18 August 2009

Aus dem Scheißhaufen der Geschichte

Ich will jetzt nicht sagen, in der Scheiße ist’s gemütlich, obwohl ich eine Geschichte kenne von einem Kanalisationsarbeiter aus Halle an der Saale, der davon geschwärmt hat, wie schön es ist, in der Scheiße zu arbeiten, im Winter warm, im Sommer kühl. Aber man kann lange drin herumwühlen und Entdeckungen machen. Das hat damit zu tun, dass Dinge, die vergangen sind, versunken, immer noch da sind. (Dieses und folgende Zitate: Thomas Heise im taz-Interview)
In dem schönen Interview, das heute in der taz erschienen ist, erinnert Thomas Heise noch einmal an die Bedeutung der Ereignisse, die vor 20 Jahren zu Mauerfall und Wiedervereinigung geführt haben. Nicht darum ging es, dass Zonen-Gabi endlich in ihre erste Banane beißen konnte, sondern um den letzten potenziell revolutionären Moment der deutschen Geschichte. Dieser ist mittlerweile verschüttet unter einem riesigen Haufen Bilder und Worte. Heises Film Material ist der Versuch, aus diesem Haufen utopische Partikel der demokratischen Partizipation und des Umsturzes zu bergen.
Die Maueröffnung hat in der Dynamik damals dann dazu geführt, dass die Köpfe mit Produkten beschäftigt wurden, nicht mehr mit Ideen. Die wachen Gesichter vom 4. November habe ich danach nicht mehr gesehen. Ein Familienvater in Halle hat die Geschichte so beschrieben: "Die Wohnung wird immer voller, und im Kopf immer weniger. Und ich weiß immer weniger, warum." Das ist so ein Punkt. Auch die Fernseher, in denen nichts zu sehen ist, werden immer größer.
Die Ideen, über die damals auf den Straßen der DDR verhandelt wurden, macht Heise vor allem in Momenten der öffentlichen Rede sichtbar. Bürger treten heraus aus ihrem privaten Bereich und ihrer beruflichen Funktion und sprechen zum ersten Mal in ihrem Leben vor vielen anderen über ihre Hoffnungen, ihre Ängste und den Staat, den sie sich wünschen. Sichtbar und hörbar werden Momente der Neuverortung des Menschen in Bezug auf das soziale Ganze, Teilhabe wird eingefordert. Spannend ist es zum Beispiel zu verfolgen, wie bei einer Kundgebung, bei der den DDR-Bürgern Egon Krenz als Retter in letzter Not präsentiert werden soll, den SED-Vertretern langsam die rhetorische Hoheit über das Ereignis entgleitet. Immer mehr Menschen treten vor die Mikros und stellen ihre Forderungen, werden zu Subjekten der Geschichte, wenn auch nur für einen kurzen Moment.
Es geht darum, wieder zu lernen, ein Bild zu sehen und dann zu fragen: Was ist das, was ich da sehe? Was geschieht dort? Wenn nach einer Zehntelsekunde alles zugeordnet, mit Etiketten versehen, bewertet, abgehakt und damit vergessen ist, kann kein Denken mehr stattfinden. Erstmal gucken.
Auch in den Szenen aus dem Deutschen Theater, wo der Regisseur Fritz Marquardt mit Mitarbeitern das Heiner-Müller-Stück Germania Tod in Berlin vorbereitet, geht es um das Sprechen oder auch um das Hinauszögern von Sprache und Etikettierung, wenn die richtigen Worte noch nicht gefunden sind. Die Suche nach einer nicht autoritären Ansprache des Publikums wird sichtbar im Ringen um ein nichthierarchisches Verhältnis von Bühnen- und Zuschauerraum. Schön auch die wiederholte Aufforderung Müllers an eine Schauspielerin, das Wort "König" ohne Intonationssteigerung auszusprechen, ohne eingebauten Bückling also.
Ein Interview kann leicht zum Verhör werden. Oder man muss ständig irgendwelche Missverständnisse korrigieren. Gestern hat jemand mit mir geredet – ich weiß schon wieder nicht mehr, wer –, und es ging um eine Sequenz aus Material: "Man kann sich die Geschichte länglich denken. Sie ist aber ein Haufen." Da heißt es dann: Sie haben gesagt, man soll die Geschichte nicht als Linie sehen, sondern als Haufen. Das habe ich natürlich nicht gesagt. Das ist wie bei stiller Post. Lebensgefährlich.
Sprechen ist immer eine ambivalente Angelegenheit. Das, was die Subjekte äußern, ist das Material der Geschichte, noch nicht ihr letzter Sinn. In den Szenen aus der Justizvollzugsanstalt Berlin-Brandenburg treten Gefängnisbeamte vor die Kamera und sprechen vom schweren Dienst der Umerziehung und Verwahrung, den sie jahrelang ohne Anerkennung und für geringen Lohn getan haben, und die nun fürchten, an den Pranger gestellt zu werden. Danach plädieren Inhaftierte für die Ausweitung einer Amnestie, üben sich rhetorisch in Reue, wollen aber auch ihr Stück vom Kuchen der allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen haben. Es geht nicht darum, sofort Gegenpositionen zum Gesagten zu beziehen, sondern erst mal zuzuhören. Es bleibt ein großes Staunen darüber, dass es in der jüngeren deutschen Geschichte einen Moment gab, wo die Menschen auf die Straßen gingen, vor die Mikrofone drängten und nach Worten suchten, die nicht nur ihnen selbst eine Form gabe, sondern auch der Welt, in der sie leben wollten. Was für eine schöne Utopie. Kurze Zeit später fiel die Mauer, die West-Kaufhäuser wurden gestürmt, und es kehrte wieder Ruhe ein im Land.
Das Erste, was du lernst in der folgenden Gesellschaft, du musst weggucken, musst dich abschotten, weil nahezu alle Informationen Informationen über Waren sind, die du kaufen sollst. Es geht nicht darum, dass diese Dinge für dich gut sind, es geht darum, dass du sie kaufst. Du als Adressat bist ansonsten ganz uninteressant. Dein Kopf wird zugemüllt mit Werbung, mit Melodien, mit Geschwätz. Es gibt immer mehr Scheiße. Und ich muss mich wehren dagegen, weil ich sonst verblöde. Ich muss mich abschotten nach außen, ich nehme keinen Kontakt mehr zur Umwelt auf, das fällt alles flach. Und das ist eine grundsätzlich andere Lebensform.

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