25 November 2012

Mobiles aus Fleisch und Blumen

„Als ich 16 Jahre alt war, wollte ich selbstverständlich ein Gynäkologe werden. Das ist natürlich; jeder 16-Jährige will das. Als ich 19 war, wollte ich ein Kommissar sein. Jetzt bin ich Filmregisseur, das ist so etwas dazwischen.“ (Zbynek Brynych)

Bizarre Cinema Expanded: Die Filme von Zbynek Brynych (im Metropolis-Kino)

Irgendwo dazwischen, das ist vielleicht der beste Ort zum Filmemachen. 1968, kurz nachdem sowjetische Truppen in sein Land einmarschiert waren, traf der tschechische Regisseur Zbynek Brynych in München Herbert Reinecker und Helmut Ringelmann. Ein Jahr später drehte Brynych die erste von vier Kommissar-Folgen für das erfolgreiche Autoren/Produzenten-Duo, 1970/71 folgten drei weitere Episoden und vier Filme, die zum Besten, Aufregendsten, Wahnsinnigsten gehören, was jemals in Deutschland inszeniert worden ist. Brynych ließ Erik Ode tanzen, Fritz Wepper von minderjährigen Mädchen träumen, Nadja Tiller enthemmt vögeln und blutjunge Schauspielerinnen wie Susanne Uhlen, Helga Anders, Christiane Schröder und Eva Mattes schamlos mit der Kamera flirten. Er war ein kühner Experimentator, jederzeit sind bei Brynych atmosphärische Umschwünge, abrupte Übergänge, radikale Wechsel der Gefühlslagen, irre Schwenks und Kameraperspektiven möglich. Er war ein guter Beobachter mit großer Neugier für die unterschiedlichsten Menschen, für Wirte und Säufer, für Huren und Hausmeister, für die verkommenen Alten und die desillusionierten Jungen. Er war ein Grenzgänger, der mit der formalen Kühnheit der tschechischen Neuen Welle die sanft schlummernden Dämonen des Filmschaffens der Bundesrepubik entfesselte und Exzess und Freiheit in die Münchner Mietskasernen und Eckkneipen brachte. Und er war viel zu lange vergessen, deshalb freut sich Bizarre Cinema am 15. Dezember als Gast auf den Autoren und Regisseur Rainer Knepperges, der maßgeblichen Anteil an der Wiederentdeckung von Brynychs Werk hat.



Engel die ihre Flügel verbrennen
BRD 1970, Zbynek Brynch, 93 Min., mit Susanne Uhlen, Jan Köster, Nadja Tiller, Jochen Busse, Siegfried Rauch, Wolfgang Völz
Während in den Fluren und Räumen eines Münchner Hotels die Erwachsenen zum apokalyptischen Disco-Beat von Peter Thomas ihren niedersten Instinkten freien Lauf lassen, träumen zwei frisch verliebte Todesengel von Unschuld und Erlösung. Nie hat man die solidesten und bekanntesten deutschen Schauspieler ihrer Zeit so enthemmt, roh, sexy erlebt. Jede Szene birgt Tod und Eros in sich, jeder will jeden flachlegen respektive umbringen. Am ehesten erinnert dieser libidinöse Reigen an David Cronenberg Shivers (1975), in dem die Bewohner eines Apartmenthauses durch einen phallischen Parasiten in dauergeile Zombies verwandelt werden. „Alles in den Schatten stellt die unfassbar frivole und nymphomane Nadja Tiller. In ihren beiden Sexszenen, definitiv die besten des deutschen Films, lässt sie sich mal wild verlangend, mal doch etwas gelangweilt genießend, penetrieren.“ (Stefan Ertl)
12.12., 21.15 Uhr, Einführung: Volker Hummel
16.12., 20.30 Uhr



Die Nacht von Lissabon
BRD 1971, Zbynek Brynch, 110 Min., mit Martin Benrath, Erika Pluhar, Horst Frank, Vadim Glowna
Brynych verfilmt Remarque, eine Wahlverwandtschaft. Die in einer Nacht erzählte Geschichte eines vor den Nazis Geflohenen, der 1938 für die Liebe nach Deutschland zurückkehrt und mit seiner Frau eine Höllenreise durch ein von Kriegsangst zerfressenes Europa unternimmt, ist eine der schonungslosesten und zugleich zärtlichsten Fabeln über das Leben im Schatten der Diktatur. Ganz im Geiste Remarques bediente sich Brynych der trivialen Muster einer ungeheuer spannenden Liebes- und Abenteuergeschichte, um mit seltener Genauigkeit zu zeigen, wie Intoleranz, Angst, Denunziantentum, Gewalt und Dummheit sich von Deutschland aus durch Europa fraßen. „Hinreißend, taumelnd, wild, in jeder Faser berührend. Ein Tanz durch Westeuropa, von 1938 bis in den Krieg hinein – von Osnabrück nach Zürich, nach Paris, durch die Lager der Nazis im besetzten Frankreich, nach Marseille, bis nach Lissabon – in die Freiheit, in den Tod. Ein Horrorfilm, ein Traumfilm, eine Urlaubsreise in den Tod. Daneben ein fast italienisch anmutender Liebesfilm und ein Schicksalsstrom.“ (Dominik Graf)
13.12., 19 Uhr
17.12., 19 Uhr




Die Weibchen
BRD 1970, Zbynek Brynch, 90 Min., mit Uschi Glas, Irina Demick, Françoise Fabian, Judy Winter
Es geht nicht alles mit rechten Dingen zu im Sanatorium von Dr. Barbara in Bad Marein, in dem Eve eine sechswöchige Kur absolvieren will. Die Patientinnen verhalten sich merkwürdig, der Gärtner ist ein ganzkörperbehaarter Riese, und andere Männer scheinen in dem Ort nicht lange am Leben zu bleiben. Der Fund einer weiteren Leiche interessiert den Kommissar nicht sonderlich („Ich habe jeden Tag drei Morde, sie müssen warten, bis sie dran sind“), also beginnt Ev, selbst Nachforschungen anzustellen. Was zutage tritt, ist feinster Brynych-Wahnsinn, untermalt von Peter Thomas’ ekstatischem Hippie-Groove und eingefangen von Charly Steinbergers entfesselter Fischaugenkamera. Nur so viel sei verraten: Kreissägen, Valerie Solanas und eine Gottesanbeterin spielen eine nicht unwesentliche Rolle.
13.12., 21.15 Uhr
18.12., 19 Uhr




Kommissar-Nacht
BRD 1969/70, Zbynek Brynch, ca. 220 Min., mit Erik Ode, Fritz Wepper, Günther Schramm, Reinhard Glemnitz, Christiane Schröder, Rosemarie Fendel, Eva Mattes, Emily Reuer, Götz George, Helma Seitz, Wolfgang Spier, Marianne Hoppe, Johannes Heesters, Werner Pochath u.v.a.
Die Schrecklichen (1969), Der Papierblumenmörder (1970), Tod einer Zeugin (1970) und Parkplatz-Hyänen (1970): Die Episoden 11, 15, 16 und 17 der von 1969 bis 1976 ausgestrahlten Serie sind anders als die anderen. „In die Wohnzimmerstille, in der eine Topfpflanze namens ,Fernsehkrimi‘ leise ihre Blätter fallen lässt, drängen plötzlich die verstörenden Klänge eines lebendigen Urwalds: Zbynek Brynychs grelle Traumvision von Abendunterhaltung, ein unkontrolliertes und doch gezielt herbeigeführtes Chaos.“ (Stefan Ertl/Rainer Knepperges) Brynych der Alchemist: Er verwandelte Münchner Hinterhöfe und Kneipen in pulsierende Orte des Begehrens, biedere Reinecker-Stoffe in anarchische Avantgarde-Kunst, konventionelle Bildfolgen in kühne Raumkompositionen und deutsche Schauspieler in sexy Performance-Künstler. „Vier kurze Filme, die an schierer Vitalität der Erzählweise und der Figuren – und an noch heute glücklich machender BRD-Schmutzigkeit – so ziemlich alles schlagen, wovon das deutsche Fernsehen – und der deutsche Film sowieso – je zu träumen gewagt hätte.“ (Dominik Graf)
14.12., 21.30 Uhr



Oh Happy Day (aka Heiße Teens aus gutem Hause)
BRD 1970, Zbynek Brynch, 90 Min., mit Anne-Marie Kuster, Amadeus August, Nadja Tiller, Karl-Michael Vogler, Siegfried Rauch, Hanne Wieder
Rainer Knepperges: „Diese verwegene kleine Teenager-Sex-Träumerei ist Triumph und Vollendung dessen, was Brynych konnte wie kein Zweiter: Dramatisches frei von der Decke hängen zu lassen wie ein Mobilé aus Fleisch und Blumen. Grotesk erotisch ist die Balance: Siegfried Rauch als scharfer Chauffeur und Hanne Wieder als Fetisch-Nonne; ihre Lippen, seine Augen lassen Anne-Marie Kuster im roten Inneren des weißen Kugelsessel schwitzend um sich selber kreiseln. Die Pubertät ist keine Krise der Kinder, sondern die Krise der Eltern. Nadja Tiller und Karl-Michael Vogler sind explosiv wie Taylor und Burton, ihr Yoga-Dress ist lila, seine Keller-Bar ist dunkel. Brynych wusste, wie fremd die Menschen sich selbst sind, wie leicht ihr Leben anstoßerregend in Trubel und Trance geraten kann. Eine Schlammschlacht – der Bayern gegen Aachen – schwingt sich auf ins Gospelglück der Edwin Hawkins Singers. Vergewisserndes Starren in den Spiegel geht über in zerreißendes Lachen. Von seiner Cutterin Sophie Mikorey lässt Brynych alle Verbindungen trennen, die das Erzählen noch ans Erklären fesselt, und das Lebendige, einmal befreit, gehorcht nicht länger der Schwerkraft.“
15.12., 19 Uhr, als Vorfilm: Misto (CSSR 1964, 40 Min.),
Einführung: Rainer Knepperges
17.12., 21.15 Uhr



Auf Wunsch von Rainer Knepperges:
Sitting Ducks
USA 1980, Henry Jaglom, 87 Min., mit Michael Emil, Zack Norman, Patrice Townsend, Irene Forrest, Richard Romanus
Rainer Knepperges: „Henry Jaglom ist der amerikanische Klaus Lemke. Seit 40 Jahren dreht er unverwechselbare Filme, ausschließlich mit Darstellern, die das rare Talent besitzen, sich selbst spielen zu können. Kein Wort Dialog steht auf dem Papier. Mit dem verzweifelten Vorsatz gedreht, sein dritter Film müsse endlich ein Erfolg sein, zeigt Sitting Ducks die Menschen, die Jaglom am meisten liebt. Und weil sein glatzköpfiger Kumpel, seine frivole Freundin und sein großer Bruder keine Obsession verborgen, keinen Wunsch versteckt halten, glückt der gewagte Raubzug. Gefunden ist die Formel für Henry Jagloms bis heute anhaltendes freies Schaffen am äußersten Rande von Hollywood.“
15.12., 22 Uhr

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