„Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ,so weiter‘ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene. [...] Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.“ (Walter Benjamin, „Zentralpark-Thesen“)Dass in unserer Ära des ressourcenverschlingenden globalen Massenkonsums von Bildern und Energien Katastrophen die Kraft verloren haben, ganze wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche Systeme in eine neue Richtung zu lenken, ist mittlerweile ein alter Hut. In der Arbeit Die Permanente Katastrophe in Theorie und Literatur. Versuch einer Begriffsbestimmung, aus der die obigen Zitate stammen, lässt sich nachlesen, wie schon der expressionistische Dramatiker Georg Kaiser in seinen beiden Denkspielen Gas I (1918) und Gas II (1920) ein alle Menschen instrumentierendes Wirtschaftssystem bis zu einem Ende denkt, das kein Ende mehr kennt. An diesem Ende ist die Katastrophe kein das System infrage stellendes Ereignis mehr, sondern ein weiterer Bilanz-Posten, den die schwarzen Herren des oberen Managements abbuchen, um danach wie zuvor weiterzuproduzieren. Für die Figuren Kaisers ist weder eine Gas-Explosion die wahre Katastrophe noch ein apokalyptischer Krieg, sondern der Stillstand jenes Systems, das allen Menschen ihre Funktion und damit ihren Wert zumisst. Zum Beispiel dem Schreiber, der an einer Stelle von Gas I erklärt: „Der Anspruch der ganzen Welt wird dringend. Der Vorrat ist in nächster Zeit erschöpft. Fehlt Gas--! [...] Sie müssen die Forderung der Arbeiter erfüllen – sonst kommt erst die ungeheuerlichste Katastrophe!“
„Die Katastrophe ist die reinste Form von Ereignis und dabei aber ereignisreicher als das Ereignis. Sie ist das folgenlose Ereignis, das die Welt in der Schwebe hält.“ (Jean Baudrillard, Die fatalen Strategien)
„Die Katastrophe ist ein schwarzes Blatt – Wir buchen sie – und überschlagen die Seite.“ (Die schwarzen Herren in Georg Kaisers Gas I)
Akira ist …
Akira ist ganz diesem katastrophischen Potenzial von Energien gewidmet, an deren Unkontrollierbarkeit nie ein Zweifel gelassen wird. Schon die Motorrad-Verfolgungsjagden durch Neu-Tokio am Anfang des Films beziehen ihren Reiz nicht aus der Narration, sondern dem schmalen Grat zwischen Beherrschbarkeit und Unbeherrschbarkeit einer Maschine. Die letzte Dreiviertelstunde ist dann die Apotheose der permanenten Transformation, für deren Gestaltung das Medium des Zeichentrickfilms wie keine andere Kunstform geeignet ist. Das Innerste der Körper und Welten wird nach außen gekehrt, Neu-Tokio in Schutt und Asche gelegt und ein neuer Kosmos geboren. Für diese Ästhetik explodierender Formen, körperlicher Metamorphosen und in wunderschöne Farben getauchter Zerstörungen fällt mir in der Geschichte des Kinos kein Äquivalent ein. Am Ende steht auf der Leinwand: „Es hat gerade erst begonnen.“In der an Untergangs- und Zerstörungsfantasien reichen Filmhistorie Japans stellt Katsuhiro Otomos Akira wohl die konsequenteste Vision einer Katastrophe in Permanenz dar. „Akira ist … die totale Energie“, ist die einzige Erklärung, die man im Film zu der ominösen Kraft erhält, die sich anscheinend nur in den Körpern von Kindern und Heranwachsenden voll entfalten kann und die die Regierung unter Kontrolle zu bringen trachtet. Man kann das Wort „Akira“ durch alle möglichen über das menschliche Maß hinausgehenden, in der Sphäre des Restrisikos angesiedelten Energieformen und Technologien ersetzen und liegt immer richtig damit. Akira ist Atomkraft, Gas, ein neues Waffensystem, aber es ist auch jenseits der Worte, unkontrollierbar, zerstörerisch und erschaffend zugleich, die reine Transformation.
Während im Fernsehen die Bilder der realen Katastrophe in einer Endlosschleife laufen, verschwinden die Bilder von fiktionalen Katastrophen aus allen Kanälen. Das ZDF ersetzte Jerry Lewis’ The Nutty Professor durch den TV-Film Die Heilerin, in der Schweiz, Österreich und Deutschland werden alle Simpsons-Folgen abgesetzt, in denen Homer bei der Arbeit im AKW zu sehen ist, und statt seines neuen Hörspiels Green Frankenstein lief letzte Woche Jörg Buttgereits Der kleine Drache auf WDR 3. Darf Bizarre Cinema also einen Film namens Panik im Tokio-Express zeigen? Es darf und muss. Weil das Leben eben nicht die Kunst nachahmt und die Kunst auch nicht das Leben. Es sind verschiedene Sphären, die manchmal verdammt ähnliche Bilder hervorbringen. Über diese Ähnlichkeiten, aber auch über die großen Unterschiede sollte man sprechen – und man sollte gesehen haben, worüber man spricht.
Sonntag, 10. April, 15.30 Uhr im B-Movie: Panik im Tokio-Express
Japan 1975, 94 Min., 35mm, DF, Regie: Junya Sato
Sinkt die Geschwindigkeit unter 80 Stundenkilometer, explodiert die Bombe ... Nein, das ist nicht Speed mit Keanu Reeves und Sandra Bullock, sondern ein heute fast vergessener Genreklassiker mit Ken Takakura (dem japanischen Clint Eastwood) und Kultstar Sonny Chiba. Der Plot: Ein Gangstertrio erpresst die Bahn um fünf Millionen Dollar und schickt dafür eine Bombe auf Reisen. Kritiker warnten davor, der Film könne echten Gangstern als Anleitung dienen – doch DIESE Katastrophe trat nie ein: Die japanische Bahn wurde nie um eine Million Dollar erpresst, kein Passagierzug wurde ohne Stopp und Bremse über die Gleise gejagt, kein Frachtzug in die Luft gedonnert. Freuen Sie sich auf ein dramatisches Krimiabenteuer im echten 35mm-Kinoformat und superbreiten Toeiscope – nicht im 152-Minuten-Original, auch nicht im internationalen 115-Minuten-Cut, sondern in der treudeutschen 94-Minuten-Fassung!
Text und Einführung: Peter Clasen
Freier Eintritt für alle! Bringt eure Freunde, Tanten und Onkels mit, damit die Hütte noch mal richtig voll wird.
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