Von dem schmalen Gringo mit dem tadellos sitzenden Anzug kann man die Augen nicht abwenden, wie er da durch die Betriebsamkeit einer mexikanischen Stadt schreitet. Er gehört nicht dazu, das ist ab der ersten Einstellung klar, dennoch bewegt er sich mit der größten Selbstverständlichkeit zum Bahnhof, wo er ein Ticket für die am weitesten entfernte Stadt kauft. Im Abteil stellt ihm eine Mexikanerin ihren Korb auf den Schoß, während sie den Rest ihres Gepäcks verstaut. Lärm herrscht im Waggon, doch um den fremden Mann bleibt eine Stille, eine Rätselhaftigkeit, die sich bis zum Ende des Films nicht verlieren wird. Etwas angewidert streift er sich Schmutz von der Schulter, den niemand außer ihm sehen kann. Der Mann heißt Bill, und keiner hätte ihn so unberührbar spielen können wieder der in Kolumbien geborene und in Italien aufgewachsene Schauspieler Lou Castel, dem das B-Movie eine dreimonatige Retrospektive widmet.
"Du säufst nicht und trinkst nicht und die Weiber interessieren dich auch nicht. Was regt dich eigentlich auf?", fragt El Chuncho (Gian Maria Volonté) später Bill, nachdem Chunchos Bande den Zug überfallen und den Amerikaner in die eigenen Reihen aufgenommen hat, weil er den Zugführer erschoss. "Das Geld", antwortet Bill, aber letzte Gewissheit lässt sich über seine Motivation bis ans Ende von Damiano Damianis großartigem Revolutionswestern Töte Amigo (Italien, 1966) nicht erlangen. Quien sabe? lautet der Originaltitel dieses Films, in dem revolutionäres Handeln keinem reflektierten Bewusstsein der Figuren entspringt, sondern dem ständigen Reagieren auf einen anarchischen Ausnahmezustand, in dem alle Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden. Ob El Chuncho ein aufrechter Revolutionär ist wie sein Bruder Santo (Klaus Kinski in Priesterkutte) oder ein Kriegsprofiteur, Bill ein Gegner des Großkapitals oder sein Handlanger – wer weiß das schon?
Fest steht jedenfalls, dass die von Castel gespielte Figur des Bill ein Fremder ist und bleibt für jeden, der seine Dienste in Anspruch nimmt, eine wandelnde Antithese der bestehenden Verhältnisse, der weder Staub auf seinem Anzug noch allzu edle Motive auf seinem Gewissen duldet. In dem Interview mit Lou Castel, dass sich auf der DVD von Töte Amigo findet, sagt er: "It’s a good method for an actor to play his ideological opposite." Später spricht er noch von der "dialectical opposition that is in me", die den Interpretationen seiner Rollen ihren Rhythmus und ihre Form gibt. Castel bringt durch seinen Körper eine antagonistische Haltung zum Ausdruck, die seine Figuren, mögen sie nun dem dargestellten System (Gesellschaft, Familie, revolutionäre Gruppe) dem Augenschein nach konform sein oder nicht, immer zu Fremden macht, die die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Oder um es mit einer schönen Formulierung des B-Movie-Teams zu sagen: "Wo die Umstände nicht unbedingt eine Krise brauchen, sondern Eskalation deren logische Konsequenz ist, setzen wir an, um euch den Schauspieler Lou Castel vorzustellen."
Wenn man endlich mal beginnen würde, Schauspieler nicht nach ihrer expressiven Fähigkeiten, sondern schlicht nach der in ihren Filmografien zum Ausdruck kommenden Haltung zur Welt zu beurteilen, wäre Lou Castel wohl einer der berühmtesten Vertreter seiner Zunft. Bevor er seine Kunst des Fremdseins in den 1970er Jahren bei Fassbinder, Chabrol, Wenders und Garrel unter Beweis stellte, glänzte er neben Töte Amigo noch in zwei weiteren außergewöhnlichen Italowestern: Carlo Lizzanis Mögen sie in Frieden ruhen (OT: Requiescant, Italien 1967) und Cesare Canevaris Willkommen in der Hölle (OT: Mátalo!, Italien 1971). Als Grund dafür, die Rolle in Mátalo! angenommen zu haben, nennt Castel die Tatsache, dass in einer Szene ein Gegner mit einem Bumerang statt mit einer Pistole getötet wird. "Mir gefiel es, dass er um eine Ecke herumfliegen sollte, was Kugeln nicht können."
Fremdheit trotz größter Nähe: Auch das schafft Lou Castel. Jedenfalls wenn er von Philippe Garrel inszeniert wird.
"Eskalation mit Lou Castel" – die Reihe läuft im März, April und Mai im B-Movie. Im April wird Lou Castel als Gast erwartet. Nachtrag (26.4.2009): Hier geht es zum Bericht über Lou Castels Besuch in Hamburg
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