Es kann hilfreich sein, mit einem schlechten Film in ein Festival zu starten. Der fordert einen mehr heraus als ein gutes Werk, darüber nachzudenken: Was ist das eigentlich, ein guter Dokumentarfilm? Nachdem ich Das Rudel von Alexander Schimpke (Deutschland 2009) gesehen hatte, notierte ich mir: "Der größte Feind des Dokumentarischen ist nicht die Inszenierung, sondern Mangel an Distanz. Der Regisseur darf seinem Gegenstand und seinen Protagonisten nahe kommen, aber er muss eine Haltung zum Material entwickeln, die nicht identisch ist mit der der Protagonisten. Daraus ergibt sich eine Spannung, für die der Filmemacher eine Form finden muss. Ohne Distanz entstehen Propaganda- und Image-Filme."
Das Rudel ist ein Imagefilm für die sich selbst Ultras nennenden Fans des Fußballvereins 1. FC Union Berlin, weil er dem Selbstbild der Protagonisten nichts entgegensetzt, sondern alle Aspekte des von ihnen behaupteten Gemeinschaftsbildes abbildet und verstärkt. Das Versprechen des Katalogs, dass der Film sich auf die Gesänge und Choreografien des Fanblocks konzentriert und den Zuschauer in die "Gänsehaut-Atmosphäre" des Stadions hineinversetzt, wird schnell enttäuscht. Schimpke traut sich nicht, konsequent auf Originaltöne und -bilder zu vertrauen und den Zuschauer daran teilhaben zu lassen, wie Gemeinschaft über Gesang und Rhythmik entsteht. Die Kamera verweilt nie lange genug, eine basslastige Emo-Mucke "bringt die Stimmung erst mal auf eine gewisse Höhe" (Schimpke im anschließenden Publikumsgespräch), Archivbilder, Szenen vor und nach dem Spiel und eine Off-Stimme wechseln permanent den Fokus, sodass sich nicht erkennen lässt, woran der Regisseur eigentlich interessiert ist.
Vermutung: Ich interessiere mich als Zuschauer nicht für Themen und Menschen, sondern für Haltungen zu ihnen.
Dabei finden sich im Material von Das Rudel genug Spuren, den man hätte folgen können. Die Entstehung der Gesänge und Choreografien, die die Bewegung der Ultras auszeichnet. Das Fehlen der Frauen. Das Verhältnis zur Gewalt. Der Übergang vom Einzelnen in die Fanblock-Masse. Stattdessen ist im Film alles Persönliche in eine "Wir"-Erzählerstimme aufgelöst worden, deren Text Schimpke aus Interviews mit verschiedenen Ultras destilliert hat. Es gibt im Film nichts, was seiner Hauptaussage widerspricht: Ultrasein ist ein elektrisierendes Gemeinschaftserlebnis, kreativ, kaum gewalttätig, ehrlich. Hinterher war ich kaum überrascht, als Schimpke erzählte, dass er alle Phasen des Films mit den Ultras abgesprochen hat. Sie hatten das letzte Wort, was reinsollte und was nicht. Nur den Titel hat er selbst bestimmt.
Interessant war Schimpkes Begründung für diese Aufgabe der gestalterischen Kontrolle: Der Film sollte den Ultras gehören und nicht dem bürgerlichen Milieu der Filmakademie Baden-Württemberg, über deren Abschottung vom "wirklichen Leben" Schimpke sich vehement beklagte. Er bekam viel Beifall vom vorwiegend jungen Publikum in Leipzig, es wäre sicher interessant, dieser Kritik am deutschen Lehrsystem einmal nachzugehen. Andererseits scheint mir die gefühlte Entfremdung vom Rohen, Authentischen, Direkten die bürgerlichste aller Gemütslagen zu sein. Und überhaupt keine Rechtfertigung dafür, die dokumentarische Form für eine falsche Direktheit aufzugeben. Den Widerspruch zwischen vermuteter Intensität des Lebens und distanzierter Beobachterposition aushalten zu können, ist die erste Tugend des Dokumentaristen. Sonst erhält man einen unfokussierten Imagefilm, der den Bildern, die sich die verschmähten bürgerlichen Medien vom Anderen machen, ähnlicher ist, als einem lieb ist: die Ultras als homogene männliche Masse, latent gewaltbereit, eine (Überraschung!) positive Meinung über sich selbst vertretend. Man kommt ihnen nicht näher, weder indem man einen von ihnen besser kennenlernt, noch indem der Film den Zuschauer durch Rhythmisierung, Intensivierung, Abstraktion (auch das eine künstlerische Haltung) hineinversetzt ins Stadion und ihn zwingt dort zu bleiben.
Ein schönes Beispiel für einen genauen Blick auf das Individuelle bei gleichzeitiger Rhythmisierung des Materials ist Jukka Kärkkäinens Kansakunnan olohuone (The Living Room of the Nation, Finnland 2009). In starren Einstellungen, die an Bilder aus Roy-Andersson- oder Aki-Kaurismäki-Filmen erinnern, werden Einblicke in finnische Wohnzimmer gegeben. Die Protagonisten sind finnische Männer in verschiedenen Stadien der Verwahrlosung, denen der Film beim Sinnieren über Vergangenheit und Zukunft lauscht oder dabei zusieht, wie sie ihre massiven Körper aus diversen Sitz- und Liegemöbeln heraus- oder hineinwuchten. Am schönsten eine Szene mit einem werdenden Vater, der am Küchentisch über die Verantwortung sinniert, die er nun bald übernehmen muss, während im Hintergrund der Inhalt einer Pfanne, die er gerade auf den Herd gesetzt hat, in Flammen aufgeht und sich in Rauch verwandelt, der den Monolog des Mannes dramatisch einhüllt. Als dieser sich endlich umdreht, hat sich sein Essen verflüchtigt.
Noch einen Schritt weiter in Richtung Inszenierung der Protagonisten geht Peter Kerekes in Cooking History (Österreich/Slowakei/Tschechische Republik 2009), in dem er Militärköche porträtiert, die an einer Reihe bewaffneter Konflikte des 20. Jahrhunderts beteiligt waren. Kerekes scheut sich nicht, erzählte Szenen zu re-inszenieren, einen Koch lässt er noch einmal vor einem russischen Panzer in ein Maisfeld flüchten, einen anderen seine Abenteuer in einem untergegangenen U-Boot während einer Flut nacherzählen, die ihn und seine Kochplatte langsam davonschwimmen lässt. Das ist lustig, aber ab einem gewissen Punkt nicht mehr dokumentarisch, weil es sich zu weit vom Material entfernt. Oder vielmehr: Das Material ist immer so inszeniert, dass die beabsichtigte Pointe immer schon in ihm enthalten ist. Es gibt auch hier zu wenig Spannung zwischen den Protagonisten und dem Regisseur, der eindeutig die Hosen anhat.
Hinzu kommt bei Cooking History ein Problem, das auch Das Rudel hat: ein allzu manipulativer Einsatz von Musik. Bilder einer von einem Hubschrauber transportierten Feldküche unterlegt Kerekes zum Beispiel mit dem aus Apocalypse Now bekannten Walkürenritt, was einen Moment lustig ist, aber letztlich nichts weiter dokumentiert als die Sehnsucht des Regisseurs, dass das Publikum denselben Humor habe wie er selbst. In Fliegerkosmonauten (Deutschland/Polen 2009) von Marian Kiss, der die überlebenden Kosmonauten der kommunistischen Brüderstaaten porträtiert, die ab Ende der 70er Jahre die Arbeiterklasse im All vertreten sollten, wurde die Musik konsequent nach dem Land ausgewählt, in dem der Ex-Kosmonaut lebt: In der Mongolei wird’s mongolisch, in Kuba kubanisch. In solchen Fällen schließe ich seltsamerweise immer die Augen, wie auch bei Bildern, die ich als dumm oder redundant empfinde. Wie um sich selbst und dem Film zu beweisen, dass beim Öffnen der Auge alles bei Alten und der Film keinen Schritt vorangekommen ist. Synästhesie der Abneigung.
Mich beeindruckt es immer, wenn es einem Regisseur gelingt, die Tonspur mit den Geräuschen, Stimmen, Klängen zu füllen, die im Material selbst enthalten sind. Wie Bernhard Sallmann in seinem schönen Träume der Lausitz (Deutschland 2009) zum Beispiel, der in der Nachfolge Peter Rochas diese vom Braunkohle-Tagebau zerfressene und langsam wieder genesende Landschaft porträtiert. Der Gesang eines Chores, Schuberts Forellenqunitett, das einer der Protagonisten hört, das Schlagen einer Glocke und immer wieder der Wind, der über die karge Landschaft und durch die verloren in ihr stehenden Bauwerke der Internationalen Bau-Ausstellung hindurchpfeift, bilden den Soundtrack den Films. Auch sonst zeigt sich Sallmann in diesem Film als guter Schüler Volker Koepps, als geduldiger Beobachter von Landschaften und ihrer Bewohner, dem es im konkreten Blick auf die Gegenwart gelingt, Vergangenes und Zukünftiges zu vermitteln. In schöner Ausgewogenheit wechseln sich die klaren Landschaftsaufnahmen des Kameramannes Börres Weiffenbach mit Szenen ab, in denen die Protagonisten über die Lausitz sprechen: die Rückkehr der Wölfe, Fürst-Pücklers Gärten, entleerte Dörfer, das Arrangieren von Findlingen und, vielleicht ein bisschen zu oft, die Bedeutung der IBA.
Das Scheitern eines Filmes lässt sich leichter beschreiben als sein Gelingen. Gelingen ist immer ein kleines Wunder, für das einem erst mal die Worte fehlen. Volker Koepps Berlin – Stettin (Deutschland 2009), in dem er viele Landstriche und Protagonisten aus seinem Werk ein weiteres Mal aufsucht, zeigt, dass dieses wundersame Gelingen etwas mit Ausgewogenheit zu tun hat: Zwischen der Gegenwart der Gesichter und Gegenden und der Vergangenheit des Erzählten. Zwischen Material und Form. Zwischen dem Konkreten der persönlichen Erfahrung und einer Spur, vielleicht einer These, die sich aus den vielen Geschichten herausschält. Zwischen Sprechen und Schauen. Zwischen Suchen und Finden. Koepp erzählte nach dem Film, dass er die Exposees zu seinen Filmen, die er für die finanzierenden Fernsehanstalten so schreiben muss, als ob er schon genau wüsste, worum es geht, anschließend gar nicht mehr anschaut. Lieber stellt er sich mit seinem Team an eine Kreuzung und wartet, das etwas passiert. "Und irgendwas passiert immer." Oft sogar, so Koepp, genau das, was man sich im Exposee erträumt hatte.
Ein Beispiel großer Ausgewogenheit ist auch Les arrivants (The Arrivals, Frankreich 2009) von Claudine Bories und Patrice Chagnard, der diesjährige Gewinner der Goldenen Taube für den besten internationalen Langfilm. Die Filmemacher porträtieren die Institution der CAFDA, einer Anlaufstelle für Asylsuchende in Paris, indem sie sehr genau verfolgen, wie sich die Gespräche zwischen Behördenangestellten und Asylsuchenden gestalten. Wie schnell offenbar wird, geht es in diesen Gesprächen darum, das Ungeheure der persönlichen Erfahrung (Vergewaltigung, Folter, Verfolgung – schon diese Aufzählung ist eine kaum zu ertragende Abstraktion) in ein dokumentierbares, justiziables Behörden-Französisch zu übertragen. Eine große Rolle kommt dabei den Übersetzern zu, die in persona oder über eine Hotline versuchen, die sprachlichen und kulturellen Missverständnisse im Rahmen zu halten. Der Film schafft es, die Komplexität dieses Vorgangs abzubilden, ohne sich auf eine Seite zu schlagen. Die abgrundtiefe Erschöpfung der Asylsuchenden wird ebenso sichtbar wie die konstante Überforderung der CAFDA-Angestellten, die permanent Hilfsbereitschaft simulieren müssen, obwohl ihr Budget stark begrenzt ist und ihr eigentlicher Auftrag darin besteht, ihr Gegenüber eines Verstoßes gegen das Schengen-Abkommen oder sonstiger Gesetze zu überführen, was zur Ablehnung führt. Dieser Performance wohlwollender Staatsmacht korrespondiert die zunehmende Gewitztheit der Asylsuchenden, die, nachdem sie aus ihrer Anfangslethargie erwacht sind, sich im Laufe der Gespräche auf die ihnen zugewiesene Rolle einpendeln und erzählen, was sie meinen, das ihr Gegenüber hören will.
"Irgendwann hat mich die Sonne verlassen.
Aber irgendwann leuchtete mir der Mond."
Ito – Diary of an Urban Priest
Aber irgendwann leuchtete mir der Mond."
Ito – Diary of an Urban Priest
Auch eine schöne Festival-Erfahrung: Jede Regel, die man aufgrund eines schlechten Films meint, für das Genre insgesamt aufstellen zu können, wird oft durch einen guten Film wieder über den Haufen geworfen. Pirjo Honkasalos Seitti – kilvoittelijan päiväkirja (Ito – Diary of an Urban Priest, Finnland, Japan 2009) zum Beispiel, das Porträt eines japanischen Exboxers, der nach einer Verletzung in eine tiefe Sinnkrise gerät, sich zu einem buddhistischen Priester ausbilden lässt und eine Bar eröffnet, ist mit viel Musik unterlegt, die die dunkle, konzentrierte, spirituelle Stimmung des Films angenehm akzentuiert. An keiner Stelle habe ich die Augen geschlossen. Ito spielt ausschließlich in der Nacht, in der die Lichter der Stadt so geheimnisvoll funkeln wie in lange keinem Film mehr. Tokio Noir. Honkasalo hat eine kongeniale Ästhetik für die aus dem Leid des Priesters gewonnene Erkenntnis gefunden, dass sich die Schönheit des Paradieses dem Menschen nicht im Himmel offenbart, sondern in der Dunkelheit der Hölle. Der Tod und das Leiden sind zentrale Themen dieses wunderbar ernsten Films, alle Gespräche, die der Priester führt, kreisen darum. Erstaunliche, lange Dialoge, alle Figuren scheinen auf der Suche nach einer tieferen Erkenntnis ihrer selbst, sind dabei aber ganz undogmatisch, dem Leben nicht im geringsten entrückt.
Zum Schluss noch ein tolles Doppelprogramm: Petropolis (Kanada 2009) von Peter Mettler und Xianshi shi guoqu de weilai (Disorder, China 2009) von Weikai Huang. Auf der einen Seite der Blick von oben, auf das Gebiet der Alberta Tar Sands, das zweitgrößte Erdölvorkommen der Welt. Weil Mettler keine Drehgenehmigung auf dem Gelände selbst erhielt, stieg er mit einem Hubschrauber in die Luft und filmte die zerfressene Landschaft von oben. So ökologisch wertvoll das Anliegen, so begrenzt ist die gewählte Perspektive, die noch das dreckigste Chaos in Schönheit und Muster verwandelt. Dann doch lieber der Scheißhausfliegen-Kaleidoskopblick von Disorder, den Huang aus Material zusammengestellt hat, das verschiedene Kameramänner in chinesischen Städten eher zufällig als geplant filmten: entlaufene Schweine auf der Autobahn, Unfallopfer, ein ausgesetztes Baby, ein Krokodil, Überschwemmungen, Dreck, ein Mann, der in der Kloake fischt, ein Verrückter, Lärm, ein einzige sich langsam steigernde Kakophonie der Großstadt, ein Reigen dreckiger Bilder und Töne. Manchmal schwenkt die Kamera in den Himmel und erfasst einen Zeppelin. Von da oben sieht das alles bestimmt ganz hübsch aus.
1 Kommentar:
ziemlich arrogant aber seltsamer weise nicht so intelligent wie es im ersten Augenblick scheint.
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