Der Blick eines oder mehrerer Protagonisten direkt in die Kamera kann verschiedene Bedeutungen haben. Anhand der bisher in diesem Blog vorgestellten Beispiele lassen sich vier verschiedene Arten des Blicks zurück ausmachen, die sich teilweise überschneiden:
1) Blick zurück Nr. 1 gilt der Kamera und/oder dem Kameramann, der sich dahinter versteckt oder auch zu erkennen gibt. Man selbst kennt diesen Blick von Urlaubsreisen, wenn man mit seiner Kamera die Einwohner oder andere Touristen ungefragt zum Teil der eigenen Familien-Bild-Historie machen möchte. Neben bösen Blicken gibt es auch die koketten Blickwechsel, den der Erzähler von Chris Markers Sans Soleil auf den Kapverden begegnet. Doch hier beginnt schon die Interpretation, denn hinter dem Lächeln der schönen Frauen kann sich auch ein Ärger, eine Scham oder eine Scheu verbergen, die nicht sichtbar wird.
2) Auch der Blick zurück Nr. 2 taxiert die Kamera, doch in ihm steckt zugleich die Ahnung oder der Willen, mit dem Publikum direkt zu kommunizieren. Das Ende von Wollis Paradies lässt vermuten, dass diese intime Wirkung vor allem etwas mit der Länge und der Nähe der Einstellung zu tun hat. Man hat den Eindruck, dass sich der Blick von Wolfgang Köhler langsam durch den technischen Apparat durchfrisst und einen schließlich ganz direkt anblickt. Wichtig ist vielleicht auch, dass man zu diesem Zeitpunkt den Protagonisten schon sehr gut zu kennen glaubt und in seinem Blick eine ganz persönliche Bedeutung zu erkennen meint.
3) Der Blick zurück Nr. 3 richtet sich nicht auf die Außenwelt, sondern schaut nach innen. Dieser Blick ist zwar auch direkt nach vorn gerichtet, aber die Figur scheint entrückt, ihre Augen sind starr, undurchdringlich oder, wie im Fall von Lee Chang-dongs Secret Sunshine, vollkommen fremd.
4) Die vierte Art des Blicks zurück ist die häufigste: Der Protagonist schaut weder nach innen noch heraus aus dem fiktionalen Rahmen, sondern auf eine Sache oder eine Person, deren Position von der Kamera eingenommen wird. Diese Konstellation findet sich oft bei Schuss-Gegenschuss-Dialogszenen, wenn die Kamera die Position eines Gesprächspartners einnimmt. Diese Form des Blicks zurück lässt sich, vielleicht gerade weil sie so geläufig wirkt, am wirkungsvollsten für andere Zwecke nutzen. Ein gutes Beispiel für die damit erreichbare Subversion des Verhältnisses von Zuschauer, Kamera und Protagonist findet sich am Ende von Jia Zhang-kes Debütfilm Xiao Wu. Der Taschendieb Xiao Wu, Hauptfigur des Films, ist von einem Polizisten festgenommen und mit Handschellen an einen Pfahl auf offener Straße festgemacht worden. Zuerst beobachtet die Kamera Xiao Wu von außen, wie er sich hinkniet und klein zu machen versucht vor den Blicken einer langsam größer werdenden Menschenmenge. Mit einem kleinen Schwenk dreht sich schließlich die Blickrichtung um 180 Grad, und wir sehen jetzt aus der Perspektive Xiao Wus auf die starrenden Passanten, deren Blick wir gerade selbst noch eingenommen haben. Die Situation wird beunruhigender, je länger sie dauert. Wen starren die Passanten an? Xiao Wu, dessen Position die Kamera eingenommen hat? Oder vielleicht die Kamera, die dort in den Straßen von Fenyang auf sie gerichtet ist? Oder sogar uns selbst, die nichts anderes tun können, als verständnislos zurückzustarren? Und wo ist Xiao Wu selbst geblieben? Die Aufstellung der Kamera hat ihn zum Verschwinden gebracht, und gleichzeitig nehmen wir intensiver Anteil an ihm als die gesamte Zeit vorher, in der er in fast jeder Einstellung zu sehen war. Es ist fast so, als ob wir, die Zuschauer, die einzigen sind, die Xiao Wu vorm endgültigen Verschwinden zwischen den Mühlen der Bürokratie und der Schaulust einer passiven Menge bewahren können.
Zur Illustration der Schlussszene von Xiao Wu hätte ich hier gerne eine Einstellung aus dem Film veröffentlicht, aber leider habe ich keine DVD Frame Capture Software für den Mac. Über Tipps, wo man sich so etwas umsonst herunterladen kann, wäre ich dankbar.
1 Kommentar:
Zur Frage nach Framecapturesoftware: Ich benutze dafür meist den VLC-Player. http://www.videolan.org/
Und, übrigens: Vielen Dank für die schönen Texte.
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