09 Oktober 2009

Gegen den Tag

Den neuen Film von Christoph Girardet und Matthias Müller, der im Rahmen der Ausstellung Veto in den Hamburger Deichtorhallen gezeigt wird, betritt man auf eigene Gefahr. Wer zu epileptischen Anfängen neigt, so steht es auf einer Plakette am Eingang zu der Black Box, solle aufgrund des mit hoher Frequenz pulsierenden Lichtes Contre-Jour (2009) lieber fern bleiben. Ich betrete den Raum voller Vorfreude, aber auch mit gesenkten Lidern, ein bisschen so wie man die erste steile Steigung einer Achterbahn hinauffährt. Das ist es doch, worauf man im Kino immer auch ein wenig hofft, dass das Geschehen von der Leinwand herab einen nicht nur anrührt, sondern direkt angreift, wie ein Gimmick von William Castle oder wie in dem Pornokino in Kentucky Fried Chicken, in dem Angestellte hinter den Zuschauern stehen und diese begleitend zu den Bildern befummeln. Intercourse statt Immersion. Aber es geht vielleicht auch ohne Mitarbeiter vor der Leinwand. Der Film selbst gewinnt körperliche Macht über den Zuschauer. So wie James Incandenzas Infinite Jest-Film, der so unterhaltsam ist, dass er jedes andere körperliche Bedürfnis ausschaltet. So wie das Endlos-Loop, das Alex (der in Contre-Jour kurz zu sehen ist) im Rahmen der Ludovico-Behandlung in A Clockwork Orange die gewalttätigen Triebe austreiben soll. So wie Contre-Jour selbst, den ich mir auch ansah, um herauszufinden, ob ich Neigungen zu epileptischen Anfällen habe.

"It’s always night, or we wouldn't need light." (Thelonious Monk)

Contre-Jour erinnerte mich an den Titel von Thomas Pynchons vorletztem Roman, dem das Zitat von Thelonius Monk vorangestellt ist und in dem es auch sonst viel um das Licht geht. Auf dem Against the Day Wiki erhält man zu den möglichen Quellen des Titels auch einen Hinweis auf den französischen Ausdruck "Contre-Jour", der ein fotografisches Verfahren bezeichnet, bei dem gegen das Licht aufgenommen wird, sodass die sich zwischen Kamera und Lichtquelle befindlichen Objekte als Silhouetten erscheinen. Contre-Jour ist eine Lichtstudie, ein Screen-Test überforderter, sich zusammenziehender, getrüber, aufgerissener, mit Tropfen gefüllter Pupillen, zu der dank des immer wieder die Dunkelheit durchbrechenden Frontallichtes auch schnell die des Zuschauers gehören. Eine radikale kleine Lektion über das Licht, das die Dinge durch Kontraste, durch Intensitäts- und Perspektivwechsel aus der Dunkelheit erst herausformt, sie zugleich aber in einem Überschuss verschwinden lassen kann in aus Blendung resultierender Blindheit. Erleuchtung und epileptischer Anfall liegen nahe beieinander, was kann man von ein Film mehr erwarten.

Der schwarze Kubus, in dem Contre-Jour als Video-Loop dauerprojiziert wird, befindet sich genau am Scheitelpunkt der Ausstellung. Er unterbricht den durch die hell ausgeleuchteten Deichtorhallen führenden Rundgang des Besuchers mit seiner Licht absorbierenden Schwärze, mit bewegten Bildern inmitten all der Fotografien und mit der schönen Möglichkeit, sich hinzusetzen und auszuruhen im Dunklen, wenn die beiden vorhandenen Hocker nicht gerade besetzt sind. Diese Kontrastierung des Dunklen mit dem Hellen, des Bewegten mit dem Unbewegten, des Passiven mit dem Aktiven schuf für mich einen schönen und plausiblen Kontrapunkt innerhalb der Ausstellung, der auch im Film selbst sich wiederfindet.

Der Übergang vom Ausstellungs- zum Projektionsraum ist für mich immer wie eine Rettung in eine Höhle der Geborgenheit, in der man sicher ist vor den Blicken der gelangweilten Museumswächter. Wie ein Reisender früherer Tage, der sich bei einem Zwischenstopp an einem Bahnhof für ein paar Stunden in ein Kino flüchtet, freut sich man an diesen Bildern ohne Anfang und ohne Ende, durch die man wieder ein wenig zu sich bekommt und zugleich ein wenig verliert. Zugleich ist so eine Black Box, auch darin einem Bahnhofskino ähnlich, ein Ort der körperlichen Annäherung, jederzeit kann sich jemand auf dem Schemel neben einem niederlassen, jemand, von dem man im Dunklen nur die Silhouette sieht. In Rotterdam hat sich mal Tsai Ming-liang neben mich gesetzt und wir haben gemeinsam zehn Minuten von Wang Bings 840-Minuten-Dokumentation Crude Oil gesehen. Ein Freund, mit dem ich mir gestern gemeinsam die Filme von Girardet/Müller angesehen habe, hatte das große Glück, beim Underdox-Festival in München just das Ende und den Anfang dieses Films zu erwischen, eine zehnminütige Einstellung vom Mond und die morgendliche Ankunft der Bohr-Arbeiter in einem Umkleideraum. Hinterher erzählte er mir von der schönen Idee, diesen Film im Dauerloop an seine Wohnzimmerwand zu projizieren, nicht um ihn wie ein Gemälde zu beschauen, sondern um mit ihm zu leben.

Nachdem ich mir in den Deichtorhallen die Videoprojektion eines 35mm-Films angesehen hatte, sah ich hinterher im Metropolis als Erstes sechs für eine Ausstellung als Loops konzipierte Videos auf die große Leinwand projiziert. Es handelte sich um die Phoenix Tapes (1999), in denen Girardet/Müller Material aus 40 Hitchcock-Filmen zu fünf Motiv-Blöcken verdichtet hatten. Der sechste Film bestand aus einer extrem verlangsamten Einstellung von Ingrid Bergman aus Under Capricorn, in der ihre Augen so traumverloren leuchten und eine Träne so hypnotisch die Wange hinab- und wieder hinaufläuft, wie das nur die Lichtsetzung eines Jack Cardiff in dieser Plastizität gestalten konnte.

Wie Christoph Girardet vorab erklärte, waren die Hitchcock-Filme 1998/99, als Girardet/Müller an den Phoenix Tapes arbeiteten, noch kaum in guter Videoqualität zugänglich, gute Abtastungen für DVDs waren rar, und diese mangelnde Qualität sieht man den auf Leinwandgröße aufgeblasenen Bildern Gott sei Dank auch an. Es ist immer wieder spannend, wenn Filme ihr angestammtes Reservat verlassen und einfach mal irgendwo anders hin- oder draufgestrahlt werden, einiges geht dann vielleicht verloren, anderes wird sichtbar. Bei den in ihrer Ikonizität sowieso extrem wirksamen Hitchcock-Einstellungen, die durch die Montage und Reihung ähnlicher Momente noch einmal verstärkt wird, fand ich die Unschärfe und Körnigkeit des Materials ganz passend, die die Sequenzen einerseits Traumbildern ähnlich werden lässt, zu denen sie längst geworden sind, gleichzeitig ihnen aber eine gewisse Eigenheit und Unsauberkeit verleiht, die sie einem auch wieder ein Stück weit fremd werden lassen.

Aus Beacon ist mir noch ein schöner Satz von Mike Hoolboom in Erinnerung: Now we only dream of places. Was heißen soll: In den Filmen von Girardet und Müller gibt es nur noch Schauplätze, aber nichts mehr, was auf ihnen stattfindet. Ihre Werke leben vom Erinnern alter Filme, deren Emotionen und Tragödien in unserem kollektiven Gedächtnis nachklingen, und der Erwartung neuer Dramen, die immer erst dann beginnen, wenn wir den Raum wieder verlassen haben. Vor Mirror, der genauso schön war, wie ich ihn in Erinnerung hatte, lasen Girardet und Müller ein Zitat von Antonioni vor, das ungefähr so ging: Die Räume, die Luft und das Licht, in denen sich Tragödien abspielen, sind oft viel spannender und schöner anzuschauen als diese selbst.

Dass die Arbeit mit Found Footage mittlerweile zu einer schönen Volkskunst geworden ist, kann man an den vielen mit neu montiertem Material gedrehten Filmen bei YouTube sehen. Mir scheint, dass die Praxis, Lieblingssongs neu zu bebildern, dank der Entfernung vieler Original-Videoclips auf YouTube sogar noch zugenommen hat. Wo keine Bilder sind, muss man sich selbst welche schaffen. Was zu dem Gedanken führt, dass die Freigabe aller Texte, Bilder, Töne in die Public Domain nicht unbedingt dazu führen wird, dass alle Menschen von Konsumenten zu kreativen Sample-Künstlern werden.



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Die Ausstellung Veto – Zeitgenössische Positionen in der deutschen Fotografie läuft noch bis zum 15. November in den Deichtorhallen. Beteiligte Künstler: Dörte Eißfeldt, Andreas Gefeller, Christoph Girardet & Matthias Müller, Beate Gütschow, Natalie Ital, Jenny Rosemeyer, Hans-Christian Schink, Andrea Sunder-Plassmann

Alfred Hitchcocks Under Capricorn läuft am Montag, den 12.10., ab 21 Uhr auf Arte

Die Freuden der Projektion auf vollkommen unvorbereitete Hintergründe kann man am Montag, den 12.10., ab 19.10 Uhr erleben. Dann fährt als kleiner Vorgeschmack auf das Radar Filmfestival ein zweigeschossiger Totenschädel vom Hamburger Spielbudenplatz los, von dem aus Filme aus dem Radar-Fundus des letzten Jahres auf Leinwände projiziert werden, "die, bis wir kommen, noch nicht wissen, dass sie Leinwände sind".

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Lieber unbekannter Autor,
Christoph und ich sind glücklich über diese Texte, ebenso Ingo Taubhorn, der Kurator von "Veto". Danke! Ingo überlegt, den Text für den Katalog zu berücksichtigen. Rückmeldung wäre sehr willkommen: mueller.film@t-online.de
Bon weekend, MM