epos Der Fluch der goldenen Blume bewundern. Das letzte Drittel dieses Films ist für mich der Gipfelpunkt einer Entwicklung hin zu einer zunehmend unhistorischen und entkörperlichten Ästhetik, die mit Hero und House of Flying Daggers begonnen hat.

Zu Hero (2002)


Schon Zhang Yimous erster Ausflug ins Martial-Arts-Genre kreist um ein zentrales Thema, das in den beiden Nachfolge-Filmen immer mehr an Bedeutung gewinnt: die Überwindung körperlicher Gewalt und überhaupt aller Kontamination durch die Materie. Schwertkampf wird durchgehend als eine geistige Disziplin inszeniert, deren höchste Vollendung der Verzicht aufs Schwert ist. Der zentrale Held Nameless (Jet Li) erläutert dieses Prinzip bei seinem ersten Kampf gegen den Attentäter Sky (Donnie Yen): Antizipation ist alles, die Bewegungen des Körpers sind nur noch ein Nachhall eines längst im Kopf ausgefochtenen Kampfes.

Die Gestaltung und Choreografie der Kampfszenen in Hero orientiert sich deshalb auch weniger an der Dynamik und Körperlichkeit klassischer Kung-Fu-Filme als an Kalligrafie und chinesischer Landschaftsmalerei. Jede der drei Perspektiven, aus denen das Geschehen geschildert wird, ist eine der Farben Rot, Weiß und Blau zugeordnet. Diese symbolische Farbpalette dominiert nicht nur die Kostüme, sondern auch die Schauplätze, die in ganz China verteilt sind: karge Einöden, goldgelb leuchtende Eichenwälder, ein blauer See, auf dem ein Wasserballett stattfindet.

Zhang Yimou und seinem Team (Kamera: Christopher Doyle, Choreografie: Ching Siu-tung) sind bei ihrer Suche nach einer "Transzendenz des Schwertes" atemberaubende Szenen gelungen. Herausragend ist die Belagerung einer Kalligrafie-Schule durch Bogenschützen: Während im Inneren der Meister den Schülern erklärt, was Kalligrafie und Schwertkunst gemeinsam haben, fischen Nameless und Flying Snow (Maggie Cheung) auf dem Dach die Pfeile aus der Luft, die aus düsteren Wolken auf das Gebäude herabregnen. Und im Laufe eines Kampfes auf einem See, den Nameless und Broken Sword (Tony Leung Chiu-wai) um einen Pavillon aufführen, im dem Flying Snow aufgebahrt ist, werden Wassertropfen zu Geschossen, aus einem tödlichen Zweikampf ein von Trauer erfüllter Totentanz.

Erzählt wird das Geschehen in Rückblenden, oder vielmehr: in verschiedenen dem Kaiser Qin von Nameless vorgetragenen Versionen einer Geschichte, die davon handeln, wie Nameless die drei Attentäter Broken Sword, Flying Snow und Sky beseitigt hat. Diese an Kurosawas Rashomon erinnernde narrative Struktur, die dem Zweifel über das wahre Geschehen, über Sieger und Verlierer, über den Gang der Geschichte Tür und Tor öffnet, hat mich die Vorwürfe gegenüber Hero, dass er die zentrale Macht des Kaiser (oder der KP) affirmiert, immer für wenig überzeugend halten lassen. Thema des Films ist für mich nicht die zentralisierte Macht und ihre Rechtfertigung, sondern die Entsagung , das Heldendasein ohne Kampf, der Verzicht auf historische Wirkkraft, sogar auf einen Namen. Ich glaube Zhang Yimou seine im Interview geäußerte Überraschung über die Kontroversen, die der Film vor allem in China hervorgerufen hat. Aber wie seine beiden folgenden Filme zeigen, gibt es auch einen Zusammenhang zwischen einer Ästhetik, die zur Überwindung von Körper und Geschichte strebt, und der Frage nach der Macht.

Zu House of Flying Daggers (2004)


In seinem zweiten Martial-Arts-Film führt Yimou das ästhetische Prinzip von Hero konsequent fort: die Verbindung von visueller Opulenz und erzählerischem Minimalismus. Wiederum sind die Loyalitäten ständig in Bewegung, und der Kampf ist nur eine Ausdrucksform für Emotionen und Begehren. Die Überwindung der körperlichen Aspekte des Kampfes durch geistige Disziplin treibt House of Flying Daggers durch den Einsatz fliegender Waffen auf die Spitze. Ohne Ende sausen Messer, angespitzte Bambusstäbe, Pfeile und Reiskörner als Medien des mentalen Kräftemessens durch die Luft, was den Körpern erlaubt, auf Distanz zu bleiben.

Dank der gewohnt brillanten Choreografie von Ching Siu-tung sind spektakuläre Sequenzen entstanden, doch die vielen Einstellungen fliegender Projektile sorgen bald schon für Beliebigkeit. Den Körpern der Kämpfenden scheinen sie ebenso wenig zu schulden wie physikalischen Gesetzen, und schon bald fragt man sich: Warum zaubern die sich nicht einfach mit einem Fingerschnipsen tot? Ebenso unsexy weil unkörperlich sind die Liebesszenen, die man am besten als bekleidetes Gewälze bezeichnen könnte. Auch hier gilt das Gesetz der Abstraktion von all den unsauberen Schweinigeleien der Materie, sogar der Tod selbst wird schließlich dem melodramatischen Ende des Films geopfert.

Die Beliebigkeit erfasst schon bald auch die drei Figuren selbst, die, nachdem das letzlich doch nicht sehr große Reservoir der Enthüllungen erschöpft ist, ihr Schicksal bis zum bitteren Ende ausagieren müssen. Für die einzige Abwechslung sorgen da nur noch exqusit ausgesuchte und liebevoll verschönerte Hintergründe, mal wogende Kornfelder, meist leuchtende Herbstwälder. Den Location-Scouts und Laubbemalern ist jedenfalls kein Vorwurf zu machen.

Über Der Fluch der goldenen Blume (2006)


Da helfen die besten Feng-Shui-Berater nichts: Die chinesischen Königspaläste des 10. Jahrhunderts sind einfach zu groß für ein harmonisches Familienleben. Kilometerlange Bahnen edelster Auslegware, feinstziselierte Intarsienarbeiten aus Sandelholz und Tausende wallender Vorhänge in Purpurrot können nichts daran ändern: Die Gemächer vom König, der Königin und ihren Söhnen liegen zu weit auseinander. Um Zwistigkeiten zu klären, müssen die Familienmitglieder mit ihren Entouragen das halbe Schloss durchqueren, statt Vier-Augen-Gesprächen gibt es meist öffentliche Audienzen. Da bleibt man doch lieber in seinem eigenen Winkel und spinnt Intrigen.

Eines macht Zhang Yimous Film unmissverständlich klar: Nicht Könige machen Architektur, sondern Architektur macht Könige. Ob die vielen langen Kamerafahrten durch die reich geschmückten Gänge des Palastes oder die symmetrischen Außenaufnahmen vom Schloss, in allen Einstellungen kommt eine Ordnung zum Ausdruck, die König Ping (Chow Yun-fat) um jeden Preis zu wahren trachtet. Da ihm die größte Gefahr von seiner Frau Phoenix (Gong Li) droht, die eine Affäre mit ihrem Stiefsohn begonnen hat und Umsturzpläne schmiedet, greift Ping zum ältesten Eheproblembeseitigungsmittel der Welt: Gift.

Wer nach Hero und House of Flying Daggers ein weiteres Martial-Arts-Epos erwartet hat, wird enttäuscht: Zwar gibt es einige Kampfsequenzen, aber die Hauptkonfrontation ist diesmal eine unkörperliche: zwischen dem erstarrtem Machtgepränge des Königs und den hysterischen Ausbruchversuchen der Königin, zwischen historischem Epos und melodramatischem Ehekrieg, zwischen ornamentalem Figurenreigen und einem mimischen Overacting, deren amtierende Weltmeisterin Gong Li ist.

Der Gewinner dieses Kampfes ist eindeutig der leere Pomp. Zu vage bleiben die Motivationen der Königin und ihrer Söhne, zu exaltiert sind ihre Gesten und Pläne, um eine Chance zu haben gegen die kalte Logik der Macht und ihrer Ausdrucksformen, denen dieser Film vor allem in seinem letzten Drittel verfallen ist. Spätestens wenn im Finale Blumen- und Menschenheere gegeneinander wogen, geht dem Film das letzte bisschen inszenatorische Esprit flöten, aber immerhin kriegt man eine Vorstellung davon, wie die Auftakt- und Abschlusszeremonien der Olympiade in Peking aussehen werden.

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