02 April 2009

"Schade drum"

Kinder. Wie die Zeit vergeht, Thomas Heises dritter Film über Menschen und Orte in Halle-Neustadt, ist soeben auf DVD erschienen. Hier kann man ihn bestellen.

"Schade drum." Jeanette präsentiert gerade Bilder ihrer Kinder. Paul ist damals drei, "ein ganz Lieber", wie die Mutter sagt, "den krieg ich noch hin". Und dann ist da noch Tommy. "Das ist ein ganz Frecher, der hat vor niemandem Respekt." Jeanette schaut lange auf das Bild von ihrem Ältesten, bevor sie den Blick hebt. "Schade drum." Tommy ist damals acht Jahre alt.

The kid is alright: Tommy mit 15

Dass Thomas Heise diese schon in Neustadt (2000) verwendete Szene in Kinder. Wie die Zeit vergeht noch einmal benutzt, hat zum einen etwas mit der von ihm selbst so genannten Methode der "Übermalung" zu tun, die darin besteht, sein Filmmaterial immer wieder neu zu befragen und zu montieren, um neue Aspekte in den Vordergrund zu rücken und andere zu überdecken. Zum anderen führt diese Sequenz, in der eine Mutter einen Sohn aufgibt, exemplarisch und in aller Deutlichkeit vor Augen, worum es in Heises mittlerweile zur Trilogie herangereiften Langzeitbeobachtung des Lebens im sachsen-anhaltinischen Halle-Neustadt immer auch ging: um die Auf- und Preisgabe von Menschen, Industrien, Familien, Städten und die Dinge, die an ihre Stelle treten.

Dabei hat sich der Fokus zunehmend von den aufgegebenen Jugendlichen zu den desolaten gesellschaftlichen und städtebaulichen Hintergründen verschoben, vor denen sie sich bewegen. War Stau (1992) das genaue Porträt einer Gruppe junger Neonazis, die vor der Kamera viel Raum für Selbsterklärungen hatten, richtete Thomas Heise in Neustadt (2000) sein Interesse weitgehend auf die spezifischen familiären Verhältnisse der Familie von Jeanette, die als einziges Mädchen unter vier Brüdern aufwuchs und mit 15 schwanger wurde. Kinder. Wie die Zeit vergeht erzählt die Familiengeschichte fort, indem er sich auf den mittlerweile 15-jährigen Tommy konzentriert, und zugleich weitet er den Blick auf den konkreten Ort, von dem er handelt. Der Film beginnt mit einer langen Kamerafahrt entlang des riesigen, menschenleeren Leuna-Geländes, das in der Dämmerung kalt, fern und schön wie eine Mondbasis leuchtet. In dem in Schwarz-Weiß gedrehten Film finden sich viele solcher Einstellungen von städtischen Brachen, Wohnsilos, Abrissarealen und Industrieanlagen, die die Region zugleich ästhetisieren und als unbewohnbaren Ort zeigen.

Das brennende Herz von Halle/Neustadt: Leuna-Gelände

Vor diesem un-heimlichen Hintergrund treten die Konturen der gesellschaftlichen Verhältnisse umso deutlicher hervor, ohne anbiedernde Erklärungsmuster entsteht das Panorama einer abgekoppelten Welt, deren Schicksal vor allem die Jugendlichen teilen. Tommy ist gerade in eine Schule für Schwererziehbare gekommen, "seine letzte Chance", wie die Erwachsenen den ganzen Film hindurch beteuern. Sein bester Freund ist Tino, ein 23-jähriger Rechtsradikaler, der Bruce Lee über dem Bett hängen hat, es für falsch hält, die Menschen unterschiedlicher Länder miteinander zu vermischen und beim Italiener Pasta futtert.

Heise bietet viele solcher ganz unaufdringlicher Momente, in denen die Blindheit einzelner Protagonisten sichtbar wird. Vor allem schockiert die Kurzsichtigkeit der Erwachsenen, die das Sinn-Vakuum, das die männlichen Heranwachsenden häufig mit rechtsradikalen Ideologien füllen, immer auch selbst mitproduzieren. Seien es nun die Mütter, die ihre Söhne vernachlässigen, oder Lehrerinnen wie die von Tommys Bruder Paul, die bei der Zeugnisvergabe ein halbes Jahr vor Ende der Grundschulzeit wie eine Schicksalsgöttin durch die Klasse stapft: "Na, wo stecken wir dich denn hin?" Wieder ein paar Kids mehr, von denen es später heißt: Schade drum.

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Im Rahmen der 6. Hamburger Dokumentarfilmwoche läuft Thomas Heises neuer Film Material am Sonntag, den 26. April, um 19 Uhr im Metropolis-Kino. Thomas Heise wird als Gast erwartet.



"Man kann sich die Geschichte länglich denken.
Sie ist aber ein Haufen." (Thomas Heise)

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