27 April 2010

Reel Animals, Teil 3

Hier geht es zum 1. Teil

Der Klassiker Grizzly von William Girdler und das Genre des Tierhorrors, Teil 3.
Ein Beitrag von i-ming

BLOCKBUSTER PETZ
Grizzly war bei gerade mal 750.000 Dollar Produktionskosten ein Riesenerfolg. Er spielte um die 40 Millionen Dollar an den Kinokassen ein und wurde so nicht nur zur erfolgreichsten Independent-Produktion des Jahres 1976, sondern zur bis dahin erfolgreichsten überhaupt. Zwei Jahre später nimmt John Carpenter ihm den Titel mit Halloween wieder ab und behält ihn bis 1999, als Daniel Myricks und Eduardo Sánchez’ The Blair Witch Project herauskam. Möglicherweise ist Grizzly kompatibler für den Mainstream gewesen als andere Independent-Produktionen und B-Movies der 70er Jahre und fand daher so großen Anklang: Sein Look ist wesentlich glatter als bei vielen seiner Zeitgenossen, es gibt einen orchestralen Soundtrack, der den Hörgewohnheiten eines Massenpublikums entspricht, es gibt viele schöne Naturaufnahmen, und vor allem hatte Grizzly mit einem PG-13-Zertifikat eine moderate Altersfreigabe, die ihm Vorführungen auch außerhalb der Bahnhofskinos und Grindhouses ermöglichte.

Im Gegensatz dazu waren die Produktionsbedingungen typisch für ein unabhängiges Unternehmen: Das Drehbuch war zu Beginn der Dreharbeiten noch nicht fertig, und viele Dialoge wurden deshalb improvisiert; die Helikopterszenen sind im Sommer entstanden, die anderen Szenen im Wald wegen Verzögerungen im Zeitplan allerdings erst im Herbst, was dazu führte, dass der Wald von oben betrachtet sich mit vollem Laubwerk präsentiert, von unten jedoch die paar verbliebenen Blätter andere Farben aufweisen. Das alles sind jedoch Dinge, die auf den ersten Blick nicht unbedingt auffallen.

ELEKTRODRAHT UND FUTTERANGEL
Auffälliger ist da schon die Darstellung des titelgebenden Grizzlys. Die Konstruktion des Tiers besteht aus fünf Komponenten, die gemeinsam die Illusion eines Killerbären erschaffen sollen:

  • 1 Grizzly von 3,30 Meter Größe (gehört zur Familie der Braunbären), der im echten Leben auf den Namen „Teddy“ hört
  • 1 Schwarzbär von 2,10 Meter Größe
  • 1 Mann in einem Bärenkostüm
  • 1 Bärentatzenhandschuh
  • 1 „Grizzly-Cam“ im POV-Stil inklusive Schnaufen, was sowohl stark an die Point-of-view-Einstellungen in Slasher-Filmen erinnert, die ein paar Jahre später so populär werden sollten, als auch an die Hai-Perspektive in Jaws. Im Buch zum Film übrigens gab es Passagen, in denen der Bär als Ich-Erzähler fungierte: vielleicht ein Versuch, die grandiose Grizzly-Cam zu verschriftlichen?

Oben links: die Handschuh-Komponente

Die Illusion wirkt manchmal uneinheitlich, am deutlichsten, wenn Bärenkostüm und Krallenhandschuh ins Spiel kommen, doch der Schnitt holt den Betrachter stets schnell von der Metaebene zurück in die Geschichte. Drolliger wirken die Diskrepanzen in Farbe und Größe zwischen Schwarz- und Braunbär, die einen rätseln lassen, um welchen dramaturgischen Bären es sich momentan handelt. Analog zur Story, in der die Existenz eines Grizzlys in den betroffenen Wäldern lange Zeit angezweifelt wird, ergibt sich dadurch ein schöner Nebeneffekt: Auch wir Zuschauer zweifeln lange daran, ob wir tatsächlich einen Grizzly gesehen haben. Die echten Bären haben zudem nie mit den Schauspielern direkt zusammengearbeitet, ein Elektrozaun hat die menschlichen und tierischen Darsteller aus Sicherheitsgründen stets voneinander getrennt. Um die Laufrichtung des Bären zu manipulieren, wurden Marshmallows mit einer Schnur an einen Stock gebunden und vor seine Nase gehalten, was zur Folge hatte, dass der Bär manchmal auf seinen Hinterbeinen durch den Wald spaziert, ein sehr seltenes Verhalten in freier Natur.

GREAT BROWN
Vorbild von Grizzly ist Steven Spielbergs Jaws, dessen Handlungsgerüst er exakt kopiert und dabei nur einige Schrauben austauscht, um die Konstruktion kostengünstiger zu machen. Man sieht Grizzly seinen ökonomischen Ansatz förmlich an jeder einzelnen Einstellung an: Er ist Jaws, aufs Nötigste reduziert. Dass die Produktionsfirma Film Ventures International (FVI) nicht von Universal verklagt wurde, lässt staunen. Es ist jedoch diese Dreistigkeit, mit der Grizzly seinen Vorgänger nachzeichnet, die ihn so sympathisch macht und ihm trotz all seiner geklauten Einzelteile eine ganz eigene Magie verleiht: Grizzly erhebt das Plagiat zur Kunst, er ist Abklatsch in Perfektion. Er gibt er sich auch keinerlei Mühe, die Tatsache, Plagiat zu sein, zu verstecken. Im Gegenteil, er trägt es stolz vor sich her: Der Arbeitstitel lautete Claws, und damit es auch wirklich jeder mitbekam, wurde die Tagline „Jaws with claws“ geschaffen.

Mit den Übereinstimmungen zwischen den Filmen könnte man Seiten füllen, angefangen beim Topos des Vordringens eines Raubtiers in ein von Menschen frequentiertes Gebiet (Camping-Bezirke im Wald vs. flaches Gewässer in Strandnähe) über die Figurenkonstellation (Ranger, Wissenschaftler, Hubschrauberpilot/Kriegsveteran vs. Polizist, Wissenschaftler, Bootskapitän/Kriegsveteran) bis zu elementaren Handlungselementen (die zuständigen Behörden wollen die betroffenen Gebiete aus Angst vor Umsatzeinbußen nicht zur Hochsaison für Touristen sperren lassen), narrativen Bestandteilen (Quints berühmte Geschichte über den Untergang der Kriegsschiffes „U.S.S. Indianapolis“ findet in Grizzly ihr Gegenstück in einer Lagerfeuergeschichte, die von einer Gruppe Indianer erzählt, die von einer Meute Grizzlys gefressen wurden) und technischen Details wie den tierischen POV-Shots.

Im Zuge der „Animals on the rampage“-Hysterie wurde 1977 unter der Regie von Richard Bansbach und R.E. Pierson sogar ein Rip-off von Grizzly angefertigt, das tatsächlich den Namen Claws trug. Die Welle hielt lange an und beeinflusst das Genre bis heute. Keiner der Nachfolger erreichte jedoch die Vielschichtigkeit, die Differenziertheit oder die psychologischen Aspekte von Jaws. Auch Grizzly warf all das über Bord und ließ übrig, was für das Exploitation-Kino der Epoche am wichtigsten war: der reine Spaß an der Freude mit der Option auf ein gutes Geschäft.

Das Original-Artwork zum Plakat von Grizzly stammt von Neil Adams

DER KAPITÄN UND DAS SINKENDE SCHIFF
Grizzly wurde von FVI produziert, einer US-Independent-Firma, ursprünglich aus Atlanta, später in Hollywood aktiv, unter der Leitung von Edward Montoro. FVI verdiente sich sein Geld hauptsächlich mit dem Vertrieb und der Produktion von B-Movies im Horror-Bereich und war berühmt für seine dreisten Rip-offs erfolgreicher großbudgetierter Genrebeiträge. So vertrieb die Firma äußerst erfolgreich die US-italienische Koproduktion Beyond the Door, die den Weg für viele andere Klone von William Friedkins The Exorcist ebnete, darunter Abby von William Girdler und L’Antichristo von Alberto De Martino. Warner Bros. nämlich hatten FVI wegen Plagiarismus verklagt und waren vor Gericht gescheitert, sodass andere Produzenten nun den Weg frei wähnten, den Stoff aufs Neue aufzubereiten.

Vom Ende der 1970er Jahre bis in die erste Hälfte der 1980er Jahre hinein vertrieb FVI viele illustre Titel mit großem Erfolg auf dem US-amerikanischen Markt, die mittlerweile Kultstatus haben, darunter William Lustigs Vigilante, Joseph Ellisons Don’t Go in the House und Juan Piquer Simóns Pieces, an dessen Produktion FVI ebenfalls beteiligt war. Es gibt verschiedene Versionen, wie und warum genau es zum Ende von FVI im Jahre 1985 kam, zwei Aspekte jedoch sind ausreichend belegt: Zum einen hatte Montoro für FVI im Jahre 1980 die US-Rechte am italienischen Jaws-Rip-off Great White von Klon-König Enzo G. Castellari erworben, der 1978 die originalen Inglorious Bastards in die Schlacht geschickt hatte (die wiederum ihre Existenz Robert Aldrichs Dirty Dozen von 1967 verdankten). Nach einem lokal begrenzten, aber erfolgreichen Release von Great White und einer kostspieligen Promotionkampagne mit aufblasbaren weißen Schwimmhaien mit Titelschriftzug verklagte Universal die italienischen Produzenten und stoppte den Vertrieb durch die Firmen, die die Rechte bereits erworben hatten. Die Kopien wurden eingezogen und das Geld war verloren. Ob die italienischen Produzenten nun Montoro gegenüber einfach behauptet hatten, Jaws-Rechteinhaber Universal hätte gegen Great White und seinen hungrigen weißen Hai nichts einzuwenden, oder ob es nur das war, was Montoro gerne hören wollte, wird sich wohl nicht mehr eindeutig klären lassen.

Und hier kommen wir zu Aspekt Nummer zwei in der Konkurshistorie von FVI: Montoro, der eigentlich immer davon geträumt hatte, Pilot eines Passagierflugzeugs zu werden, dann aber einen Flugzeugabsturz überlebte und in langwierigen Operationen zusammengeflickt werden musste, wurde von seiner langjährigen Ehefrau verlassen. Das Scheidungsrecht in Kalifornien hätte der geschiedenen Ehefrau die Hälfte von Montoros gesamtem Vermögen zugesprochen, somit auch die Hälfte von FVI. Zu diesem Zeitpunkt hatte FVI gerade den Film Mutants 2/Night Shadows unter der Regie von FVIs Hausregisseur John „Bud“ Cardos produziert, dessen Herstellungskosten nicht durch die Kinoauswertung eingefahren werden konnten und der die Kalkulation der Firma somit in eine Schieflage brachte. Dann wurde Montoro krank und musste für Monate intensiv stationär behandelt werden. Nach seiner Gesundung fasste er einen Entschluss: Er nahm sich eine Million Dollar in bar aus dem Firmenvermögen und setzte sich ab, niemand weiß, wohin. Bis heute ist sein Aufenthaltsort ein Rätsel, denn er konnte niemals aufgespürt werden. Es gibt hier und da Gerüchte: Er wäre nach Mexiko geflohen, er würde irgendwo in Südamerika sein oder er sei vor ein paar Jahren gestorben. Wir werden es wohl nie erfahren. Mir gefällt der Gedanke, dass der alte Gauner Eddie, er wäre heute 82, die 80er und 90er Jahre damit verbracht hat, mit seinem aus veruntreuten Firmengeldern finanzierten Privatflugzeug Touristen über die Landschaften Costa Ricas zu fliegen.

Enzo G. Castellaris L’ultimo squalo

BAD MOVIES VS. GOOD BAD MOVIES
Sicher würden viele Menschen Grizzly, wie wohl alle Filme von Girdler, einfach als schlechten, zweitklassigen Film oder als Abklatsch minderer Qualität bezeichnen. Im Rahmen der Kategorien des Bizarre Cinema oder einer angestrebten Ästhetik des Trashkinos hingegen lassen sich ungleich differenzierte Betrachtungsweisen und Strategien der Rezeption auf intellektueller Ebene entwickeln bzw. auf emotionaler Ebene unmittelbar erleben. Das sogenannte Trashkino lässt sich also sowohl als Kino für den Kopf als auch als Körperkino interpretieren. Die scheinbaren und offensichtlichen Mängel und Brüche der Produktionen ermöglichen und erzwingen die aktive Teilnahme des Publikums nicht nur bezüglich des Inhalts der Geschichte und der Beschaffenheit ihrer Charaktere, sondern ebenfalls auf einer Metaebene, auf der der Zuschauer die dramaturgischen, technischen und anderweitig gearteten Lücken eigenständig füllen muss, um nicht aus dem Film katapultiert zu werden.

Auf der anderen Seite bleibt das Trashkino trotz dieser Einbeziehung intellektueller Beteiligung stets Körperkino, da es durch die Brüche, die den Zuschauer zur Mitarbeit manipulieren, auch unwillkürliche körperliche Reaktionen hervorrufen kann. Die klassischen Reaktionen des Zuschauerkörpers auf das Körperkino sind Lachen, Weinen, Ekel und Erregung, die klassischen Körper-Genres Komödie, Melodram, Horror und Pornografie zielen genau darauf ab. Im Trashkino besteht die Möglichkeit, dass dem Zuschauer all diese Reaktionen entlockt werden, der Begriff „Trash“ beschränkt sich schließlich nicht auf ein bestimmtes Genre. Ob die Reaktionen immer beabsichtigt sind, ist nicht wirklich von Bedeutung, vielmehr führt diese Frage zurück zur Komplexität intellektueller Rezeption: War die körperliche Reaktion beim Betrachten einer bestimmten Szene in dieser Form beabsichtigt, oder habe ich in dieser Form reagiert, weil ich bereits eigene interpretatorische Bestandteile hinzugefügt und somit bereits wieder doch eher mit dem Kopf als mit dem Körper rezipiert habe?

Die Brüche im Trashkino bilden interpretatorische Leerstellen und konfrontieren den Betrachter mit ganz anderen Herausforderungen als Mainstream oder Arthouse. Eine Ästhetik des Trashkinos sollte deshalb meiner Meinung nach auf jeden Fall bemüht sein, eigene Kategorien und Beurteilungsmaßstäbe zu entwickeln, die es erlauben, solche Brüche nicht einfach als Makel oder Mängel abzutun. Vielmerh sollte sie diese Brüche als konstituierende Elemente einer spezifischen ästhetischen Form beschreiben, die dem Publikum über die körperliche Reaktion hinaus eine Vielzahl intellektueller Anregungen und Erkenntnisse ermöglicht. Was im Trashfilm oftmals als Scheitern interpretiert wird, ist in Wahrheit möglicherweise Chance.

Schließen möchte ich diesen Beitrag mit einem etwas längeren Zitat von Stephen Thrower, der sich einige wundervolle Gedanken über die Ästhetik des Trashkinos gemacht hat, die vielleicht als Grundlage zu weiterführenden Überlegungen dienen können:
„Oft wurde schon gesagt, dass bad movies Schnittstellen mit dem Surrealen aufweisen. (…) Diese Filmemacher stoßen wohl eher zufällig auf Techniken, die normalerweise der Avantgarde zugerechnet werden; sie erreichen dabei aber in ihrer Sturköpfigkeit oder Hilflosigkeit niemals den sicheren Hafen einer ästhetischen Theorie. Clevere Ideen finden sich verkrustet in banalem Ausdruck, manchmal erfassen völlig sinnlose Filme flüchtig glasklare Wahrheiten. Bunuel beispielsweise scheute auch vor den allerlächerlichsten Einfällen nicht zurück, weil sein Gefühl ihm sagte, dass in Kunst, die als nieder und idiotisch betrachtet wird, sich Juwelen der Erkenntnis verbergen würden. (…) Man kann über die offenkundigen Mängel eines B-Movies spotten, eine erhellendere, vernünftigere und unterhaltsamere Sehweise wäre es aber, sich vorzustellen, wie Alice durch den Spiegel zu treten, in eine Welt, in der Filme genau so sein sollen, in der all ihre technischen Defizite in Wahrheit künstlerische Erfolge sind. Warum diese Fehler und Mängel nicht als eine Art Kunst im Negativ betrachten, wo Abweichungen von der Norm, zufällig oder nicht, ein paralleles Filmuniversum erschaffen. (…) Machen wir diese Reise in eine andere Welt, dann können wir Bad Movies genießen lernen und auch ihre Ästhetik entdecken.“ (Übersetzung des Autors)
Definition der Sollbruchstelle Trash/Kunst/Körper:
die große Divine (1945–1988)

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