Die unterschiedlichen Einschätzungen Ekkehard Knörers und Simon Rothöhlers zu Stellet Licht von Carlos Reygadas, Immanenz vs Transzendenz, volle vs leere Form, das schöne Eigene vs das schlecht Gedreyerte, erinnern mich ein wenig an die kurze Unterhaltung, die ich nach Verlassen des Films mit meiner Begleitung über die Länge seiner Einstellungen hatte. Sie fand sie zu lang, ich fand sie genau richtig. Sie empfand sie als zu leer, ich fand, dass die Länge der Einstellungen nötig war, damit hinter dem im Vordergrund sich abspielenden Drama, der behaupteten Fülle der Gefühle und Gewissenskonflikte, immer wieder die Leere der umgebenden Landschaft, der materiellen Welt selbst hervortritt. Und andersherum: damit vor dem leuchtend blauen Himmel, im Schweigen des Gebets, aus den Tönen der Natur das stille Spektakel der leidenden Figuren umso klarer hervortreten kann.
Was ist die perfekte Länge einer Einstellung? Was ist die richtige Motivation, einen Film zu drehen? Warum gefällt einem ein Film? Ich denke, dass man als Zuschauer in seinen Emotionen gegenüber Filmen in einer ähnlichen Situation ist wie Johan angesichts seiner Liebe zu zwei Frauen: Man liebt oder hasst, und kein Gebot des Vaters, der Kirche, der etablierten Filmkritik oder des gesunden Menschenverstandes kann dagegen etwas ausrichten. Gut so, denn in der Liebe wie im Kino sollte man sich immer auf die Seite des Einzelnen schlagen, der sich gegen alle Widerstände an seine Obsession klammert, die ihm für einen kurzen Moment die Illusion verschafft, aus der Welt herauszufallen. Vielleicht haben Männer diese Illusion nötiger als Frauen, was nicht nur erklären würde, warum sie stärker von Fantasien des Seitensprungs beherrscht werden, sondern auch, warum Kino-Nerds in der überwältigenden Mehrheit Männer sind.
Über das Wunder am Ende von Stellet Licht hat Bert Rebhandl meiner Ansicht nach ganz richtig geschrieben, dass es durch Mariannes Entscheidung, Johan nicht mehr zu treffen, schon vorweggenommen ist, es wiederholt nur diesen Akt des Verzichts, an dem der Mann keinen Anteil hat, in einer Weise, die die Kommunion der Frauen und paradoxerweise auch die Unumkehrbarkeit der Zeit betont. Dieses "Einzige, was der Mensch nicht tun kann", den Lauf der Zeit anzuhalten oder gar umzukehren, manifestiert sich im Wunder, doch wie alle Wunder verweist es in seiner Bedeutungsfülle gerade auf seine eigene Unmöglichkeit und auf die Bedeutungsleere der materiellen Welt. Für mich ist dieses Ende ein Gag, kein unfreiwilliger, sondern ein ganz bewusst gesetzter und gelungener. "Komm, Papa, Mama ist aufgewacht." Ich bin mir gar nicht sicher, ob Papa wirklich so glücklich über dieses Wunder ist.
Zu erwähnen ist noch, dass es in Stellet Licht schon vorher ein Wunder gibt, oder sagen wir mal: eine Erscheinung, die vorüberhende Manifestation einer Kraft aus einer anderen Sphäre. In einem Lieferwagen sehen sich Johans Kinder auf einem kleinen Fernseher Jacques Brel an, der Les Bonbons singt. Brel auf der Bühne ist ja immer eine Erscheinung, eine Figur, die gestisch, durch ihre Stimme, ihre Mimik permanent eine erstaunliche Fülle an Bedeutungen und Gefühlen produziert, wobei seine Worte gänzlich im Diesseits verankert sind. Brel singt vom Alltäglichen (der vergangenen Liebe) und auch vom Politischen (Vietnam), aber immer so, dass einem schon beim Betrachten die Welt in alle Richtungen sich auszudehnen scheint. Diese Wirkung unterstützt Reygadas noch, indem er Brel schließlich nicht nur im Rahmen des Fernsehers zeigt, sondern ihn die ganze Leinwand einnehmen lässt wie einen clownesken Gott, vielleicht die einzige Figur im Film, die die Erlösung vom unerbittlichen Lauf der Zeit bieten kann, die Johan in seiner Liebschaft sucht und im Glauben nicht findet. Johan setzt sich zwischen seine Kinder, um mit ihnen Jacques Brels Bonbons der Vergangenheit zu kosten, während sich vor Marianne die Tür schließt und sie davongeht, im Hier und Jetzt das Wunder der Uneigennützigkeit vollbringend.
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