oder: "Wo bist du gewesen?" – "Im Kino ..."
Bei den Eifel-Lichtspielen in Gemünd handelt es sich wohl um das, was man in der großen Stadt hochnäsig Provinzkino nennen würde. Wenn ich darüber nachdenke, erscheint mir der Begriff zunächst jedoch zumindest schwierig, denn ein Unternehmen, das Kino in die sogenannte Provinz bringt, leistet einen unschätzbaren Dienst. Für mein Wortverständnis wohnt dem Begriff "Provinzkino" zu sehr die Nuance "provinzielles Kino" inne, treffender wäre die Bezeichnung "Kino in der Provinz".
Dass Kinos in der Provinz alles andere als provinziell sein können, sei einmal angenommen, dennoch will ich die Existenz von provinziellen Kinos in der Provinz auch nicht abstreiten. Der Ausdruck "Provinzkino", wie man ihn nun dreht oder wendet, löst bei mir primär zwei Assoziationen bzw. Gedankengänge aus. Zum einen denke ich daran, dass ein Kino die Provinz kulturell bereichert; man bietet als Betreiber oftmals ganzen Einzugsgebieten die einzige Möglichkeit, Filme auf der Leinwand zu betrachten und man stellt den letzten Halm für Cinephile dar, die das Leben in der Großstadt nicht mögen. Zum anderen fühle ich mich an die fahrenden Kinos erinnert, ein Stück Kulturgut zu DDR-Zeiten, das nun ausgestorben ist. Einige Sammler, wie Herr W. aus D., mit dem ich neulich zu telefonieren das große Vergnügen hatte, bewahren der Nachwelt Originalbestände der hierzu verwendeten Gerätschaften wie Projektor und Leinwand, im Falle des Herrn W. aus NVA-Beständen erworben, oder eher erhalten und zweckentfremdet. Diese Art kulturellen Stellenwerts und Bewusstseins schlägt sich in unserem Fall sicht- und hörbar im Namen des Theaters nieder: "Eifel-Lichtspiele". Lichtspiele, dieses Wort allein sorgt für Begeisterung, Träume, Schwelgerei und Wohlgefühl. Kann es ein schöneres Wort für das Kino geben, kann es denn überhaupt etwas Schöneres geben, als "mit Licht zu spielen"?
Sei’s drum, genug der Nostalgie. Auch wenn es die Eifel-Lichtspiele noch gibt, ihre Programmpolitik dürfte sich geändert haben. Folgende Programmankündigung, die, stilvoll in einer Zeitung gefunden, zwischen Schellackplatten auf dem Dachboden eines betagteren Familienmitgliedes, weist eine Besonderheit auf, die von historischem Wert ist:
Jeden Freitag, Samstag und Sonntag wurde in der Eifel mit Rotlicht gespielt. Besonders neckisch finde ich, dass die geheimnisvolle Ankündigung "Sexfilm f. Erwachsene" in Anführungsstriche gesetzt wurde. Das lässt der Fantasie freien Lauf. Ein augenzwinkerndes "Ihr wisst schon ...", ein Kompromiss zugunsten der Familienkompatibilität des örtlichen Käseblattes oder einfach nur ganz pragmatisch eine Leerstelle, da man nie wusste, welcher Kopie man bis zum nächsten Wochenende würde habhaft werden können. Was für Filme waren das? Waren das 16mm- oder gar 35mm-Kopien? Waren die legendären Reels dabei? Waren Klassiker des Porno-Chic-Kanons wie Deep Throat, Behind the Green Door oder The Opening of Misty Beethoven darunter? Oder handelte es sich ausschließlich um schmuddelige Dutzendware, nach der eh kein Hahn krähte, Hauptsache, es war dreckig?
Weitere Fragen drängen sich geradezu auf: Wer hat die Wochenendabende gestaltet? Gab es eine Programmplanung, war der Inhalt dieser Programme überhaupt jemandem wichtig? Welches Publikum zogen diese Vorstellungen an? Waren es Menschen aus dem Dorf, oder suchte man sich für derlei Vergnügungen aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit, dem Pfarrer zu begegnen, einen Veranstaltungsort etwas ferner der Heimat, sodass es allwöchentlich zu einer sexfilmbedingten Kreismigration innerhalb angrenzender Gemeinden gekommen ist?
Diese Art von Programmgestaltung existiert heute nicht mehr. Leider liegt das Erscheinungsdatum der Programmankündigung und auch die Quelle, sprich, die Zeitung, in der sie erschienen ist, nicht mehr vor. Das Erscheinungsjahr des Hauptfilms House aber war 1986, die Ankündigung erwähnt sogar das legendäre Festival International du Film Fantastique d'Avoriaz, bei dem House in jenem Jahr mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet wurde. Dieses Festival war eines der größten, bekanntesten und sagenhaftesten Festivals für den fantastischen Film und bestand von 1973, in dem Spielbergs Duel den Großen Preis gewann, bis 1993, als Peter Jacksons Braindead ausgezeichnet wurde. Irgendwie vielsagend, dass eines der größten und wichtigsten Fantasy-Filmfestivals nach Braindead die Tore schließt, hatten wir doch alle damals das Gefühl, dass jetzt eh nichts Neues mehr kommen kann. 1994 aber bereits trat das Festival Fantastic'Arts oder Festival du Film Fantastique Gérardmer die Nachfolge an; in diesem Jahr konnte Yus Jiang-Hu den Großen Preis einstreichen. Gehen wir also davon aus, dass wir unseren Zeitungsausschnitt entweder auf das Jahr 1987 datieren können, da die Eifel-Lichtspiele wahrscheinlich die Kopien nach Avoriaz erhalten haben, oder vielleicht doch bereits auf das Jahr 1986, da das Festival in Avoriaz stets im Januar stattfand und der bundesdeutsche Start April 1986 gewesen ist.
In jener Zeit Mitte der 1980er Jahre war diese Programmkonzeption durchaus verbreitet. Ich erinnere mich an allein drei Theater, die ein ähnliches Prinzip verfolgten: zwei davon waren sogenannte Provinzkinos, eines davon auf der Insel Föhr, eigentlich ein Gemeindesaal, der zum Anlass einer Filmvorführung mit Stuhlreihen versehen wurde und in dem ich Donald-Duck-Filme und 20.000 Meilen unter dem Meer gesehen habe, der aber auch erotische Filme im Programm hatte, die aber dem Softcore-Genre in Stil von Emanuelle zuzurechnen waren. Hier gab es außerdem namentliche Ankündigungen der einzelnen Filme, Plakate und Lobbycards, was das Ganze zwar nicht uninteressanter, aber wesentlich weniger geheimnisvoll gemacht hat.
Ganz anders Beispiel Nummer zwei: ein Raucherkino mit Tischbedienung (man konnte auf ein Knöpfchen drücken, dann huschte leise während der Filmaufführung die Bedienung herbei), in dem immer freitags spätabends ein Film namens "Hardcore" gezeigt wurde. In diesem Kino habe ich Terence-Hill-Filme genießen dürfen, nebenbei habe ich aber auch gelernt, dass der Freitagabend eben eher einem Genre als einem einzigen Film gewidmet war. Die gleiche Fragestellung wie oben: Was für Filme? Und gab es dann auch Tischbedienung? Die Schichten am Freitagabend waren wahrscheinlich nicht besonders beliebt.
Letztes Beispiel aus meiner Erinnerung: das Kino-Center in Hamburg. Gegenüber dem Hamburger Hauptbahnhof Richtung Spitaler Straße in den Räumen ansässig, in denen meines Wissens jetzt ein Fitness-Center residiert, hatte dieses Kino mehrere Säle, katakombenartige Flure und Gänge, mehrere Zugänge von der Straße, je nachdem, welchen Film man sehen wollte, und äußerst lasche Alterskontrollen. Bis Mitte der 1980er Jahre war ein Saal stets für den "Sexfilm f. Erwachsene" reserviert. Diese Kino-Center-Variante, so eindrucksvoll sie als Kind für mich gewesen ist, fällt dennoch etwas aus dem Rahmen, auch wenn selbst diese etwas mondänere Verion heute ebenso undenkbar ist wie der Wochendknaller in der Eifel. Dick Carpenters The Fuck, Freitagabend im Cinemaxx 5? Vergessen Sie's!
Womit wir beim ökonomischen Aspekt des Themas sind: Rechnet man die Aufführungen in den Eifel-Lichtspielen in der Woche vom 17.7. bis 23.7.1986 oder 1987 zusammen, kommt man auf neun Termine House und auf drei Termine "Sexfilm f. Erwachsene". Daraus ergibt sich ein 25%iger Anteil pornografischen Materials im Programm des Kinos. Bedenkt man die Platzierung im Programmplan, es handelt sich um alle Spätvorstellungen am Wochenende, kann man diese 25% auf gefühlte 30% bis 35% aufstocken. Wenn es sich also im Juli 1986 oder 1987 nicht um ein einmaliges einwöchiges Experiment gehandelt hat, kann man mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit behaupten, dass der mysteriöse "Sexfilm f. Erwachsene" ein sehr lukratives Geschäft gewesen ist. Sollte die Rechnung stimmen, hat dieser Programmplatz sogar einen großen Teil der Einnahmen gesichert. Kann man so weit gehen, zu behaupten, der Anteil an erotischen Programmen hat die Existenzgrundlage von Kinos in der Provinz dargestellt?
Der aufkommende Video-Boom in den 1980er Jahren dürfte diese Lichtspieltheater somit doppelt schwer getroffen haben. Umso erfreuter war ich, als ich feststellte, dass die Eifel-Lichtspiele in Gemünd immer noch betrieben werden. Ohne ein einziges Mal dort gewesen zu sein, und vermutlich auch ohne jemals dorthin zu gehen, um mir einen Film anzuschauen, wünsche ich den Betreibern alles Gute für die Zukunft und danke Ihnen stellvertretend für alle Kinomacher außerhalb der größeren Städte für ihren Einsatz und Ihren Geschäftssinn. Wenn es sie nicht gäbe, wäre die Provinz ohne Kinokultur. Chapeau!
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