07 Februar 2010

Public Enemies

Notizen zum 15. Internationalen Bremer Symposium „Public Enemies: Film zwischen Identitätsbildung und Kontrolle“ (21.-24. Januar 2010)

Identifikation und Ablehnung, Faszination und Ekel, Gebanntheit und Distanz, das sind die Pole, zwischen denen man sich als Zuschauer immer hin und her bewegt. Vor allem im Kino und ganz besonders bei Bösewichtern, die die bestehende Ordnung und die Zwänge der Gesellschaft manchmal mit der geschickten Anwendung derer eigenen Regeln und manchmal mit brachialer Gewalt aushebeln, gibt es diesen zweifachen Kick: die adrenalingeschwängerte Vorstellung, sich all die schönen Dinge des Lebens auch mal einfach so zu nehmen, und die klammheimliche Freude, wenn der Verbrecher am Schluss von Kugeln durchsiebt oder auf dem elektrischen Stuhl gebraten wird.

Public Enemy No. 1: James Cagney

Wobei der erste Kick der wesentlich stärkere ist. Bösewichter oder auch „Public Enemies“, um den Begriff zu benutzen, um den es beim 15. Internationalen Bremer Symposium ging, sind das Salz des Kinos. James Cagney, Edgar G. Robinson, Paul Muni: Die Gesichter dieser Darsteller fallen einem bei diesem Begriff wohl als Erstes ein. In William A. Wellmans The Public Enemy (1931), Mervyn LeRoys Little Caesar (1931) und Howard Hawks’ Scarface (1932) bildeten sie die Figur des sich von der Gosse an die Spitze der Unterwelt hochballernden Gangsters aus, wurden zu Box-Office-Helden und prägten ein Rezeptionsmodell zwischen Identifikation und Ablehnung, das Winfried Pauleit in seinem Eröffnungsvortrag so beschrieb: „Sie spiegelten das Bedürfnis nach Ausgrenzung des ethisch Verwerflichen (...), lieferten aber auch Bilder der positiven Identifikation und des möglichen Aufstiegs, verbunden mit Reflexionen zur gesellschaftlichen Integration durch Bildung.“

Die überwiegende Zahl der Vorträge näherte sich dem Thema in Form historischer Abrisse, in denen die Entwicklung von Genres oder Figuren nachgezeichnet wurde. So rekapitulierte der britische Filmwissenschaftler Jonathan Munby die drei Phasen einer spezifisch afroamerikanischen Form des Gangsterkinos und seiner Rezeption. Er stellte fest, dass der sogenannte Race Film der 30er, das Blaxploitation-Genre der 70er und die Hood-Filme der frühen 90er Jahre sich zwar der Topoi des klassischen Gangsterkinos bedienten, auf der Ebene der dargestellten Ökonomien, der Kleidung, der Sprache, vor allem aber der Musik ganz andere Identifikationsräume öffneten als „weiße“ Gangsterfilme. So gibt es etwa in den Filmen des schwarzen Regisseurs Oscar Micheaux aus den 30er Jahren die Figur des Kleingangsters, der sich nach oben arbeitet, allerdings nicht durch den illegalen Handel mit Alkohol oder Waffen, sondern mit einer geschickten Reorganisation einer Form des Glücksspiels, die vor allem in den schwarzen Vierteln hohe Umsätze generierte, den sogenannten penny ante bets. Eine große Rolle nahmen bei Micheaux außerdem Nachtclubs ein, deren Ausstattung und Bühnennummern zunehmend die eigentliche Handlung in den Hintergrund drängten. Munby sieht in diesen musikalischen Set-Pieces die Vorläufer der heutigen Musikvideos und wies darauf hin, dass Micheaux viele sogenannte Soundies produzierte, kurze Musikfilme, die man sich nach Münzeinwurf auf „Panorams“ genannten Apparaten ansehen konnte.

Public Enemy No. 2: Fred Williamson als Black Caesar
in Larry Cohens gleichnamigen Film von 1973


Von da aus zog Munby die Linie weiter zur maßgeblichen Rolle der Soundtracks bei den Blaxploitation-Filmen, deren Musik von schwarzen Superstars wie Curtis Mayfield (Super Fly), Roy Ayers (Coffy), James Brown (Black Caesar) und Isaac Hayes (Shaft) geschrieben wurde. Mehr als die Ausführungen Munbys zeugte die von ihm gezeigte Anfangsszene von Shaft davon, dass es bei der Aneignung des Gangsterfilms durch schwarze Künstler um wesentlich mehr ging als um die Zweitverwertung eines kommerziell bewährten Schemas. Zu den funky Rhythmen von Isaac Hayes’ Score fährt die Kamera von oben über Manhattan, senkt sich herab, streift die Marquees von Kinos, in denen Filme von Weißen für Weiße laufen (u.a. Sydney Pollacks The Scalphunters und Sidney J. Furies Little Fauss and Big Halsy) und erfasst schließlich Shaft (Richard Roundtree), wie er durch die Straßen von New York läuft, das, jede seiner Gesten und Blicke macht das deutlich, seine Stadt ist, die Autos haben für ihn zu halten, an den Ecken stehen seine Informanten, er fürchtet niemanden, er ist „black and proud but not obsessed by it“, wie Munby es schön auf den Punkt brachte.



Auch in den Hood-Filmen der frühen 90er (Boyz N the Hood, New Jack City, Menace II Society) ist die Konstruktion schwarzer Gangsterfiguren eng mit den Codes einer ganz spezifischen Musikkultur verbunden. Selbststilisierte Gangsta-Rapper wie Dr. Dre, Ice-T und Ice Cube schrieben nicht nur Songs für die Filme, sondern spielten häufig auch mit. Die Charaktere bezogen einen großen Teil ihres Identifikationspotenzials aus der Überlagerung der kriminellen Aura der Stars und der von ihnen dargestellten Figuren, bedienten sich aber gleichzeitig sehr selbstreflexiv der Gesten und Topoi des Genres. So stellt Tupac Shakur in Juice einen Gangster dar, dessen Karriere Parallelen mit seiner eigenen aufweist, der aber zugleich vollkommen besessen ist von James Cagneys Figur in The Public Enemy.

Dass bei der (Selbst-)Darstellung des delinquenten Anderen, der die herrschende Ordnung bedroht, jeweils schon vorhandene Muster eine große Rolle spielen, weiß man spätestens seit Dillingers eingestandener Schwäche für Gangsterfilme. Zu dieser wechselseitigen Beeinflussung von realen und Kino-Bösewichtern, die sich gegenseitig ihre Tricks, Garderoben und Gesten abschauen, lieferte Annette Förster interessante Aufschlüsse. In ihrem Beitrag über „Female Gangsters in the Silent Cinema“ erinnerte sie an die Taten der anarchistischen Bonnot-Bande, die mit ihren Überfällen das Paris der Jahre 1911/12 in Aufregung versetzte. Die durch sie generierte Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit (in dieser Reihenfolge) erklärte Förster durch eine Reihe von Punkten, die später grundlegend für die kinematische Konstruktion von Staatsfeinden wurden. So war die Bonnot-Gang die erste, die die Tatorte mit Automobilen verließ und so die Polizisten abhängte, die damals noch zu Fuß oder mit Fahrrädern unterwegs waren. Dieser Vorsprung durch Technik, der viele Superbösewichter auszeichnet (zum Beispiel bei James Bond), sorgte für visuell spektakuläre Verfolgungsjagden und Belagerungsszenarien, eine neue Form der Stadtinszenierung war geboren. Dieses Alleinstellungsmerkmal sorgte wiederum für eine hohe Aufmerksamkeit der Medien, deren Rolle bei der Konstruktion von Staatsfeinden nicht überschätzt werden kann. So waren die Mitglieder der Bonnot-Bande die ersten Verbrecher, deren Fotografien von den Zeitungen veröffentlicht wurde, eine Praxis des Identifizierbarmachens durch frontale mug-shots, die in den „Gesucht“-Plakaten mit den Gesichtern der RAF-Angehörigen in den 70ern Jahren eine letzte Blütezeit in der Bundesrepublik hatte. Bezeichnenderweise wurde Bonnot aber nicht erkannt und schließlich gefasst, weil er wie sein eigenes Foto aussah, sondern weil jemand seine Verkleidung wiedererkannte. Auch das ein schöne Lektion über die Identifizierbarkeit des Feindes, die sich durch die Geschichte des Gangsterkinos zieht und zuletzt in Michael Manns Public Enemies auftauchte: Der Staatsfeind ist einer von uns, ein Mann der Straße, der nicht dann erwischt wird, wenn er wie er selbst ausieht (nach nichts also), sondern wie das Image, das er selbst, Medien, Öffentlichkeit und Kino von ihm konstruiert haben.

Public Enemy No. 3: Irma Vep

Andererseits braucht der Verbrecher, das heißt der Topverbrecher, der es zu etwas bringen will in der Imagination und ambivalenten Bewunderung des Publikums, eine wiedererkennbare Form, ein Markenzeichen, ein Image. Die Paradoxie dieses Zustands zwischen spektakulärer, aber identifizierbarer Form und sicherer, aber unrentabler Anonymität bringt sehr schön die Figur der Irma Vep (Musidora) zum Ausdruck, die in Louis Feuillades Les vampires (1915/16) Paris unsicher macht. Wie Förster ausführte, bestand ein Hauptvergnügen des damaligen Publikums darin, Irma Vep zu erkennen, wenn sie auftaucht, denn sie ist immer verkleidet. Ihre Komplizität mit den Zuschauern zeigte sie manchmal durch einen Seitenblick in die Kamera an. Legendär geworden ist sie vor allem durch den schwarzen Ganzkörperanzug, mit dem sie in den Episoden 5 und 6 zu sehen ist, eine Verkleidung, die ihrem Kriminellenkörper einerseits eine klar definierte Form gibt, ihn andererseits aber auch verbirgt, der ihre weibliche Formen zugleich hervorhebt und neutralisiert (in einen Fetisch verwandelt).

Einer grundlegend anderen Art des öffentlichen Feindes gingen Ramon Reichert und Charles Tesson in ihren Ausführungen nach: den unsichtbaren, nicht individualisierten, viralen Antagonisten, die in den 50er Jahren in amerikanischen Lehrfilmen und B-Movies auftauchten. Reichert referierte anhand sogenannter Social-Guidance-Filme, die der amerikanischen Jugend das richtige Verhalten als Staatsbürger beibringen sollten, über die damals stattfindende Metaphorisierung des Gehirns als neues Schlachtfeld, auf dem die eigenen Gehirnzellen gegen schädliche Gedanken kämpfen. Vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse der Hirnforschung und des ideologischen Klimas des Kalten Krieges entstanden nicht nur eine neue militärische Doktrin des „Brain-Warfares“ (diesen Begriff verwendete Allen W. Dulles 1953 bei seiner Antrittsrede als CIA-Direktor), sondern auch eine Reihe von biologischen Rhetoriken und Metaphern (Netzwerk, Schwarm, Immunsystem, Virus), die dazu dienten, dem neuen Feind ein bekämpfbare Form zu geben.

Public Enemy No. 4?
Kevin McDonald in Invasion of the Body Snatchers


Wie bei allen bipolaren, antagonistischen Modellen brachte die Beschwörung der „kollektiven“ Gefahr, die dem amerikanischen Individuum von außen drohte, dieses gleich mit zum Verschwinden, indem es den Einzelnen als Hort schwer kontrollierbarer Zellen stilisierte. B-Movies wie Jack Arnolds It Came From Outer Space (1953), William Cameron Menzies’ Invaders from Mars (1953) und Don Siegels Invasion of the Body Snatchers (1956), über die Charles Tesson referierte, beziehen ihre Unheimlichkeit und Spannung aus dieser Unlokalisierbarkeit des Anderen, mit der auch der ontologische Status des Eigenen, der Familie, des Dorfes, des Körpers, unsicher wird. Am Beispiel des tollen Invasion of the Body Snatchers, dem ersten und nüchternsten der Pod-Filme (Philip Kaufmans Remake von 1978 ist auch klasse), in dem die Bewohner einer Kleinstadt nach und nach durch exakte pflanzengeborene Alien-Kopien ersetzt werden, lässt sich erkennen, dass die Lesart dieser Filme als antikommunistische Fabeln oft zu kurz greift und eine beunruhigendere Interpretation überdeckt: Das Eigene konstituiert sich immer über ein antagonistisches und klar zu identifierendes Anderes. Fehlt dies, wandert die unheimliche Unlesbarkeit wieder in den eigenen Körper und Geist zurück.

Egal ob filmisch oder juristisch, Staatsfeinde müssen, um ihrer habhaft zu werden (rhetorisch, moralisch, prozessual), immer erst einmal konstruiert werden. Das geht am besten mit als böse gekennzeichneten Individuen, schwieriger wird es, wenn diese abhanden kommen. Judith Keilbach zeigte das in ihrem Vortrag „Gewöhnliche Deutsche: Zum dokumentarischen Umgang mit NS-Tätern und Neonazis“ anhand von US-Rekrutierungsfilmen aus den letzten Kriegsmonaten, als Hitler und Goebbels schon tot waren und neben Bildern des offensichtlich zum ikonografischen Top-Nazi aufgestiegenen Julius Streicher plötzlich Aufnahmen der deutschen Wehrmacht-Truppen dominieren. Der Feind waren nun nicht mehr nur einzelne Verantwortliche, sondern das gesamte deutsche (männliche) Volk, eine jederzeit für den Kampf bis zum Äußersten formbare gesichtslose Masse.

Wie schwierig ist, einen Menschen als Feind oder gar Dämon zu identifizieren, wenn dieser sich als allzunormaler Jedermann gibt, kann man gut in Eyal Sivans Un specialiste (1998) verfolgen, einem komprimierten Blick auf den Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem. Anders als die zeitgenössischen Medienberichte, die fast ausschließlich um die vielen Zeitzeugen kreisten, die im Gerichtssaal über ihre Erfahrungen während des Holocaust berichteten, konzentrierte sich Sivan bei seiner Sichtung der 350 Stunden erhaltenen Videomaterials auf Eichmann selbst, seine Worte, Gesten, Mimik. Sichtbar wird dabei weder der überlebensgroße Dämon, als den ihn die Staatsanwaltschaft gerne stilisieren wollte, noch der banale Hanswurst, als den Hannah Arendt ihn in Eichmann in Jerusalem beschrieb. Zu sehen ist vielmehr das geschickt dargebotene Selbstkonstrukt eines genauen und effizienten Beamten, der die ihm zugewiesene Funktion im von ihm selbst als verbrecherisch bezeichneten System perfekt ausgeführt hat: die möglichst reibungslose Organisation des Zugverkehrs zu den Konzentrationslagern. Wie Keilbach ausführte, fand das Jerusalemer Gericht kaum Mittel, dieser Selbststilisierung Eichmanns als Rädchen im Staatsgetriebe etwas entgegenzusetzen. Die Schuld Eichmanns ist spürbar, wird aber während des Prozesses (jedenfalls den Teil, den man im Film sieht) an keinem Punkt juristisch schlüssig auf den Begriff gebracht.

Public Enemy No. 5: Adolf Eichmann

An diesem Scheitern lässt sich wieder die Ambivalenz feststellen, die die Konstruktion eines feindlichen Gegenübers immer mit sich bringt: In der Stilisierung des Anderen, in der Zuweisung von „bösen“ Eigenschaften, konstruiert man gleichzeitig immer ein Bild des eigenen (Staats-)Körpers, das der Figur des Public Enemy zwar in einigen Aspekten diametral entgegengesetzt ist, aber auch strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen muss, damit dieser bekämpfbar wird. Die Pariser Polizei musste sich motorisieren, um die Bonnot-Bande zu jagen, das FBI sich straffer organisieren, um die Chicagoer Gangster hochzunehmen, die Amerikaner sich als Kollektiv prekärer Zellen begreifen, um nicht zu Kommunisten werden. Was muss man tun, um Eichmann habhaft zu werden? Vielleicht muss man ein Stück weit selbst zum sturen und emotionslosen Beamten werden, sich akribisch in die Akten einlesen, um in den Diagrammen, Zugfahrtzeiten, Belegungsplänen und Notizen den Beweis zu finden, dass Eichmann doch Verantwortung trägt.

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