07 Juni 2010

O tempora o mores!

„Außer ein paar lebenden Bildern in Paris habe ich, glaube ich, in meinem ganzen Leben nur einen einzigen pornographischen Film gesehen. Er hatte den entzückenden Titel Soeur Vaseline. Man sah eine Nonne in einem Klostergarten mit einem Gärtner schlafen, der es seinerseits mit einem Mönch trieb, bis sich alle zu einer Nummer zu dritt zusammenfanden. Ich sehe noch die schwarzen Baumwollstrümpfe der Nonne vor mir, die über dem Knie aufhörten. Jean Meauclair vom Studio 28 hatte mir den Film geschenkt, ich habe ihn verloren. Mit René Char, der kräftig war wie ich, plante ich, in eine Kindervorstellung einzudringen, den Vorführer zu fesseln und zu knebeln und dem jugendlichen Publikum Soeur Vaseline vorzuführen. O tempora o mores! Kinder zu verderben erschien uns als eine der anziehendsten Formen von Subversion. Natürlich ist es bei der Absicht geblieben.“ (Luis Bunuel, Mein letzter Seufzer)
Was Bunuel plante und Tyler Durden in Fight Club in die Tat umsetzte, davon blieb ich als Kind verschont und davon träume ich als Erwachsener: dass eines Tages beim Filmkonsum das herrschende Bildregime ganz plötzlich und unvorbereitet durch ein anderes, blutigeres, nackteres abgelöst wird, durch ein Bild oder eine Szene, die den Rahmen sprengt. Dieses abrupte Auftauchen eines Anderen, das nicht notwendigerweise das Reale sein muss, bezeichnet man in der Psychologie wie auch in der Kunst als „Schock“. Was im einen Fachgebiet durch seine häufig traumatisierende Wirkung gefürchtet wird, wird im anderen gefeiert als Garant für Katharsis und tiefere Einsicht. In seiner Geschichte der Eisenbahnreise definiert Wolfgang Schivelbusch den Schock so: „Mit Schock wird derjenige plötzliche und heftige Gewaltvorgang beschrieben, der die Kontinuität einer künstlich-mechanisch hergestellten Bewegung oder Situation durchschlägt, sowie der darauffolgende Zustand der Zerrüttung.“ Eng verbunden mit dieser mechanistischen Auffassung des Schocks ist der Begriff des Reizschutzes, eines mentalen Apparates, der für eine kontinuierliche Wahrnehmung der Realität und die Ausblendung/Dämpfung störender Faktoren zuständig ist.

Diesseits der Reizschutzmauer: Le sang des bêtes von Georges Franju

Das Kino ist eine paradoxe Institution, weil es zugleich ein Ort des Reizschutzes ist, eine dunkle, samtverkleidet Höhle, die den Zuschauer vor der harten und grausamen Welt da draußen schützt; und ein Ort, an dem wir uns die Begegegnung mit dem Anderen, dem Realen, dem Grausigen ersehnen, um in einen Zustand der Zerrüttung zu geraten und geläutert in die plötzlich erträglich gewordene Realität hinauszutreten. Durch die Kinohistorie zieht sich wie ein verborgener roter Faden die Geschichte der Versuche, den jeweils geltenden Reizschutz-Kontrakt zwischen Filmemachern und Publikum zu brechen und Bilder einzuschmuggeln, die, um eines der berühmtesten zu zitieren, die Augen des Betrachters zerschneiden. Dass an diesem Versuch immer noch gearbeitet wird, sagt etwas darüber aus, dass die Geschichte der Kinoschocks nicht linear und geradaus verläuft, sondern in Wellen, Schleifen, Strudeln. Vielleicht werden sich die Bildkonsumenten in nicht allzu ferner Zukunft im Familienkreise an pornografischen 3-D-Extravaganzen erfreuen, in die terroristische Hacker Bilder von grünen Wiesen und ausgestorbenen Tierarten einzuspeisen versuchen.

Es ist keine Eigenschaft des Bildes, das den Schock hervorruft, sondern die Differenz zum vorhergehenden Bild. Ein sehr schönes Beispiel für einen klassischen Schock , für einen Einbruch des blutigen Realen in die romantische Idylle, findet sich in George Franjus Le sang des bêtes. In der Doku Lynch erzählt der Meister selbst über seine Begegnung mit diesem Film, dessen elektrisierende und zerrüttende Wirkung in seinen Worten mitschwingt (womit Frage 3 des Wayward-Cloud-Jubiläums-Quiz aufgelöst wäre; bleiben noch drei weitere Fragen …):
„There’s this film I saw one morning and it was incredible. It was kind of black and white and I could swear it was colored … in this cool countryside two lovers arm in arm are walking as I recall, I don’t know for sure … and they cut from this couple walking down this road to this … old place man it was so beautiful … this courtyard, stonewalls like 15 feet tall, cobblestones, giant iron gate … and they bring out this giant white horse, you see the steam coming out … guys with these thick aprons and gloves and stuff … and they take this thing like a giant white tube … and they take it to the horse’s head … boom … down it goes … and they take this chain and they pull this horse up … they slit its neck, blood just gushing out … steam going all over the place … they gut this thing and the guts roll out … and just like bang you know they got the thing cleaned out … you know … no more horse.“
In den letzten 15 Jahren hat wahrscheinlich kein anderer Regisseur so intensiv die Reizschutz-Schwelle des Publikums bearbeitet wie Takashi Miike. Sein bester Film in dieser Hinsicht ist nicht Dead or Alive, Visitor Q oder Ichi the Killer, die von der ersten bis zur letzten Minute die Schwelle des visuell Erträglichen weiter verschieben, sondern der großartige Audition, dessen schockartiger Umschwung ganz am Ende kommt. Wie in Hitchcocks Psycho (von der Werbekampagne bis zum Handlungsaufbau einer der gründlichsten Versuche in der Filmgeschichte, das Publikum zu schocken) nimmt das Unheil mit dem lustvollen Blick eines Mannes seinen Anfang: Der Witwer Aoyama sucht und findet bei einem getürkten Casting einen würdigen Ersatz für seine verstorbene Frau. Doch in Japan sind die Pathologien anders gelagert als in Bates’ Motel, scheint doch diesmal der Tod dem begehrenden Blick vorangegangen zu sein.

Jenseits der Reizschutzmauer: Audition von Takashi Miike

Ist Aoyamas Angebetete ein Geist, ein Dämon, ein Phantasma des Mannes? Jedenfalls kann sie außerordentlich handgreiflich werden, und im Finale muss Aoyama feststellen, wie außerordentlich schmerzhaft es sein kann, selber zum Objekt eines Castings degradiert zu werden. Diese plötzliche, kaum angekündigte Umkehrung vom Schauenden zum Angeschauten, von der agilen Wunschmaschine in eine passive Leidensmaschine, erleidet Aoyama an unserer Statt, stellvertretend für den Zuschauer, dem von der unvorstellbar schmerzhaften Begegnung mit dem Realen wieder einmal nur ein schwacher Abglanz bleibt, eine Reizüberflutung, die sich in angenehmer Katharsis auflöst. Dem Kino sei Dank.

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In der Reihe „Brigade Mondaine“ laufen im Juni folgende Filme im B-Movie:

Audition, Japan 1999, 35mm, OmU, 115 Min., Regie: Takashi Miike, Kamera: Hideo Yamamoto, mit Ryo Ishibashi, Eihe Shiina

Das Schweigen, Schweden 1963, 35mm, DF, 96 Min., Regie: Ingmar Bergman, Kamera: Sven Nykvist, mit Ingrid Thulin, Gunnel Lindblom

Montana Sacra, Mexiko/USA 1973, 35mm, DF, 114 Min. Regie: Alejandro Jodorowsky, Kamera: Rafael Corkidi, mit Alejandro Jodorowsky, Horacio Salinas

Das Bildnis der Doriana Grey (aka Die Marquise von Sade), Schweiz 1976, 35mm, DF, 78 Min., Regie: Jesus Franco, Kamera: Peter Baumgartner, Jesus Franco, mit Lina Romay, Monica Swinn

Kurzfilmprogramm „Jugend ohne Gott – Eine heitere Einführung in den subversiven Film“
u.a. mit Un chien andalou (Frankreich 1928, Regie: Luis Bunuel, Salvador Dalí), Soeur Vaseline (Frankreich 1925, Regie: Anomym), It’s a sin (England 1987, Regie: Derek Jarman), Fireworks (USA 1947, Regie: Kenneth Anger), Les Miserables (Österreich 1987, Regie: Mara Mattuschka), Mann & Frau & Animal (Österreich 1973, Regie: Valie Export), Rubber Johnny (England 2005, Regie: Chris Cunningham), Le sang des bêtes (Frankreich 1949, Regie: Georges Franju)

2 Kommentare:

raul hat gesagt…

Hi! That "Jugend ohne Gott – Eine heitere Einführung in den subversiven Film" is a short film? Does it have an English title? Do you know if it's online?

The Wayward Cloud hat gesagt…

Dear Raul,

"Jugend ohne Gott" is not a film but the title of a program of shorts which was shown at the cinema B-Movie in Hamburg. It is also the title of a play by Ödön von Horvath.