In jeder Hinsicht ein Kontrapunkt zu A Stravinsky Portrait war die Aufführung von Powell/Pressburgers The Red Shoes (1948), dessen Farb- und Ton-Gesamtkunstwerkcharakter das UCLA Film and Television Archive unter der Leitung von Robert Gitt wiederhergestellt hatte. Die Lobreden von Thelma Schoonmaker und Martin Scorsese (per Video) vorneweg hatten mich schon weichgekocht, das synästhetische Dauerfeuer (Tanz! Musik! Kostüme! Farben! Geistreichtum! Theater! KUNST!) machte mich schwindeln, das permanente Geraune über den Preis der Kunst (einer muss ihn bezahlen) ließ mich kalt. Und Ballett. Man muss es nicht hassen, um The Red Shoes überladen zu finden, aber es hilft ungemein. Und dann noch dieses pseudodramatische Finale, in dem sich das arme Mädchen, das sich nicht zwischen dem Mann der Kunst und dem Mann des Herzens entscheiden kann, in den Tod stürzt. Da schreit der Zizekianer in mir (der den Film übrigens sehr schätzt): Gebt mir eine dritte Option!
Igor Stravinsky dirgiert das NDR Sinfonieorchester.
Szene aus Richard Leacocks A Stravinsky Portrait
Statt diesem elefantenschweren und durchorchestrierten Gesamtkunstwerk dann doch lieber den ungemein leichten, gewitzten und irgendwie löcherigen A Stravinsky Portrait. Wie The Red Shoes handelt dieser Direct-Cinema-Klassiker von einer europäischen Intelligenzija, die es so nicht mehr gibt, deren Mitglieder alle mehrsprachig, kosmopolitisch und in allen Künsten zu Hause sind. Die schönen Dinge des Lebens sind ihr Dauerthema, die Freuden des Schaffens, die Kunst. Die unterschiedlichen Antworten auf zwei ähnliche Fragen, die in den beiden Filmen gestellt werden, offenbaren aber grundsätzlich verschiedene Haltungen zur Kunst. Als die Tänzerin Vicky Page (Moira Shearer) vom Impresario Lermontov (Anton Walbrook) gefragt wird: " Why do you want to dance?", antwortet sie: "Why do you want to live?" Als Rolf Liebermann Stravinsky fragt: "What is it like for you when you start a new composition?", antwortet dieser auch mit einer Gegenfrage: "What is it like for you to wake up in the morning? I like to wake up."Szene aus Richard Leacocks A Stravinsky Portrait
Die Kunst als Leben, die Kunst als ein Erwachen – das bedeutet im einen Fall den Tod, falls die Muse mal nicht küsst, im anderen einen fortgesetzten Schlaf oder Dämmer. Das eine klingt nach Schicksal, das andere nach Vergnügen. Überhaupt ist A Stravinsky Portrait ein vergnüglicher Film über das Vergnügen – des Sprechens, des Denkens, des Komponierens. Es ist ein Vergnügen, Stravinsky, der manchmal mitten im Satz die Sprache wechselt, zuzuhören: "What is important for me is the act of composing. I’m not so much interested in the music afterwards." – "I adore dissonance, consonance ist viel schwerer." – "You have to be able to wait like an insect. Without getting bored. Till the right time comes."
Warten, das konnte offensichtlich auch Richard Leacock, der zweite großartige Typ, den man an jenem Vormittag in Bologna kennenlernen durfte. Leacock, der am 18. Juli seinen 88. Geburtstag feiert, erzählte in prägnanten Sätzen von der tiefen Freundschaft zu Stravinsky, die sich während des Drehs ergab ("We became friends for life") und seiner Arbeitsweise, die weder darauf aus ist, alles abzubilden, noch den Bildern einen interpretierenden Sinn zu geben: "My aim ist to observe, not to construct." Wichtiger als das Einfangen "wichtiger", "großer" Momente war ihm die offene und lebendige Beziehung zu seinen Protagonisten und seinem Team, weshalb die Kamera (auch bei den wenigen Orchesterszenen gab es nur eine) auch mal über Tage ausgeschaltet blieb.
"We became almost a family. We swam a lot and listened to music, we ate together, we had a good time sending the film to hell. Making the film was almost secondary, and this helped us reach a higher level of intimacy than normal." (Richard Leacock über die Dreharbeiten zu A Stravinsky Portrait, Katalog des Il Cinema Ritrovato 2009)Auf die Frage, wie er sich seine Themen aussuche, antwortete Leacock, auch hier wieder ganz die gewitzte Termite im Mausoleum klassischer Vorstellungen vom Künstler als passioniertem Erfüller seines eigenen Schicksals: "I don’t know. Sometimes I like the things the most that I don’t like." Und erzählte dann von einer TV-Doku, für die er mal nach Hawaii zu einer Convention von 1500 amerikanischen Polizeichefs geflogen war: "Hundreds of men in uniform and their wives. I had the time of my life." Oder über den Ku Klux Klan, in deren Kreis er drei Monate gelebt hatte, um aus dem Material eine äußerst kritische Doku zu drehen (Invisible Empire, 1965). Kurz nachdem der Film im US-Fernsehen gelaufen war, bekam Leacock vom KKK-Chef einen freundschaftlichen Brief, in dem stand: "Thank you Ricky for your good work, we received so many new application because of your film."
Mittlerweile arbeitet Leacock nur noch digital, mit einer kleinen Sony-Kamera. "I love digital. Film is so messy. Especially splicing is so boring. And I can do the sound myself. If I want to make it louder, I go nearer to the thing I’m filming." Ein schlechter Vormittag für das Zelluloid, diese Vorführung mit Richard Leacock, aber ein großer Tag für den Film.
1 Kommentar:
Ich habe mir gerade Miss Vicky Page ins Schlafzimmer gehängt und finde das, was hier über "The Red Shoes" steht, gar nicht gut.
Belphegor
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