03 Februar 2013

Raus aus dem Loch

Eine Urlaubsbegegnung (und eine Art Jahresrückblick) von Hans-Arthur Marsiske 

„Kommst du aus Schweden?“ Der Mann, der zu mir an die Theke getreten ist, nickt. Es war nicht schwer zu erraten. Er und seine beiden Kumpel, mit denen er am Tisch sitzt, sind in diesem Lokal außer mir die einzigen, die auf den Bildschirm schauen, wo das Fußballspiel Deutschland gegen Schweden gezeigt wird. Bei drei Toren, die bisher für Deutschland gefallen sind, war von dem Tisch kein einziger Laut der Freude erklungen.

Jetzt ist Halbzeitpause und der Schwede bestellt neue Getränke. „Es geht wohl nur noch darum, ob wir 5:0 oder 6:0 verlieren“, meint er. „So sieht’s aus“, sage ich. „Aber warten wir‘s ab. Beim Fußball ist alles möglich. Gerade in der Halbzeitpause kann sich so ein Spiel komplett drehen.“ Das ist als freundliche Aufmunterung gedacht, aber ich meine es auch völlig ernst. Zu meinen prägendsten Fußballerinnerungen zählt das Viertelfinale bei der Weltmeisterschaft von 1970 in Mexiko, als die deutsche Mannschaft nach der ersten Halbzeit 0:2 zurück lag.

Wir waren damals mit der Schulklasse an die Ostsee gefahren und sahen das Spiel im Fernsehraum der Jugendherberge. Einige meiner Mitschüler gaben das Spiel in der Halbzeitpause verloren und gingen demonstrativ schlecht gelaunt nach draußen. Diejenigen, die blieben, erlebten eine grandiose Aufholjagd, sahen, wie Uwe Seeler mit dem Hinterkopf die Verlängerung erzwang und die deutsche Mannschaft schließlich mit 3:2 als Sieger vom Platz ging. Seitdem hoffe ich eigentlich immer auf einen ähnlichen Spielverlauf, er ist für mich so etwas wie das Ideal einer sportlichen Begegnung.

Alle Bilder: Ansichten von Harun Farockis Installation Deep Play 
(WM-Endspiel 2006 Frankreich : Italien auf zwölf Bildschirmen)

Jetzt geht es um die Qualifikation zur nächsten Weltmeisterschaft. Mehrere Spiele werden am heutigen Abend parallel ausgetragen, fünf oder sechs davon können in dieser Kneipe live verfolgt werden. Deswegen bin ich hier. In diesem Touristenort an der portugiesischen Küste gibt es rund um den Yachthafen zwar jede Menge überteuerter Bars und Restaurants und fast überall laufen die Fernsehgeräte, aber die meisten zeigen nur die Spiele mit portugiesischer oder britischer Beteiligung, weil die Gäste offenbar überwiegend von den britischen Inseln kommen.

„Machst du hier Urlaub?“, fragt mich der Schwede. „Eigentlich bin ich aus beruflichen Gründen hier“, sage ich. „Letzte Woche hat eine große Konferenz stattgefunden, die ich besucht habe. Aber ich habe noch ein paar Tage angehängt.“ Im Oktober an der Algarve, das ist doch bestimmt schön, hatte ich gedacht. Wie konnte ich auch ahnen, dass ich in einem so öden, gesichtslosen Nest landen würde. Während der Konferenz war das kein Problem. Ich ging jeden Morgen in das protzige Hotel, vor dem all die schicken Yachten lagen, hörte mir Vorträge an, sprach in den Kaffeepausen mit vielen Leuten, schrieb zwischendurch meine Eindrücke auf. Danach war vielleicht noch etwas Zeit für ein paar Züge im Swimmingpool meines Hotels, eine kleine Mahlzeit. Das war’s, und das war völlig in Ordnung, so lange ich beschäftigt war.

Aber jetzt, nachdem sich die Konferenzteilnehmer blitzartig in alle Windrichtungen verstreut haben, drückt mir die Langeweile dieses austauschbaren Schnöselortes mit aller Macht auf die Stimmung. An sich ist das nichts Ungewöhnliches. Ich erlebe nicht zum ersten Mal, wie nach mehreren Tagen konzentrierter Arbeit und intensiver Begegnungen plötzlich die Anspannung nachlässt. Aber irgendwie hatte ich erwartet, dass dieser Post-Event-Blues hier nicht so eine Kraft entfalten würde. Ich sah mich entspannt im Straßencafé sitzen und bei einem Espresso noch einmal die Oktobersonne genießen, bevor zu Hause die dunkle, kalte Jahreszeit beginnt. Doch der blaue Himmel ist machtlos gegen meine düsteren Gedanken. Morgen fliege ich nach Hause. Wie soll es dann weitergehen? Wo kriege ich neue Aufträge her? Wovon zahle ich die Miete?

Der Schwede ist zum Golfspielen hergekommen, will hier noch einmal ein paar sonnige Tage erleben. „Zu Hause ist es praktisch schon Winter“, sagt er. Ja, so mag man das aushalten können. Golf scheint hier die Hauptattraktion zu sein. Ein Lokal heißt „19th Hole“. Mich erinnert das vor allem daran, dass ich mich fühle, als wäre ich selbst ins Loch gefallen. Aber heute, an meinem letzten Abend, verspricht der Fußball immerhin ein wenig Abwechslung. Mit Public Viewing hat dieses Fußballerlebnis allerdings nur wenig zu tun. Überall in der Kneipe, die wie ein britisches Pub gestaltet ist, hängen Monitore, an den Wänden ebenso wie an den Säulen in der Mitte des Raumes. Es laufen mindestens vier oder fünf Spiele parallel und jeder schaut woanders hin.


Während der ersten Halbzeit saß in meiner Blickrichtung ein junges Pärchen und verfolgte gut gelaunt das Geschehen auf einen Bildschirm hinter mir. Als ich mich mal umsah, stand da: ROM-NED 1:3. Heißt das Rumänien-Niederlande? Die Worte, die ich gelegentlich von den beiden aufschnappte, klangen niederländisch. An der Wand rechts von mir kann ich drei Monitore sehen. Ganz rechts kriegen die Schotten gerade eine Klatsche von den Belgiern, daneben sieht man abwechselnd Leute in einem Studio miteinander reden und Bilder von einem überschwemmten Fußballplatz. Das ist die Übertragung, deren Ton auf die Kneipenlautsprecher gelegt wurde. Ich habe aber kaum zugehört, wollte mich nicht ablenken lassen von dem Geschehen auf dem Bildschirm an der Säule vor mir, wo die deutschen Spieler in aller Stille ein Tor nach dem anderen schießen.

Auf den Bildschirmen, deren Ton in der ganzen Kneipe zu hören ist, sieht man jetzt einen Spieler, der sich bäuchlings auf den Rasen wirft und wie ein Surfer über die Pfütze gleitet. Einige Kneipengäste applaudieren. „Das Stadion hat wohl ein Dach, das man hätte schließen können“, erklärt mir der Schwede, der offenbar genauer hingehört hat. „Jetzt reden sie darüber, warum das nicht geschehen ist.“ Tja, dumm gelaufen. Er nimmt die Getränke im Empfang und geht zurück zu seinen Freunden, um das Debakel der schwedischen Mannschaft weiter zu verfolgen. Wie erwartet, fällt bald nach dem Anpfiff zur zweiten Halbzeit das vierte Tor für die Deutschen. Mit dem Drehen des Spiels in der Halbzeitpause hat es wohl doch nicht geklappt. Möglich ist alles, gewiss. Aber nicht unbedingt heute abend.

Dann erzielt Ibrahimovic, der wilde, ungehobelte Stürmer der Schweden den Anschlusstreffer. Ich schaue rüber zum Tisch der Skandinavier. Mein Thekengesprächspartner hält mir freudig den hochgestreckten Daumen entgegen. Ich antworte mit der gleichen Geste. Ist doch toll, immerhin ein Ehrentor.

Nur zwei Minuten später landet der Ball erneut im deutschen Tor. Wieder geht der Daumen nach oben, das Grinsen ist schon etwas breiter. Inzwischen steht vor mir an der Theke ein Paar aus Deutschland, offenbar auch zum Golfen hier. Ich überlege, sie anzusprechen und mich als Landsmann zu erkennen zu geben. Aber dieses Lokal mit den vielen parallel laufenden Fußballspielen ist nicht der passende Rahmen für plumpe Verbrüderungen. Außerdem haben die beiden die erste Halbzeit verpasst, die können gar nicht begreifen, was hier gerade abgeht.


Die Schweden sind mir jetzt näher. Ich denke an das WM-Spiel von 1970. So eine Aufholjagd ist doch viel spannender, als ein Wettkampf, der die ganze Zeit nur von einer Seite dominiert wird. Toll, dass die schwedischen Spieler noch mal ein bisschen Würze in die Begegnung bringen. Aber dabei wird‘s dann wohl auch bleiben. Die Deutschen werden jetzt hinten dicht machen und – ja, gibt’s denn sowas? 4:3! Wieder schnellt der Daumen hoch. Alter Schwede, wer hätte das gedacht. Toll gekämpft, Respekt, Respekt.

Aber das war’s dann auch. Die reguläre Spielzeit ist fast abgelaufen, drei Minuten zusätzlich sind angezeigt. Da wird plötzlich der Bildschirm schwarz. Ich schaue mich um. Ein Barkeeper hantiert nervös mit einer Fernbedienung herum. Ach, was soll’s. Der wird das nicht mehr rechtzeitig hinkriegen und das Spiel ist ohnehin gelaufen. Ich leere mein Glas und mache mich bereit zum Gehen.

Auf einmal schreien die drei Schweden auf und drehen ihre Stühle. Hinter ihnen, von einer Säule halb verdeckt, lief auf einem weiteren Monitor die ganze Zeit das gleiche Spiel. Ich laufe zu ihrem Tisch, sehe die Wiederholung vom letzten Tor. Sie haben es wirklich geschafft, unglaublich! Der Schwede und ich schütteln die Hände, fast hätten wir uns umarmt. „Sorry“, sagt er, aber wofür entschuldigt er sich? Das war doch ein großartiges Spiel! „Ich hab’s dir gesagt“, erwidere ich.

Dass die deutsche Mannschaft einen sicher scheinenden Sieg verkickt
hat, ist mir in diesem Moment völlig egal. Die Botschaft der Schweden ist viel stärker. Das Glücksgefühl, das ich jetzt spüre, hat nichts mit dem Caipirinha zu tun, den ich getrunken habe. Es wird auch länger anhalten als jeder Alkoholrausch. Morgen fliege ich nach Hause. Das Spiel geht weiter. Alles ist möglich.

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