19 April 2010

Reel Animals, Teil 2

Hier geht es zum 1. Teil

Der Klassiker Grizzly von William Girdler und das Genre des Tierhorrors.
Ein Beitrag von i-ming

TERRITORIALSTREITIGKEITEN
Gehen wir wie erwähnt davon aus, dass der Horrorfilm stets ein Monster benötigt, um seine Wirkung entfalten zu können, dann wird im Tierhorror die Rolle des Monsters vom Tier eingenommen. Wie funktioniert diese Umdeutung vom Tier zum Monster? Gibt es Gemeinsamkeiten bei all den unterschiedlichen Filmmonstern, die uns erklären, wie das Tier zum Monster konstruiert wird? Welche Schritte sind notwendig, um die Wandlung zu vollziehen oder nachvollziehbar zu machen? Allgemein gilt, dass ein Verhalten vorliegen muss, das von einer Norm abweicht, sei es tierisches oder menschliches Verhalten, um eine Umdeutung dieser Norm zu ermöglichen. Hier können drei grundlegende Unterscheidungen bezüglich der Ausgangslage der Geschichten getroffen werden, die als analog zu den Handlungsmustern „Aktion“, „Reaktion“ und „Passivität“ betrachtet werden können:
1.) Das Tier verhält sich mehr oder weniger seiner Natur gemäß, dehnt den Kreis seiner Aktivitäten allerdings über die übliche Norm hinaus aus. In dieser Kategorie ist das Tier in der Disposition am ehesten als „aktiver Part“ zu bezeichnen (Jaws, Grizzly).

2.) Das Tier reagiert auf Einflüsse von außen, üblicherweise auf menschliche Eingriffe in die natürlichen Bedingungen; diese Einflüsse haben einen Lerneffekt auf das Tier, dessen Reaktion als evolutionärer Schritt begriffen werden kann. Dieser Schritt kann a) mentale Weiterentwicklung sein (Phase IV, Squirm), b) körperliche Mutation (Tarantula) oder c) mentale und körperliche Evolution zugleich beinhalten (Bug). Hier ist das Tier der „reagierende Part“.

3.) Der Mensch dringt in den Bereich des Tieres ein und ändert auf diese Weise die Norm (The Lost World, Open Water). In dieser Kategorie ist das Tier am ehesten der „passive Part“.
Nehmen wir weiterhin an, die Angst vor dem Monster im Horrorfilm ist zu großen Teilen auch die Angst vor dem eigenen Unvermögen, eine Situation positiv zu beeinflussen. Ist das Tier im Tierhorror Stellvertreter für die Gewalten der Natur, denen der Mensch begegnet, stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen, die Konsequenzen für sein Vordringen in die Natur zu tragen, und nach seinem Unvermögen, sich dieser Verantwortung zu stellen. Der Mensch wird aus der Rolle des Handelnden verdrängt und ihm bleibt oft nur die Reaktion, egal, welcher Ausgangslage die Geschichte bis dahin gefolgt ist. Die Natur weist ihn zurück in seine Schranken und gebietet Ehrfurcht. Tierhorror thematisiert die Furcht des Menschen als Entdecker und Eroberer, als Krone der Schöpfung, seine Errungenschaften und eroberten Territorien wieder an die ursprünglichen Besitzer zu verlieren und damit auch seinen Status als Herrscher und Beherrscher abzugeben. Der Mensch wird zurückgedrängt: Die Erde, die er sich untertan gemacht hat, jagt ihn hinaus aus seinem kolonialen Domizil. Im Zentrum des Tierhorrors steht also die Furcht davor, nicht mehr akzeptierter Teil dieser Erde zu sein, Fremdkörper im natürlichen System des Planeten.

Adam und Eva als Störfaktoren im Ökosystem Erde:
Briony Behets und John Hargreaves in Colin Egglestons
Tierhorror-Parabel
Long Weekend von 1978

Tierhorror hat daher seltener übersinnliche Attribute als viel öfter politische und noch häufiger ökologische Ansätze. Wie Filme über Naturkatastrophen, Umweltkatastrophen und Seuchen ist Tierhorror ein Bestandteil des größeren Rahmens „Öko-Horror“, einem Bereich, der auch oft mit dem Begriff „Die Natur schlägt zurück“ assoziiert wird. Das Spannungsfeld, in dem sich Öko-Horror im Allgemeinen und Tierhorror konkret bewegt, ist immer die Frage nach Ursache und Wirkung, nach den Zusammenhängen zwischen den Handlungen des Menschen und denen des Tieres. Im Zentrum steht die Frage: Ist der Mensch verantwortlich für die Geschehnisse? Und wenn ja, wie geht er mit dieser Verantwortung um?

William Girdlers Grizzly ist in seiner Konsequenz ein geradezu prototypischer Vertreter seines Genres: plagiativ, berechnend in seiner Verbindung von reinem Spektakel und oberflächlichem Erklärungsansatz und in seiner technischen Ausführung bestenfalls durchschnittlich. Gleichzeitig erfüllt er alle Voraussetzungen eines stilechten Exploitation-Films: Er ist ein äußerst kostengünstig hergestellter Independent-Film, ein Rip-off mit eindeutigem Augenmerk auf den ökonomischen Vorteil im Fahrwasser eines originelleren Produkts, er wurde in den 70er Jahren gedreht, ein Jahrzehnt, in dem von heute aus betrachtet vollkommen andere Produktions- und Stilregeln herrschten, Exploitation-Ikone Christopher George spielt eine der Hauptrollen als sexy Ranger, und last but not least ist Grizzly mit vielen Geschmacklosigkeiten gespickt. (Erwähnt seien nur das Stolpern in einen offenen Körper und der Angriff des Bären auf einen kleinen Jungen, zwei Szenen, die das Publikum noch heute in Erstaunen versetzen, wie man sich bei der Aufführung von Grizzly im Rahmen der Reihe Bizarre Cinema am 2.11.2008 im Hamburger 3001-Kino bestätigt überzeugen konnte.) Man merkt dem Film sowohl seinen unverhohlenen Blick auf die Dollars wie auch die unbedingte Liebe zu seinem Gegenstand und seinem Medium an. Man spürt: Hier war ein Mann am Werk, der seine Arbeit geliebt hat.

WILLIAM GIRDLER
Girdler, Jahrgang 1947, kam während seiner Zeit bei der US Air Force zum ersten Mal mit dem Film in Berührung, als er dort an der Herstellung von Dokumentar- und Lehrfilmen beteiligt war. 1970 gründete er die Firma Studio One Productions, die anfangs Werbefilme produzierte. 1972 verfilmte Girdler mit seiner Studio-One-Crew dann sein erstes eigenes Drehbuch und lieferte seinen Debütfilm Asylum of Satan ab. Künstlerisch durchaus mangelhaft, beweist eine Anekdote zu diesem Film Girdlers unnachahmlichen Geschäftssinn und seine Spürnase für die kleinen Exzesse des Genrekinos: In Asylum of Satan wird ein Teufelskostüm verwendet, das Girdler aus dem Requisitenbestand von Roman Polanskis Rosemary’s Baby von 1968 besorgt hatte: Derselbe Satan, der Rosemary Woodhouse vergewaltigt hatte, bekam einen anderen Kopf aufgesetzt und durfte weiter sein Unwesen treiben.

Gerüchten zufolge hatte in der berühmten Szene in Rosemary’s Baby übrigens kein Geringerer als Anton LaVey den Gummiteufel während der Dreharbeiten getragen, seines Zeichens Begründer der Church of Satan und wohl auch des postmodernen Satanismus schlechthin mit seiner rationalistischen, antispirituellen Grundhaltung und seiner mittlerweile in die Popkultur eingegangenen Symbolik und entsprechenden Theatralik. Girdler versuchte, Kontakt mit LaVey aufzunehmen, um ihn für seine Unterstützung bei den Dreharbeiten zu Asylum of Satan zu gewinnen. LaVey war jedoch nicht verfügbar und schickte stattdessen einen seiner Adepten, der schließlich dabei half, die satanischen Dialoge zu optimieren und das Design schwarzer Messen realistischer zu gestalten, zum Teil durch Objekte aus LaVeys Fundus für die Sets. Ob LaVey tatsächlich für Polanski den Satan gespielt hat, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Seine überlieferten Kommentare zu Rosemary’s Baby aber sind unbezahlbar: „Die bestbezahlteste Werbung für den Satanismus seit der Inquisition.“ Oder: „Rosemary’s Baby war für die Church of Satan das, was Birth of a Nation für den Ku Klux Klan gewesen ist, komplett mit Rekrutierungsplakaten in den Kinofoyers.“

Anton LaVey (Look, August 1971)

Im darauffolgenden Jahr wurde Girdlers Three on a Meathook veröffentlicht, ein Horrorfilm über einen Serienkiller, dessen Story vage an der Lebensgeschichte Ed Geins orientiert ist, und dem daher nachgesagt wird, er wäre eine wichtige Inspirationsquelle für Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre von 1974 gewesen. In der Tat scheint der Trailer interessanter zu sein als der Film selbst. 1974 kam dann Girdlers Abby heraus, ein von American International Pictures (AIP) produziertes Exorzisten-Rip-off als Blaxploitation-Variante. Warner Bros. zogen wegen Plagiarismus vor Gericht und gewannen. Abby musste aus den Kinos zurückgezogen werden und war damit der einzige Trittbrettfahrer von William Friedkins’ The Excorcist, der tatsächlich aus dem Vertrieb genommen wurde. Bevor Abby aus den Kinos verschwand, hatte er ein Vielfaches seiner bescheidenen Produktionskosten von 100.000 Dollar eingespielt. Girdler sah von den Einnahmen aber nichts, möglicherweise hatte es zwischen Warner und AIP einen Deal gegeben, an dem er nicht beteiligt wurde.

Ein kurzer Einwurf in mehr oder weniger eigener Sache: Oft irritieren mich Äußerungen sowohl von Kritikern als auch von Produzenten, die verkünden, der Star eines Films beweise in seiner aktuellen Performance „Mut zur Hässlichkeit“. Dieser Ausdruck und die Denkweise, die dahintersteckt, stehen im Widerspruch zu meiner Auffassung von dem, was ich als Schauspielerei betrachte. Er scheint Ausdruck der Idee zu sein, gutes Schauspiel wäre, sich hübsch zurechtgemacht vor Publikum zu präsentieren. Nun habe ich nichts gegen hübsch zurechtgemachte Darstellerinnen und Darsteller, dies aber zur Norm zur erheben und alles, was davon abweicht, als mutig zu bezeichnen, erscheint mir als ein sehr oberflächliches Verständnis von Schauspielkunst, das der Leistung der Darsteller niemals gerecht werden kann. Es ist auch zu beobachten, dass die Formulierung „Soundso beweist Mut zur Hässlichkeit“ hauptsächlich bei der Begutachtung weiblicher Darstellerinnen Verwendung findet. In diese Kerbe möchte ich bei aller Widersprüchlichkeit vollsten Bewusstseins schlagen, wenn ich sage: Was die wirklich bezaubernde Carol Speed, Star vieler Blaxploitation-Filme der 1970er Jahre, in Abby leistet, wie sich ihr wunderhübsches Gesicht in eine widerwärtige Fratze verwandelt, das muss man gesehen haben, um es zu glauben. Wie im Übrigen den ganzen Film.

Carol Speed im Porträt / Carol Speed als Abby

1975 inszenierte Girdler ebenfalls für AIP den Blaxploitation-Actioner Sheba, Baby mit Pam Grier in der Hauptrolle, die zu der Zeit beachtliche Erfolge mit den Filmen Coffy, 1973, und Foxy Brown, 1975, von Jack Hill verbuchen konnte. 1976 schließlich folgte Grizzly, sowohl Girdlers größter kommerzieller Erfolg als Regisseur als auch Edward Montoros größter finanzieller Erfolg als Produzent. Montoro, in Vorwegnahme der Umstände seines späteren Verschwindens, schummelte die völlig unerwarteten und enormen Einspielergebnisse an Regisseur und Koproduzenten vorbei und versuchte, die Summe zu veruntreuen. Girdler und die anderen klagten gegen Montoro und FVI, konnten aber eine Beteiligung an den Umsätzen nicht erreichen. Erneut ging Girdler leer aus, obwohl er einen echten Kassenschlager geschaffen hatte, eine der profitabelsten Independent-Produktionen der Filmgeschichte. Trotz allem verlor Girdler nicht den Mut und inszenierte 1977 für Montoro und Film Ventures International (FVI) Day of the Animals, eine Art Sequel zu Grizzly.

Zu Girdlers übrigen Filmen, The Zebra Killer von 1974 und Project: Kill von 1976, soll an dieser Stelle auf die wundervolle Webseite www.williamgirdler.com verwiesen werden, erwähnt werden soll nur noch sein letzter Titel The Manitou von 1978 mit niemand anderem als Tony Curtis in der Hauptrolle, der mit dem unglaublichen deutschen Verleihtitel Super-Zombie: Die Geburt des Grauens versehen wurde. (The Manitou lief auch im Rahmen von Bizarre Cinema in Hamburg.) Es war in diesem Jahr 1978, als William Girdler beim location hunting im Zuge der Vorbereitungen für sein nächstes Projekt auf den Philippinen bei einem Hubschrauberabsturz tödlich verunglückte. Zu diesem Zeitpunkt war er 30 Jahre alt und hatte in sechs Jahren neun Filme gedreht. Statistisch gesehen ist er bis heute einer der produktivsten US-amerikanischen Regisseure überhaupt.

Girdler hatte sich nie der Illusion hingegeben, künstlerisch wertvolle Filme zu produzieren: Seine Werke sollten schnell und billig hergestellt werden und möglichst viel Geld einbringen. Betrachtet man seinen Output, liegen allerdings zwei Schlüsse nahe: Der Mann war ein besessenes Arbeitstier mit ausgeprägtem Geschäftssinn, und er hat das Kino bedingungslos geliebt. Es gibt Quellen, die davon berichten, er hätte so besessen gearbeitet, weil er seinen frühen Tod vorausgeahnt hat. Lassen wir Girdler einmal selbst zu Wort kommen:
„Ich bin in diesem Geschäft, um Geld zu machen. Warum sollte man sich selbst belügen? Niemand möchte Geld verlieren. Wir haben bisher keine Kunstfilme produziert und werden das auch in Zukunft nicht tun. Ich habe keine Botschaft an die Welt, wir betrachten Drehbücher im Hinblick auf ihre kommerzielle Verwertbarkeit. Ich strebe nicht an, mit meinen Filmen Kunst zu produzieren, versuche aber, sie so kunstvoll wie möglich zu gestalten.“ (Übersetzung des Autors)
Girdlers Liebe zum Kino, seine Leidenschaft für den Film und die besondere Haltung dem Filmemachen im Allgemeinen und seinem eigenen Werk im Besonderen gegenüber äußern sich auch in dem in Worten nur schwer greifbaren Charme, den Grizzly ausstrahlt, der Film, den man als Girdlers Meisterstück bezeichnen kann.

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