16 März 2014

Silencio!

Die Dissoziation von Bild und Ton ist eines der zentralen kinematografischen Phänomene der 70er. Wie Michel Chion in The Voice in Cinema schreibt, war die Synchronizität von Sound und Vision, von Lippen und Stimme schon ab Einführung des Tonfilms eine künstliche Chimäre, ein per Konvention zum Standard erhobener Bastard, der andere Formen des Sounddesigns überdeckte. Im italienischen Nachkriegskino etwa wurde ein sehr laxer Umgang mit der (Post-)Synchronisation gepflegt, Chion hebt vor allem Federico Fellini als den Meister eines unsychronen Umgangs mit dem Ton hervor, in dessen Zentrum nicht über das Gesprochene zu identifizierende Subjekte stehen, sondern komplexe Stimmengeflechte, die den Eindruck einer vielstimmigen Gemeinschaft vermitteln. Verstärkt wurde das Auseinanderdriften von Mündern und Stimmen in den 60ern außerdem durch den Trend zu europäischen Koproduktionen, deren Synchronisation in ein global vermarktbares Englisch jede tonale Authentizität zerstörte. Mit Sprechern und Dialogregisseuren wie Rainer Brandt wurde die Synchronisation dann endgültig zu einer vom Bild emanzipierten Kunstform, die den sprechenden Mündern eine ganz eigene Form von Poesie entlockte, die sich dem Kinogedächtnis tiefer eingeprägt hat als die Bilder und Storys vieler Filme.

Die Kunst der Synchro 1: Rainer Brandt

Das Aufkommen von neuen Tonsystemen wie Dolby Surround führten in den Siebzigern zu erneuter Aufmerksamkeit für das Sounddesign und für die Auspegelung von Stimmen, die nicht länger aus einem einzigen, hinter der Leinwand hängenden Lausprecher kamen, sondern von allen Seiten und in bisher ungekannter Intimität. Chion nennt Marlon Brandos stimmliche Gestaltung des Don Corleone in Francis Ford Coppolas The Godfather als herausragendes Beispiel der tonalen Gestaltung einer Figur. Mit der technischen Revolution ging ein gesellschaftlicher Wandel einher, ein durch den Zapruder-Film und die Fernseh-Aufnahmen aus Vietnam sich befördernder Bilderskeptizismus. Der Watergate-Skandal machte 1972 deutlich, dass die Wahrheit nicht immer in den Bildern steckt, sondern auch auf Tonband aufgezeichnet werden kann. Überwachung wurde zum Kino-Thema, Abhörspezialisten und ihre Apparate zu den (Anti-)Helden einer Reihe von zentralen Werken der Dekade. In Filme wie Sidney Lumets The Anderson Tapes (1971), Coppolas The Conversation (1974), Alan J. Pakulas All the President’s Men (1976) sind Tonaufnahmen aber nie der letzte Beleg der Wahrheit, sie bringen immer auch eine Ambivalenz in die Geschichten hinein. Verborgene (= bildlich nicht belegte) Wahrheiten kommen ans Licht, zugleich öffnet sich aber auch ein Abgrund an Mehrdeutigkeit, in den die Protagonisten hineingezogen werden.

Die Trennung von Sound und Vision treibt einen Keil in die diegetische Welt, einen Mangel an Kohärenz, den kaum ein Werk so produktiv gemacht hat wie Brian De Palmas Blow Out (1980). Der in dem Film unternommene Versuch, anhand einer Tonspur ohne dazugehörige Bilder ein reales Ereignis zu rekonstruieren, und, wichtiger noch: durch die Rekonstruktion es wieder gesellschaftlich wirksam werden zu lassen, ist nicht nur zum Scheitern verurteilt (es gibt in der von De Palma geschilderten Welt keine Instanz, die ein Interesse an der Wahrheit hat), er bringt außerdem den Tod dreier Frauen mit sich. Der Ton der Wahrheit ist am Ende nahtlos in die Bilder einer schäbigen Fiktion eingeschlossen.

Die Kunst der Synchro 2: Loriot

Die entkörperlichte menschliche Stimme, immer ein schon wichtiges Element des Kinos, feiert im Horrorkino der 70er-Jahre eine erstaunliche Konjunktur. Der Erfolg von William Friedkins The Exorcist verdankt sich Michel Chion zufolge nicht nur dem visuellen Spektakel eines Mädchen-Körpers, der seinen Kopf um 360 Grad drehen und grüne Kotze spucken kann, sondern vor allem seinem herausragenden Sounddesign und der monströsen Disparität zwischen dem jugendlichen Körper und der alle Laster dieser Welt Stimme von Linda Blair (Ergänzung vom 20.3.2014: In der neuen, wie immer mit schweißnassen Händen durchblätterten Ausgabe von SigiGötz Entertainment lese ich in einem Text von Stefan Ertl, dass die ganz außerordentliche deutsche Synchronstimme Linda Blairs Hanne Wieder gehört, der frivolen Nonne aus Zbynek Brynychs Oh Happy Day, die auch Lieder von Weill/Brecht interpretiert hat. Um mit Rainer Knepperges zu sprechen: The Paradise of Further Research). Unheimliche Stimmen, die sich entweder von ihren Ursprüngskörpern gelöst haben oder gar keinem Körper zuzuordnen sind (Michel Chion nennt sie Acousmetres) geistern durch die 70er-Jahre wie durch keine andere Dekade, zum Beispiel als Telefonstimme (Bob Clarks Black Christmas, 1974, Fred Waltons When a Stranger Calls, 1979), als auf Tonband festgehaltenes Wispern aus dem Jenseits (Peter Medaks The Changeling, 1980), als beschwörende Stimme, die das Tor zum Reich der Dämonen öffnet (Sam Raimis Evil Dead, 1981), als akustische Spur, die zum Täter führt (vor allem im Giallo: Dario Argentos Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, 1970, Massimo Dallamanos Der Tod trägt schwarzes Leder, 1974), oder ganz klassisch als Stimme einer Bauchrednerpuppe: Richard Attenboroughs Magic (1978) oder Fred Waltons When a Stranger Calls Back (1993).


Am Donnerstag, 20. März, 23.15 Uhr, läuft im WDR Berberian Sound Studio, eine schöne Hommage an die Aufzeichnungsapparate und Tonkünstler der 70er und eine Feier der Abgründe zwischen Bild- und Tonspur

„Silencio“ leuchtet es in Rot von der Leinwand. Wer sich mit Dreharbeiten oder Filmgeschichte auskennt, weiß: Ab jetzt Stille bitte, die Tonaufnahme läuft. Ab hier endet das dröge Rauschen der Realität und das Sounddesign der fabrizierten Träume beginnt. Wenn das Wort in Filmen auftaucht, beginnen sich die fiktiven Ebenen zu multiplizieren: In Godards Le mepris markiert es den Beginn zum Dreh einer Szene aus Fritz Langs Film im Film Odyssee, in David Lynchs Mulholland Drive ist es der Name eines Clubs, in dem Bild und Ton nicht immer synchron miteinander sind. In Peter Stricklands Berberian Sound Studio bedeutet es den Beginn des Arbeitstags des britischen Tontechnikers Gilderoy, der 1976 für einen italienischen Regisseur das Sounddesign an einem Horrorfilm überwacht.

Die tolle Grundidee von Strickland besteht darin, dass man von dem Film im Film Il vortice equestre außer dem Vorspann nichts zu sehen bekommt. Die Szenen werden ausschließlich über Musik, Sprachaufnahmen und vor allem das Sounddesign evoziert, und das hat es in sich. Berberian Sound Studio ist eine liebevolle Hommage an prädigitale Aufzeichnungsapparate, immer wieder fährt die Kamera die riesigen analogen Apparate, Spulen, Mikrofone und Bänder ab, mit denen Gilderoy die Dialoge und Schreie der fast ausschließlich weiblichen Darstellerinnen und die Geräusche und Ton-Effekte aufzeichnet. Diese werden von zwei stoischen Foley Artists fabriziert, die kiloweise Obst und Gemüse zerhacken und zerquetschen.

Für Genrefans und alle, die es werden wollen, ist schnell klar: Hier wird ein Giallo gedreht, einer jener sehr stylishen und sehr blutigen Thriller, in denen Männer mit schwarzen Handschuhen Ballettschulen oder Mädchenpensionate heimsuchen. Stricklands Film strotzt vor Anspielungen, allen voran der Film-im-Film-Plot, der Dario Argentos Hexenklassiker Suspiria in ein Reitinstitut verlagert. Über weite Strecken macht es Spaß, aus Erinnerungen an Filme und dem tollen Sounddesign eine eigene Version von Il vortice equestre zusammenzubasteln. Weniger faszinierend ist die Geschichte von Gilderoy, der aufgrund seiner Unkenntnis der kulturellen und sexuellen Codes seiner italienischen Kollegen und der Genreregeln des von ihm vertonten Werks langsam den Kontakt zur Realität verliert. Verschließen wir also die Ohren vor den biederen Bildern, öffnen wir die Augen für die faszinierenden Töne und lauschen diesem schönen Giallo of the Mind.

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