28 November 2009

5 Fragezeichen

Gewinne Gewinne Gewinne! Machen Sie mit beim großen Wayward-Cloud-Jubiläums-Quiz, zeigen Sie, was Sie filmgeschichtlich draufhaben, und holen Sie sich fantastische Preise!

So geht’s: Beantworten Sie eine der unten stehenden Fragen, indem Sie bei Wayward Cloud einen Kommentar hinterlassen (der Button findet sich am Ende dieses Eintrags). Geben Sie dabei Ihre E-Mail-Adresse direkt an oder senden Sie sie gesondert an vhummel@foni.net. Ich melde mich zurück, und im Falle einer richtigen Antwort dürfen Sie sich einen der Preise aussuchen. Dieser wird Ihnen kostenfrei zugesandt.

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Die Fragen

1. Aus welchem Film stammt folgende Einstellung?



2.
"Everybody smoked cigars in those days. It was nothing stylish or extraordinary, just something men did. I got hooked on the pleasure. As you puff away – never inhaling, of course – the smoke warms your heart and your mind. In the last seven decades since my reporting days, I’ve rarely been without a cigar firmly planted between my lips. That chagrins some people, mostly the uninitiated. When they protest, I act deaf, smile, and take another puff." (aus Samuel Fullers Autobiografie A Third Face)
Sam Fullers zweites Gesicht

Was ist Samuel Fullers "drittes Gesicht" (in Wort oder Bild)?


3.
"There’s this film I saw one morning and it was incredible. It was kind of black and white and I could swear it was colored … in this cool countryside two lovers arm in arm are walking as I recall, I don’t know for sure … and they cut from this couple walking down this road to this … old place man it was so beautiful … this courtyard, stonewalls like 15 feet tall, cobblestones, giant iron gate … and they bring out this giant white horse, you see the steam coming out … guys with these thick aprons and gloves and stuff … and they take this thing like a giant white tube … and they take it to the horse’s head … boom … down it goes … and they take this chain and they pull this horse up … they slit its neck, blood just gushing out … steam going all over the place … they gut this thing and the guts roll out … and just like bang you know they got the thing cleaned out … you know … no more horse." (David Lynch in der Dokumentation Lynch von blackANDwhite)
Von welchem Film spricht Lynch?


4. Die große Google-Schnitzeljagd! Eine Antwort führt zur nächsten, alles ist im Netz recherchierbar. Alle Fragen, nicht nur die letzte, müssen beantwortet werden

a) Mitte der 90er Jahre wollten Martin Scorsese und Jonathan Demme einen Film von Sam Fuller produzieren, aus dem leider nichts wurde. Wessen Lebensgeschichte wollte Fuller damals verfilmen?

b) Auf der Geschichte von (a) basiert ein berühmter Roman, der häufig verfilmt wurde. Welchen Film drehte der Regisseur, der die zweite Verfilmung dieses Buches gemacht hatte, genau 20 Jahre später?

c) Vor seiner Hauptrolle in (b) spielte ein berühmter männlicher Hollywoodstar im Film eines Regisseurs mit, der in seinem Leben leider nur wenige Filme realisieren konnte. 1976 stand dieser Regisseur gemeinsam mit einem seiner Lieblingsschauspieler in einem sehr schönen, fast vergessenen Film vor der Kamera. Welche Fernsehfigur hat dieser zweite Hauptdarsteller berühmt gemacht?

d) Der Titel der einzigen Folge von (c), die 1998 gedreht wurde, ist identisch mit dem Songtitel eines berühmten Popstars, der auch in einigen Filmen zu sehen ist, darunter einer von Martin Scorsese. Wie heißt die Figur, die er dort spielt?

e) Glaubt man IMDB, kommt (d) in vier 1979 gedrehten Filmen vor, aber nur in einem wird gesungen. Welches Lied?

g) Das zweite Wort von (e) ist auch das zweite Wort eines Filmtitels, den Wayward Cloud und Dominik Graf sehr mögen. Welcher?


5. In der Filmografie von James O. Incandenza findet sich neben dem berüchtigten Infinite Jest noch ein weiterer Film, den ich unbedingt sehen möchte, nämlich ein Rape-Revenge-Movie. Wie lautet sein Titel?

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Die Preise

>> Ein Exemplar von Dominik Grafs Schläft ein Lied in allen Dingen

>> Die neueste Ausgabe von SigiGötz Entertainment

>> Eine DVD von Thomas Heises Kinder. Wie die Zeit vergeht

>> Eine DVD von Gordon Douglas’ Barquero
"Der Fluss, das ist wie eine Mauer. Und ich mag keine Mauern." Darum hat sich Travis (Lee Van Cleef) ein Floß gebaut und ist Fährmann geworden. Auf der einen Seite Mexiko, auf der anderen eine Siedlung, deren Kirche noch in Bau ist. Eines Tages kommt Remy (Warren Oates) mit seiner Bande, einer Ladung geklauter Gewehre und einer Krone um seinen Hut und will übersetzen. Doch Travis hat sich mit den Siedlern auf die andere Seite geflüchtet, der Erzähl-Fluss wird träge, und Barquero entwickelt sich zu einem ganz außergewöhnlichen Western, voller Doppelungen und Spiegelungen. Während an einem Ufer der kiffende Remy wie eine langsam irr werdende Königsfigur von Shakespeare wider alle Vernunft ausharrt, von seinem künftigen Imperium deliriert und schließlich den Fluss erschießt, bleibt der pfeiferauchende Travis auf der anderen Seite bis zum Schlussduell ein undurchschaubarer Grenzgänger zwischen brutalem Egoismus und gelassenem Pragmatismus. Barquero hat tolle Großaufnahmen und ungewöhnliche Kameraperspektiven wie ein Italowestern, die melancholische Poesie und die stilisierte Gewalt eines Peckinpah-Films und ist bis in die letzte Nebenrolle hervorragend besetzt. Allen voran Western-Urgestein Forrest Tucker als Travis’ Freund Mountain Phil, ein Mann der Wildnis, der ein bisschen so ist wie Barquero selbst, nüchtern und spielerisch zugleich, voller Grillen und überraschender Grausamkeit, ein Mann, der Zuckerstangen und Ameisen frisst und grundsätzlich ein Lächeln trägt, wenn er mit seinem Bowiemesser Hälse aufschlitzt.
>> Eine DVD von Steve McQueens Hunger
Henker sterben, Folterknechte bluten. Der Wärter Raymond Lohan beginnt und beschließt seinen Arbeitstag, indem er die Wunden auf seinen Fingerknöcheln in Wasser taucht. Gefangenenschädel sind hart, manchmal schlägt man auch daneben. Die Insassen des britischen Maze Prison, Mitglieder der IRA, befinden sich im "No Wash"-Streik, da heißt es hart durchgreifen. Beim Haareschneiden der sich wehrenden Körper erwischt die Schere Kopfhaut. Ihre Zellen haben die Gefangenen mit Kot, Urin und Essensresten verziert, die an die Wand gemalten Spiralnebel aus Scheiße werden mit Hochdruckstrahlern entfernt. Das erste Drittel des Debütfilms des britischen Künstlers Steve McQueen ist eine Mischung aus Experimental- und Hardcore-Knastfilm, der sich nicht für Psychologie und Politik interessiert, sondern für Körper, Ausscheidungen, Schmerz. Den Mittelteil bildet ein in einer 22-minütigen Einstellung gedrehtes Gespräch zwischen einem katholischen Priester und Bobby Sands, dem Anführer der Gefangenen. Kompromisse mit dem Unterdrücker oder Widerstand bis zum Äußersten? Sands geht in den Hungerstreik, und der Film bleibt im letzten Drittel bei ihm und seinem 66 Tage dauernden Sterben. Das langsame Abfilmen des Leidenskörpers verleiht diesem zunehmend etwas Sakrales, Rückblenden motivieren Sands’ Unbedingtheit als Handeln eines Mannes, der schon als Junge nicht umkehren konnte. Länger in Erinnerung bleiben die Knöchel des Wachmanns.

15 November 2009

100 Mulholland Drive

Blogger-Software kann nicht lügen: Dies ist Post Nummer 100. The Wayward Cloud feiert sich selbst mit einer Rückkehr zu den Anfängen. Am 25.10.2002 erschien auf dem nur sehr kurzlebigen "FAQ-Blog" (Untertitel: "Versuch macht kluch …") folgender Text über die Parallelen von David Lynchs Mulholland Drive und Jean-Luc Godards Le mepris (zur größeren Ansicht bitte anklicken):




Als ich 2002 im Netz nach Verbindungen zwischen Mulholland Drive und Le mepris suchte, fand ich nichts. Mittlerweile sind Lynchs mehr oder weniger versteckte Hinweise auf viele andere Filme entschlüsselt worden, zum Beispiel auf der schönen Website Lost on Mulholland Drive.

Im Text genannte Links:
"No hay banda. A long strange trip down David Lynch’s Mulholland Drive" von Allen B. Ruch
Lynch’s 10 clues
Jonathan Rosenbaum über Le mepris

Für Texte, Unterstützung und Anregungen bedankt sich Wayward Cloud bei i-ming, Carmenito, docfish, Thomas Groh (Filmtagebuch), Christoph Hochhäusler (Parallel Film), Michael Baute (New Filmkritik), Ekkehard Knörer (Cargo), Henna Peschel, Dominik Graf, Rainer Knepperges, Matthias Müller und Ole Schnoor.


Ein ganz besonderer Gruß geht nach München zu Ulrich Mannes, der soeben die neueste Ausgabe ("Der sechzehnte Plan") des Glamour-Magazins SigiGötz Entertainment herausgebracht hat. Jenseits des großartigen Covergirls Annika Herr warten auf den Leser eine schnurrige Fantasie über das Altern, die der unnachahmliche Sepp Knarrengeier in eine Abenteuergeschichte gehüllt hat, ein Selbstporträt von SGE-Pate Clemens Klopfenstein, eine Verneigung vor Dominik Grafs Schläft ein Lied in allen Dingen und der ambitionierte Kanon des deutschen Genrefilms des 21. Jahrhunderts, zu dem auch The Wayward Cloud einen bescheidenen Beitrag geleistet hat.

Demnächst auf Wayward Cloud: das große Jubiläums-Filmquiz!

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David Lynch – Dark Splendor. Raum Bilder Klang. Ausstellung im Max Ernst Museum Brühl vom 22.11.2009 bis 21.3.2010

07 November 2009

Irgendwas passiert immer

Notizen zum DOK Leipzig 2009

Es kann hilfreich sein, mit einem schlechten Film in ein Festival zu starten. Der fordert einen mehr heraus als ein gutes Werk, darüber nachzudenken: Was ist das eigentlich, ein guter Dokumentarfilm? Nachdem ich Das Rudel von Alexander Schimpke (Deutschland 2009) gesehen hatte, notierte ich mir: "Der größte Feind des Dokumentarischen ist nicht die Inszenierung, sondern Mangel an Distanz. Der Regisseur darf seinem Gegenstand und seinen Protagonisten nahe kommen, aber er muss eine Haltung zum Material entwickeln, die nicht identisch ist mit der der Protagonisten. Daraus ergibt sich eine Spannung, für die der Filmemacher eine Form finden muss. Ohne Distanz entstehen Propaganda- und Image-Filme."

Das Rudel

Das Rudel ist ein Imagefilm für die sich selbst Ultras nennenden Fans des Fußballvereins 1. FC Union Berlin, weil er dem Selbstbild der Protagonisten nichts entgegensetzt, sondern alle Aspekte des von ihnen behaupteten Gemeinschaftsbildes abbildet und verstärkt. Das Versprechen des Katalogs, dass der Film sich auf die Gesänge und Choreografien des Fanblocks konzentriert und den Zuschauer in die "Gänsehaut-Atmosphäre" des Stadions hineinversetzt, wird schnell enttäuscht. Schimpke traut sich nicht, konsequent auf Originaltöne und -bilder zu vertrauen und den Zuschauer daran teilhaben zu lassen, wie Gemeinschaft über Gesang und Rhythmik entsteht. Die Kamera verweilt nie lange genug, eine basslastige Emo-Mucke "bringt die Stimmung erst mal auf eine gewisse Höhe" (Schimpke im anschließenden Publikumsgespräch), Archivbilder, Szenen vor und nach dem Spiel und eine Off-Stimme wechseln permanent den Fokus, sodass sich nicht erkennen lässt, woran der Regisseur eigentlich interessiert ist.

Vermutung: Ich interessiere mich als Zuschauer nicht für Themen und Menschen, sondern für Haltungen zu ihnen.

Dabei finden sich im Material von Das Rudel genug Spuren, den man hätte folgen können. Die Entstehung der Gesänge und Choreografien, die die Bewegung der Ultras auszeichnet. Das Fehlen der Frauen. Das Verhältnis zur Gewalt. Der Übergang vom Einzelnen in die Fanblock-Masse. Stattdessen ist im Film alles Persönliche in eine "Wir"-Erzählerstimme aufgelöst worden, deren Text Schimpke aus Interviews mit verschiedenen Ultras destilliert hat. Es gibt im Film nichts, was seiner Hauptaussage widerspricht: Ultrasein ist ein elektrisierendes Gemeinschaftserlebnis, kreativ, kaum gewalttätig, ehrlich. Hinterher war ich kaum überrascht, als Schimpke erzählte, dass er alle Phasen des Films mit den Ultras abgesprochen hat. Sie hatten das letzte Wort, was reinsollte und was nicht. Nur den Titel hat er selbst bestimmt.

Interessant war Schimpkes Begründung für diese Aufgabe der gestalterischen Kontrolle: Der Film sollte den Ultras gehören und nicht dem bürgerlichen Milieu der Filmakademie Baden-Württemberg, über deren Abschottung vom "wirklichen Leben" Schimpke sich vehement beklagte. Er bekam viel Beifall vom vorwiegend jungen Publikum in Leipzig, es wäre sicher interessant, dieser Kritik am deutschen Lehrsystem einmal nachzugehen. Andererseits scheint mir die gefühlte Entfremdung vom Rohen, Authentischen, Direkten die bürgerlichste aller Gemütslagen zu sein. Und überhaupt keine Rechtfertigung dafür, die dokumentarische Form für eine falsche Direktheit aufzugeben. Den Widerspruch zwischen vermuteter Intensität des Lebens und distanzierter Beobachterposition aushalten zu können, ist die erste Tugend des Dokumentaristen. Sonst erhält man einen unfokussierten Imagefilm, der den Bildern, die sich die verschmähten bürgerlichen Medien vom Anderen machen, ähnlicher ist, als einem lieb ist: die Ultras als homogene männliche Masse, latent gewaltbereit, eine (Überraschung!) positive Meinung über sich selbst vertretend. Man kommt ihnen nicht näher, weder indem man einen von ihnen besser kennenlernt, noch indem der Film den Zuschauer durch Rhythmisierung, Intensivierung, Abstraktion (auch das eine künstlerische Haltung) hineinversetzt ins Stadion und ihn zwingt dort zu bleiben.

The Living Room of the Nation

Ein schönes Beispiel für einen genauen Blick auf das Individuelle bei gleichzeitiger Rhythmisierung des Materials ist Jukka Kärkkäinens Kansakunnan olohuone (The Living Room of the Nation, Finnland 2009). In starren Einstellungen, die an Bilder aus Roy-Andersson- oder Aki-Kaurismäki-Filmen erinnern, werden Einblicke in finnische Wohnzimmer gegeben. Die Protagonisten sind finnische Männer in verschiedenen Stadien der Verwahrlosung, denen der Film beim Sinnieren über Vergangenheit und Zukunft lauscht oder dabei zusieht, wie sie ihre massiven Körper aus diversen Sitz- und Liegemöbeln heraus- oder hineinwuchten. Am schönsten eine Szene mit einem werdenden Vater, der am Küchentisch über die Verantwortung sinniert, die er nun bald übernehmen muss, während im Hintergrund der Inhalt einer Pfanne, die er gerade auf den Herd gesetzt hat, in Flammen aufgeht und sich in Rauch verwandelt, der den Monolog des Mannes dramatisch einhüllt. Als dieser sich endlich umdreht, hat sich sein Essen verflüchtigt.

Noch einen Schritt weiter in Richtung Inszenierung der Protagonisten geht Peter Kerekes in Cooking History (Österreich/Slowakei/Tschechische Republik 2009), in dem er Militärköche porträtiert, die an einer Reihe bewaffneter Konflikte des 20. Jahrhunderts beteiligt waren. Kerekes scheut sich nicht, erzählte Szenen zu re-inszenieren, einen Koch lässt er noch einmal vor einem russischen Panzer in ein Maisfeld flüchten, einen anderen seine Abenteuer in einem untergegangenen U-Boot während einer Flut nacherzählen, die ihn und seine Kochplatte langsam davonschwimmen lässt. Das ist lustig, aber ab einem gewissen Punkt nicht mehr dokumentarisch, weil es sich zu weit vom Material entfernt. Oder vielmehr: Das Material ist immer so inszeniert, dass die beabsichtigte Pointe immer schon in ihm enthalten ist. Es gibt auch hier zu wenig Spannung zwischen den Protagonisten und dem Regisseur, der eindeutig die Hosen anhat.

Hinzu kommt bei Cooking History ein Problem, das auch Das Rudel hat: ein allzu manipulativer Einsatz von Musik. Bilder einer von einem Hubschrauber transportierten Feldküche unterlegt Kerekes zum Beispiel mit dem aus Apocalypse Now bekannten Walkürenritt, was einen Moment lustig ist, aber letztlich nichts weiter dokumentiert als die Sehnsucht des Regisseurs, dass das Publikum denselben Humor habe wie er selbst. In Fliegerkosmonauten (Deutschland/Polen 2009) von Marian Kiss, der die überlebenden Kosmonauten der kommunistischen Brüderstaaten porträtiert, die ab Ende der 70er Jahre die Arbeiterklasse im All vertreten sollten, wurde die Musik konsequent nach dem Land ausgewählt, in dem der Ex-Kosmonaut lebt: In der Mongolei wird’s mongolisch, in Kuba kubanisch. In solchen Fällen schließe ich seltsamerweise immer die Augen, wie auch bei Bildern, die ich als dumm oder redundant empfinde. Wie um sich selbst und dem Film zu beweisen, dass beim Öffnen der Auge alles bei Alten und der Film keinen Schritt vorangekommen ist. Synästhesie der Abneigung.

Träume der Lausitz

Mich beeindruckt es immer, wenn es einem Regisseur gelingt, die Tonspur mit den Geräuschen, Stimmen, Klängen zu füllen, die im Material selbst enthalten sind. Wie Bernhard Sallmann in seinem schönen Träume der Lausitz (Deutschland 2009) zum Beispiel, der in der Nachfolge Peter Rochas diese vom Braunkohle-Tagebau zerfressene und langsam wieder genesende Landschaft porträtiert. Der Gesang eines Chores, Schuberts Forellenqunitett, das einer der Protagonisten hört, das Schlagen einer Glocke und immer wieder der Wind, der über die karge Landschaft und durch die verloren in ihr stehenden Bauwerke der Internationalen Bau-Ausstellung hindurchpfeift, bilden den Soundtrack den Films. Auch sonst zeigt sich Sallmann in diesem Film als guter Schüler Volker Koepps, als geduldiger Beobachter von Landschaften und ihrer Bewohner, dem es im konkreten Blick auf die Gegenwart gelingt, Vergangenes und Zukünftiges zu vermitteln. In schöner Ausgewogenheit wechseln sich die klaren Landschaftsaufnahmen des Kameramannes Börres Weiffenbach mit Szenen ab, in denen die Protagonisten über die Lausitz sprechen: die Rückkehr der Wölfe, Fürst-Pücklers Gärten, entleerte Dörfer, das Arrangieren von Findlingen und, vielleicht ein bisschen zu oft, die Bedeutung der IBA.

Das Scheitern eines Filmes lässt sich leichter beschreiben als sein Gelingen. Gelingen ist immer ein kleines Wunder, für das einem erst mal die Worte fehlen. Volker Koepps Berlin – Stettin (Deutschland 2009), in dem er viele Landstriche und Protagonisten aus seinem Werk ein weiteres Mal aufsucht, zeigt, dass dieses wundersame Gelingen etwas mit Ausgewogenheit zu tun hat: Zwischen der Gegenwart der Gesichter und Gegenden und der Vergangenheit des Erzählten. Zwischen Material und Form. Zwischen dem Konkreten der persönlichen Erfahrung und einer Spur, vielleicht einer These, die sich aus den vielen Geschichten herausschält. Zwischen Sprechen und Schauen. Zwischen Suchen und Finden. Koepp erzählte nach dem Film, dass er die Exposees zu seinen Filmen, die er für die finanzierenden Fernsehanstalten so schreiben muss, als ob er schon genau wüsste, worum es geht, anschließend gar nicht mehr anschaut. Lieber stellt er sich mit seinem Team an eine Kreuzung und wartet, das etwas passiert. "Und irgendwas passiert immer." Oft sogar, so Koepp, genau das, was man sich im Exposee erträumt hatte.

Ein Beispiel großer Ausgewogenheit ist auch Les arrivants (The Arrivals, Frankreich 2009) von Claudine Bories und Patrice Chagnard, der diesjährige Gewinner der Goldenen Taube für den besten internationalen Langfilm. Die Filmemacher porträtieren die Institution der CAFDA, einer Anlaufstelle für Asylsuchende in Paris, indem sie sehr genau verfolgen, wie sich die Gespräche zwischen Behördenangestellten und Asylsuchenden gestalten. Wie schnell offenbar wird, geht es in diesen Gesprächen darum, das Ungeheure der persönlichen Erfahrung (Vergewaltigung, Folter, Verfolgung – schon diese Aufzählung ist eine kaum zu ertragende Abstraktion) in ein dokumentierbares, justiziables Behörden-Französisch zu übertragen. Eine große Rolle kommt dabei den Übersetzern zu, die in persona oder über eine Hotline versuchen, die sprachlichen und kulturellen Missverständnisse im Rahmen zu halten. Der Film schafft es, die Komplexität dieses Vorgangs abzubilden, ohne sich auf eine Seite zu schlagen. Die abgrundtiefe Erschöpfung der Asylsuchenden wird ebenso sichtbar wie die konstante Überforderung der CAFDA-Angestellten, die permanent Hilfsbereitschaft simulieren müssen, obwohl ihr Budget stark begrenzt ist und ihr eigentlicher Auftrag darin besteht, ihr Gegenüber eines Verstoßes gegen das Schengen-Abkommen oder sonstiger Gesetze zu überführen, was zur Ablehnung führt. Dieser Performance wohlwollender Staatsmacht korrespondiert die zunehmende Gewitztheit der Asylsuchenden, die, nachdem sie aus ihrer Anfangslethargie erwacht sind, sich im Laufe der Gespräche auf die ihnen zugewiesene Rolle einpendeln und erzählen, was sie meinen, das ihr Gegenüber hören will.

"Irgendwann hat mich die Sonne verlassen.
Aber irgendwann leuchtete mir der Mond."
Ito – Diary of an Urban Priest


Auch eine schöne Festival-Erfahrung: Jede Regel, die man aufgrund eines schlechten Films meint, für das Genre insgesamt aufstellen zu können, wird oft durch einen guten Film wieder über den Haufen geworfen. Pirjo Honkasalos Seitti – kilvoittelijan päiväkirja (Ito – Diary of an Urban Priest, Finnland, Japan 2009) zum Beispiel, das Porträt eines japanischen Exboxers, der nach einer Verletzung in eine tiefe Sinnkrise gerät, sich zu einem buddhistischen Priester ausbilden lässt und eine Bar eröffnet, ist mit viel Musik unterlegt, die die dunkle, konzentrierte, spirituelle Stimmung des Films angenehm akzentuiert. An keiner Stelle habe ich die Augen geschlossen. Ito spielt ausschließlich in der Nacht, in der die Lichter der Stadt so geheimnisvoll funkeln wie in lange keinem Film mehr. Tokio Noir. Honkasalo hat eine kongeniale Ästhetik für die aus dem Leid des Priesters gewonnene Erkenntnis gefunden, dass sich die Schönheit des Paradieses dem Menschen nicht im Himmel offenbart, sondern in der Dunkelheit der Hölle. Der Tod und das Leiden sind zentrale Themen dieses wunderbar ernsten Films, alle Gespräche, die der Priester führt, kreisen darum. Erstaunliche, lange Dialoge, alle Figuren scheinen auf der Suche nach einer tieferen Erkenntnis ihrer selbst, sind dabei aber ganz undogmatisch, dem Leben nicht im geringsten entrückt.

Disorder

Zum Schluss noch ein tolles Doppelprogramm: Petropolis (Kanada 2009) von Peter Mettler und Xianshi shi guoqu de weilai (Disorder, China 2009) von Weikai Huang. Auf der einen Seite der Blick von oben, auf das Gebiet der Alberta Tar Sands, das zweitgrößte Erdölvorkommen der Welt. Weil Mettler keine Drehgenehmigung auf dem Gelände selbst erhielt, stieg er mit einem Hubschrauber in die Luft und filmte die zerfressene Landschaft von oben. So ökologisch wertvoll das Anliegen, so begrenzt ist die gewählte Perspektive, die noch das dreckigste Chaos in Schönheit und Muster verwandelt. Dann doch lieber der Scheißhausfliegen-Kaleidoskopblick von Disorder, den Huang aus Material zusammengestellt hat, das verschiedene Kameramänner in chinesischen Städten eher zufällig als geplant filmten: entlaufene Schweine auf der Autobahn, Unfallopfer, ein ausgesetztes Baby, ein Krokodil, Überschwemmungen, Dreck, ein Mann, der in der Kloake fischt, ein Verrückter, Lärm, ein einzige sich langsam steigernde Kakophonie der Großstadt, ein Reigen dreckiger Bilder und Töne. Manchmal schwenkt die Kamera in den Himmel und erfasst einen Zeppelin. Von da oben sieht das alles bestimmt ganz hübsch aus.