05 Dezember 2013

Draußen ist das neue Drinnen

Ab heute im Kino: Oldboy von Spike Lee

Ein Mann wird in einen Raum gesperrt für eine Schuld, deren Natur weder er noch der Zuschauer kennt. Nach 20 Jahren wird er entlassen nicht in die Freiheit, sondern in eine Realität, über die der unbekannte Widersacher durch Überwachung und Manipulation herrscht. Der Entlassene hat nun zwei Aufgaben, die scheinbar widersprüchlich scheinen: die von außen gestellte, die Natur seiner Schuld zu erkennen und benennen, um in die wahre Freiheit zu gelangen, und die selbst gestellte, sich an dem Widersacher zu rächen, der ihn in diese Lage gebracht hat. 

Wie man schon aus Park Chan-wooks Original-Oldboy weiß, dessen auf einem japanischen Manga beruhenden Plot Spike Lee ohne große Änderungen übernommen hat, sind die beiden Aufgaben eng miteinander verbunden: Die Rachegelüste des Mannes sind die tragende Säule in der Strategie des manipulierenden Masterminds, und der Glaube an die zu erkennende Schuld ist von Anfang an der selbst errichtete Knast, aus dem es auch nach Auslöschung des Gegners kein Entkommen gibt. Damit der Zuschauer nicht zu schnell erkennt, dass diese gewaltige Erzählmaschine auf wackeligen moralischen Beinchen daherkommt, wird er ebenso brutal wie die Figuren in den von totalen Kontroll- und entfesselten Gewaltfantasien beherrschten Fiktionsknast gesperrt. Schmiermittel der Maschine sind eine Reihe brutaler Sequenzen, eine Prise Erotik in Gestalt eines jungen Mädchens, an dem sich die den Film durchgeisternden Vergewaltigungsfantasien kristallisieren können, und ein klassischer Hollywood-Kleister-Score, der vor allem das erzählerisch schwächste letzte Drittel zusammenzuhalten versucht.

Wie schon beim koreanischen Original vermeint man knapp unter der Oberfläche dieses routiniert inszenierten Mainstream Torture Porns eine immense Wut und eine moralische Empörung zu spüren, die sich sowohl gegen die eigene Manipulationslust als auch gegen die Schaulust der Zuschauer richtet. Welche Schuld hast du Voyeur auf dich geladen, dass du meinst, diese Tortur bis zum Ende über dich ergehen lassen müssen? An wie vielen Gewaltfantasien gestattest du dir teilzuhaben in der Hoffnung, am Ende durch eine übergeordnete Moral geläutert daraus hervorzugehen? Vielleicht ist Oldboy ja der erste Filme der Kinogeschichte, der das vorzeitige Verlassen des Kinosaals propagiert.

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Ich bin mir nicht sicher, ob das Unbehagen, das mir Oldboy bereitet hat, in dem oben stehenden (für die Szene Hamburg geschriebenen) Text zum Ausdruck kommt. Ein Grund dafür, das Unbehagen nicht in Ablehnung umschlagen zu lassen, liegt in der Struktur des Films selbst, der angelegt ist als Lackmustest für die Bereitschaft des Zuschauers, das metafiktionale Spiel ein Stück weit mitzuspielen, und ein Spielverderber will man dann doch nicht sein. Ein zweiter Grund ist wirksamer, weil er den ersten aufzuheben vermag: Er besteht in dem nicht abzuschüttelnden Gefühl einer (auch im Vertrauen auf Spike Lee gegründeten) großen Ernsthaftigkeit, genauer: einer immensen Wut oder moralischen Empörung, die sich auch gegen den Zuschauer richtet. Diese Wut spricht etwas in mir an, aber was ist ihre Quelle?

Diesen Zorn habe ich auch in zwei anderen neuen Filmen gespürt, die mir sogar noch mehr Unbehagen bereitet haben: Ridley Scotts The Counselor und Woody Allens Blue Jasmine. Im Zentrum beider Filme stehen Protagonisten, die an der Welt leiden, nicht weil sie unterprivilegiert sind oder ungerecht behandelt wurden, sondern im Gegenteil, weil sie sich die Versprechungen und Regeln einer materialistischen, extreme Klassenunterschiede produzierenden Gesellschaft restlos zu eigen gemacht haben. Anders als bei anderen Vertretern ihrer jeweiligen Genres, die von sozialer Teilhabe durch Verbrechen (Thriller) oder die Verfolgung des eigenen (Liebes-)Glücks wider die Konventionen handeln (Komödie), gibt es bei The Counselor und Blue Jasmine keinen Widerspruch zwischen Figur und Gesellschaft, der sich als Plot, Spannungsbogen oder Charakterstudie produktiv machen lässt. In beiden Filmen herrscht erzählerische Stasis, ein entropisches Äquilibrium, das keine Entwicklung in irgendeine Richtung zulässt, als Wandlung des Subjekts oder Veränderung der Verhältnisse.

Lange ist die äußere Welt nicht mehr so lieblos und klischeehaft gezeigt worden wie in The Counselor. Der Reichtum, den die Hauptfigur anstrebt, ist inszeniert als Abfolge abgeschmackter Werbesequenzen: Bikinigirls am Pool, Geparden an der Leine, Sportwagen in der Garage. Die Welt jenseits dieses generischen Luxusambientes, die Grenze zu Mexiko, El Paso, die Wüste, bleibt in The Counselor so trübe wie der undurchsichtige Plot, mit dem die Hauptfigur zu Geld zu kommen hofft. In Blue Jasmine entspricht diesem stereotypen und desinteressierten Blick auf den Reichtum eine Serie von Rückblenden, in denen sich die auf den Hund gekommene Hauptfigur an ihre privilegierte Zeit in New York erinnert: Pool, Dinner-Partys, Yachten, Shoppen. Die Möglichkeiten, sich näher auf die Stadt San Francisco und die Lebensumstände der Schwester, bei der Jasmine untergekommen ist, einzulassen, lässt Woody Allen ebenso wie seine Protagonistin ungenutzt. Prinzipiell könnte Blues Jasmine überall spielen, und die Darstellung der Underclass kommt über Klischees nicht hinaus.

Trotz oder gerade wegen dieser inszenatorischen Armut werde ich das Gefühl nicht los, dass den Filmen bewusste, vielleicht sogar radikal zu nennende künstlerische Entscheidungen zugunde liegen. Es sind ein Anti-Thriller bzw. eine Anti-Komödie, die auf den Reichtum des Genres verzichten zugunsten der Sichtbarmachung eines auf Falschheit, Materialismus, Gewalt gegründeten Status quo, in dem die Veränderungen, von deren Aufscheinen Thriller und Komödien immerhin noch träumen dürfen, unmöglich sind. An die Stelle von Welthaltigkeit, Witz und humanistischem Grundvertrauen in die Selbstverwirklichungsmöglichkeiten des Einzelnen ist in diesen Filmen etwas anderes getreten, das mit „Mainstream Torture Porn“ vielleicht gar nicht so schlecht beschrieben ist und vom Zuschauer einiges abverlangt: Redundanz, ewige Wiederkehr schon zu Beginn unmissverständlich klar gemachter Pathologien, apathische Hauptfiguren, für die es keine Erlösung, sondern immer nur tieferes Hinabsteigen in ihre Privathöllen gibt. Als Minimalvariationen fungieren in The Counselor die von allen Figuren und dem Off-Text Cormac McCarthys ewig wiederholte Warnungen, dass das Spiel seinen Preis hat, vor allem eine Reihe elaborierter Enthauptungs-Anekdoten, die der Film gnadenlos wahr werden lässt; und in Blue Jasmine die verschiedenen Leid-Stadien des bleichen Gesichts von Cate Blanchett mit seinen Mascara- und Tränenspuren.

Ein Schlüssel zum Verständnis der Filme ist mir in einem Text Slavoj Zizeks über den Dokumentarfilm The Act of Killing von Joshua Oppenheimer und Christine Cynn begegnet. In einer seiner schönen gedanklichen Umkehrungen schreibt er dort, dass wir entgegen der geläufigen Ansicht nicht in einer Zeit leben, in der die Privatsphäre des Einzelnen schrumpft und vielerlei Gefahren ausgesetzt ist, sondern im Gegenteil unsere Welt zunehmend durch expandierende Privatwelten und durch das Verschwinden einer von allen gemeinsam geteilten öffentlichen Sphäre geprägt ist. Das Radikale an The Act of Killing besteht in dieser Lesart gerade darin, dass er nicht in klassischer Dokumentarfilm-Manier versucht, eine von allen Beteiligten inklusive der Zuschauer akzeptierte Realität sichbar zu machen, sondern im Gegenteil die private Vorstellungswelt eines Massenmörders zu durchleuchten. Das, was viele Rezensenten dem Film zum Vorwurf machen, der weitgehende Verzicht auf Kontextualisierung des Gezeigten, auf eine historische Einordnung der politischen Morde, der 1965/66 Millionen Menschen in Indonesien zum Opfer fielen, und stattdessen die Konzentration auf die Fantasien des Mörders, die dieser auch noch verfilmen darf, macht die eigentliche Stärke des Films aus. Es ist weniger Dokument eines historischen Verbrechens als Bestandsaufnahme einer auf Mord, Folter, Rassismus und Vorteilsdenken beruhenden Privatwelt, die – das ist das eigentlich Erschreckende an The Act of Killing – die Öffentlichkeit der indonesischen Gesellschaft bis in alle Institutionen hinein noch heute kontaminiert: Presse, Politik, Talkshows. Die Öffentlichkeit selbst ist nicht in der Lage, die sie dominierenden Tabus und Fantasien zu thematisieren, aber den unter dem Deckmäntelchen des Privaten renommierenden Tätern zollt sie ihren ganzen Respekt.

Vielleicht wird man Oldboy, The Counselor und Blue Jasmine gerechter, wenn man sie als radikale Umkehrversuche begreift. Es sind keine Geschichten individuellen Strebens, die im Scheitern oder Triumphieren ihrer Figuren etwas über die Welt herausfinden, sondern Bestandsaufnahmen unwandelbarer, extrem pathologischer, von obszönen Fantasien über Reichtum und ein Leben ohne Not dominierter Bewusstseinszustände, aus denen es kein Entkommen gibt. Es gibt kein Entkommen, weil diese Bewusstseinszustände auch die Welt dominieren, in der wir leben. Ob man drinnen oder draußen ist, muss man beim Zuschauen herausfinden.

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