27 April 2010

Reel Animals, Teil 3

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Der Klassiker Grizzly von William Girdler und das Genre des Tierhorrors, Teil 3.
Ein Beitrag von i-ming

BLOCKBUSTER PETZ
Grizzly war bei gerade mal 750.000 Dollar Produktionskosten ein Riesenerfolg. Er spielte um die 40 Millionen Dollar an den Kinokassen ein und wurde so nicht nur zur erfolgreichsten Independent-Produktion des Jahres 1976, sondern zur bis dahin erfolgreichsten überhaupt. Zwei Jahre später nimmt John Carpenter ihm den Titel mit Halloween wieder ab und behält ihn bis 1999, als Daniel Myricks und Eduardo Sánchez’ The Blair Witch Project herauskam. Möglicherweise ist Grizzly kompatibler für den Mainstream gewesen als andere Independent-Produktionen und B-Movies der 70er Jahre und fand daher so großen Anklang: Sein Look ist wesentlich glatter als bei vielen seiner Zeitgenossen, es gibt einen orchestralen Soundtrack, der den Hörgewohnheiten eines Massenpublikums entspricht, es gibt viele schöne Naturaufnahmen, und vor allem hatte Grizzly mit einem PG-13-Zertifikat eine moderate Altersfreigabe, die ihm Vorführungen auch außerhalb der Bahnhofskinos und Grindhouses ermöglichte.

Im Gegensatz dazu waren die Produktionsbedingungen typisch für ein unabhängiges Unternehmen: Das Drehbuch war zu Beginn der Dreharbeiten noch nicht fertig, und viele Dialoge wurden deshalb improvisiert; die Helikopterszenen sind im Sommer entstanden, die anderen Szenen im Wald wegen Verzögerungen im Zeitplan allerdings erst im Herbst, was dazu führte, dass der Wald von oben betrachtet sich mit vollem Laubwerk präsentiert, von unten jedoch die paar verbliebenen Blätter andere Farben aufweisen. Das alles sind jedoch Dinge, die auf den ersten Blick nicht unbedingt auffallen.

ELEKTRODRAHT UND FUTTERANGEL
Auffälliger ist da schon die Darstellung des titelgebenden Grizzlys. Die Konstruktion des Tiers besteht aus fünf Komponenten, die gemeinsam die Illusion eines Killerbären erschaffen sollen:

  • 1 Grizzly von 3,30 Meter Größe (gehört zur Familie der Braunbären), der im echten Leben auf den Namen „Teddy“ hört
  • 1 Schwarzbär von 2,10 Meter Größe
  • 1 Mann in einem Bärenkostüm
  • 1 Bärentatzenhandschuh
  • 1 „Grizzly-Cam“ im POV-Stil inklusive Schnaufen, was sowohl stark an die Point-of-view-Einstellungen in Slasher-Filmen erinnert, die ein paar Jahre später so populär werden sollten, als auch an die Hai-Perspektive in Jaws. Im Buch zum Film übrigens gab es Passagen, in denen der Bär als Ich-Erzähler fungierte: vielleicht ein Versuch, die grandiose Grizzly-Cam zu verschriftlichen?

Oben links: die Handschuh-Komponente

Die Illusion wirkt manchmal uneinheitlich, am deutlichsten, wenn Bärenkostüm und Krallenhandschuh ins Spiel kommen, doch der Schnitt holt den Betrachter stets schnell von der Metaebene zurück in die Geschichte. Drolliger wirken die Diskrepanzen in Farbe und Größe zwischen Schwarz- und Braunbär, die einen rätseln lassen, um welchen dramaturgischen Bären es sich momentan handelt. Analog zur Story, in der die Existenz eines Grizzlys in den betroffenen Wäldern lange Zeit angezweifelt wird, ergibt sich dadurch ein schöner Nebeneffekt: Auch wir Zuschauer zweifeln lange daran, ob wir tatsächlich einen Grizzly gesehen haben. Die echten Bären haben zudem nie mit den Schauspielern direkt zusammengearbeitet, ein Elektrozaun hat die menschlichen und tierischen Darsteller aus Sicherheitsgründen stets voneinander getrennt. Um die Laufrichtung des Bären zu manipulieren, wurden Marshmallows mit einer Schnur an einen Stock gebunden und vor seine Nase gehalten, was zur Folge hatte, dass der Bär manchmal auf seinen Hinterbeinen durch den Wald spaziert, ein sehr seltenes Verhalten in freier Natur.

GREAT BROWN
Vorbild von Grizzly ist Steven Spielbergs Jaws, dessen Handlungsgerüst er exakt kopiert und dabei nur einige Schrauben austauscht, um die Konstruktion kostengünstiger zu machen. Man sieht Grizzly seinen ökonomischen Ansatz förmlich an jeder einzelnen Einstellung an: Er ist Jaws, aufs Nötigste reduziert. Dass die Produktionsfirma Film Ventures International (FVI) nicht von Universal verklagt wurde, lässt staunen. Es ist jedoch diese Dreistigkeit, mit der Grizzly seinen Vorgänger nachzeichnet, die ihn so sympathisch macht und ihm trotz all seiner geklauten Einzelteile eine ganz eigene Magie verleiht: Grizzly erhebt das Plagiat zur Kunst, er ist Abklatsch in Perfektion. Er gibt er sich auch keinerlei Mühe, die Tatsache, Plagiat zu sein, zu verstecken. Im Gegenteil, er trägt es stolz vor sich her: Der Arbeitstitel lautete Claws, und damit es auch wirklich jeder mitbekam, wurde die Tagline „Jaws with claws“ geschaffen.

Mit den Übereinstimmungen zwischen den Filmen könnte man Seiten füllen, angefangen beim Topos des Vordringens eines Raubtiers in ein von Menschen frequentiertes Gebiet (Camping-Bezirke im Wald vs. flaches Gewässer in Strandnähe) über die Figurenkonstellation (Ranger, Wissenschaftler, Hubschrauberpilot/Kriegsveteran vs. Polizist, Wissenschaftler, Bootskapitän/Kriegsveteran) bis zu elementaren Handlungselementen (die zuständigen Behörden wollen die betroffenen Gebiete aus Angst vor Umsatzeinbußen nicht zur Hochsaison für Touristen sperren lassen), narrativen Bestandteilen (Quints berühmte Geschichte über den Untergang der Kriegsschiffes „U.S.S. Indianapolis“ findet in Grizzly ihr Gegenstück in einer Lagerfeuergeschichte, die von einer Gruppe Indianer erzählt, die von einer Meute Grizzlys gefressen wurden) und technischen Details wie den tierischen POV-Shots.

Im Zuge der „Animals on the rampage“-Hysterie wurde 1977 unter der Regie von Richard Bansbach und R.E. Pierson sogar ein Rip-off von Grizzly angefertigt, das tatsächlich den Namen Claws trug. Die Welle hielt lange an und beeinflusst das Genre bis heute. Keiner der Nachfolger erreichte jedoch die Vielschichtigkeit, die Differenziertheit oder die psychologischen Aspekte von Jaws. Auch Grizzly warf all das über Bord und ließ übrig, was für das Exploitation-Kino der Epoche am wichtigsten war: der reine Spaß an der Freude mit der Option auf ein gutes Geschäft.

Das Original-Artwork zum Plakat von Grizzly stammt von Neil Adams

DER KAPITÄN UND DAS SINKENDE SCHIFF
Grizzly wurde von FVI produziert, einer US-Independent-Firma, ursprünglich aus Atlanta, später in Hollywood aktiv, unter der Leitung von Edward Montoro. FVI verdiente sich sein Geld hauptsächlich mit dem Vertrieb und der Produktion von B-Movies im Horror-Bereich und war berühmt für seine dreisten Rip-offs erfolgreicher großbudgetierter Genrebeiträge. So vertrieb die Firma äußerst erfolgreich die US-italienische Koproduktion Beyond the Door, die den Weg für viele andere Klone von William Friedkins The Exorcist ebnete, darunter Abby von William Girdler und L’Antichristo von Alberto De Martino. Warner Bros. nämlich hatten FVI wegen Plagiarismus verklagt und waren vor Gericht gescheitert, sodass andere Produzenten nun den Weg frei wähnten, den Stoff aufs Neue aufzubereiten.

Vom Ende der 1970er Jahre bis in die erste Hälfte der 1980er Jahre hinein vertrieb FVI viele illustre Titel mit großem Erfolg auf dem US-amerikanischen Markt, die mittlerweile Kultstatus haben, darunter William Lustigs Vigilante, Joseph Ellisons Don’t Go in the House und Juan Piquer Simóns Pieces, an dessen Produktion FVI ebenfalls beteiligt war. Es gibt verschiedene Versionen, wie und warum genau es zum Ende von FVI im Jahre 1985 kam, zwei Aspekte jedoch sind ausreichend belegt: Zum einen hatte Montoro für FVI im Jahre 1980 die US-Rechte am italienischen Jaws-Rip-off Great White von Klon-König Enzo G. Castellari erworben, der 1978 die originalen Inglorious Bastards in die Schlacht geschickt hatte (die wiederum ihre Existenz Robert Aldrichs Dirty Dozen von 1967 verdankten). Nach einem lokal begrenzten, aber erfolgreichen Release von Great White und einer kostspieligen Promotionkampagne mit aufblasbaren weißen Schwimmhaien mit Titelschriftzug verklagte Universal die italienischen Produzenten und stoppte den Vertrieb durch die Firmen, die die Rechte bereits erworben hatten. Die Kopien wurden eingezogen und das Geld war verloren. Ob die italienischen Produzenten nun Montoro gegenüber einfach behauptet hatten, Jaws-Rechteinhaber Universal hätte gegen Great White und seinen hungrigen weißen Hai nichts einzuwenden, oder ob es nur das war, was Montoro gerne hören wollte, wird sich wohl nicht mehr eindeutig klären lassen.

Und hier kommen wir zu Aspekt Nummer zwei in der Konkurshistorie von FVI: Montoro, der eigentlich immer davon geträumt hatte, Pilot eines Passagierflugzeugs zu werden, dann aber einen Flugzeugabsturz überlebte und in langwierigen Operationen zusammengeflickt werden musste, wurde von seiner langjährigen Ehefrau verlassen. Das Scheidungsrecht in Kalifornien hätte der geschiedenen Ehefrau die Hälfte von Montoros gesamtem Vermögen zugesprochen, somit auch die Hälfte von FVI. Zu diesem Zeitpunkt hatte FVI gerade den Film Mutants 2/Night Shadows unter der Regie von FVIs Hausregisseur John „Bud“ Cardos produziert, dessen Herstellungskosten nicht durch die Kinoauswertung eingefahren werden konnten und der die Kalkulation der Firma somit in eine Schieflage brachte. Dann wurde Montoro krank und musste für Monate intensiv stationär behandelt werden. Nach seiner Gesundung fasste er einen Entschluss: Er nahm sich eine Million Dollar in bar aus dem Firmenvermögen und setzte sich ab, niemand weiß, wohin. Bis heute ist sein Aufenthaltsort ein Rätsel, denn er konnte niemals aufgespürt werden. Es gibt hier und da Gerüchte: Er wäre nach Mexiko geflohen, er würde irgendwo in Südamerika sein oder er sei vor ein paar Jahren gestorben. Wir werden es wohl nie erfahren. Mir gefällt der Gedanke, dass der alte Gauner Eddie, er wäre heute 82, die 80er und 90er Jahre damit verbracht hat, mit seinem aus veruntreuten Firmengeldern finanzierten Privatflugzeug Touristen über die Landschaften Costa Ricas zu fliegen.

Enzo G. Castellaris L’ultimo squalo

BAD MOVIES VS. GOOD BAD MOVIES
Sicher würden viele Menschen Grizzly, wie wohl alle Filme von Girdler, einfach als schlechten, zweitklassigen Film oder als Abklatsch minderer Qualität bezeichnen. Im Rahmen der Kategorien des Bizarre Cinema oder einer angestrebten Ästhetik des Trashkinos hingegen lassen sich ungleich differenzierte Betrachtungsweisen und Strategien der Rezeption auf intellektueller Ebene entwickeln bzw. auf emotionaler Ebene unmittelbar erleben. Das sogenannte Trashkino lässt sich also sowohl als Kino für den Kopf als auch als Körperkino interpretieren. Die scheinbaren und offensichtlichen Mängel und Brüche der Produktionen ermöglichen und erzwingen die aktive Teilnahme des Publikums nicht nur bezüglich des Inhalts der Geschichte und der Beschaffenheit ihrer Charaktere, sondern ebenfalls auf einer Metaebene, auf der der Zuschauer die dramaturgischen, technischen und anderweitig gearteten Lücken eigenständig füllen muss, um nicht aus dem Film katapultiert zu werden.

Auf der anderen Seite bleibt das Trashkino trotz dieser Einbeziehung intellektueller Beteiligung stets Körperkino, da es durch die Brüche, die den Zuschauer zur Mitarbeit manipulieren, auch unwillkürliche körperliche Reaktionen hervorrufen kann. Die klassischen Reaktionen des Zuschauerkörpers auf das Körperkino sind Lachen, Weinen, Ekel und Erregung, die klassischen Körper-Genres Komödie, Melodram, Horror und Pornografie zielen genau darauf ab. Im Trashkino besteht die Möglichkeit, dass dem Zuschauer all diese Reaktionen entlockt werden, der Begriff „Trash“ beschränkt sich schließlich nicht auf ein bestimmtes Genre. Ob die Reaktionen immer beabsichtigt sind, ist nicht wirklich von Bedeutung, vielmehr führt diese Frage zurück zur Komplexität intellektueller Rezeption: War die körperliche Reaktion beim Betrachten einer bestimmten Szene in dieser Form beabsichtigt, oder habe ich in dieser Form reagiert, weil ich bereits eigene interpretatorische Bestandteile hinzugefügt und somit bereits wieder doch eher mit dem Kopf als mit dem Körper rezipiert habe?

Die Brüche im Trashkino bilden interpretatorische Leerstellen und konfrontieren den Betrachter mit ganz anderen Herausforderungen als Mainstream oder Arthouse. Eine Ästhetik des Trashkinos sollte deshalb meiner Meinung nach auf jeden Fall bemüht sein, eigene Kategorien und Beurteilungsmaßstäbe zu entwickeln, die es erlauben, solche Brüche nicht einfach als Makel oder Mängel abzutun. Vielmerh sollte sie diese Brüche als konstituierende Elemente einer spezifischen ästhetischen Form beschreiben, die dem Publikum über die körperliche Reaktion hinaus eine Vielzahl intellektueller Anregungen und Erkenntnisse ermöglicht. Was im Trashfilm oftmals als Scheitern interpretiert wird, ist in Wahrheit möglicherweise Chance.

Schließen möchte ich diesen Beitrag mit einem etwas längeren Zitat von Stephen Thrower, der sich einige wundervolle Gedanken über die Ästhetik des Trashkinos gemacht hat, die vielleicht als Grundlage zu weiterführenden Überlegungen dienen können:
„Oft wurde schon gesagt, dass bad movies Schnittstellen mit dem Surrealen aufweisen. (…) Diese Filmemacher stoßen wohl eher zufällig auf Techniken, die normalerweise der Avantgarde zugerechnet werden; sie erreichen dabei aber in ihrer Sturköpfigkeit oder Hilflosigkeit niemals den sicheren Hafen einer ästhetischen Theorie. Clevere Ideen finden sich verkrustet in banalem Ausdruck, manchmal erfassen völlig sinnlose Filme flüchtig glasklare Wahrheiten. Bunuel beispielsweise scheute auch vor den allerlächerlichsten Einfällen nicht zurück, weil sein Gefühl ihm sagte, dass in Kunst, die als nieder und idiotisch betrachtet wird, sich Juwelen der Erkenntnis verbergen würden. (…) Man kann über die offenkundigen Mängel eines B-Movies spotten, eine erhellendere, vernünftigere und unterhaltsamere Sehweise wäre es aber, sich vorzustellen, wie Alice durch den Spiegel zu treten, in eine Welt, in der Filme genau so sein sollen, in der all ihre technischen Defizite in Wahrheit künstlerische Erfolge sind. Warum diese Fehler und Mängel nicht als eine Art Kunst im Negativ betrachten, wo Abweichungen von der Norm, zufällig oder nicht, ein paralleles Filmuniversum erschaffen. (…) Machen wir diese Reise in eine andere Welt, dann können wir Bad Movies genießen lernen und auch ihre Ästhetik entdecken.“ (Übersetzung des Autors)
Definition der Sollbruchstelle Trash/Kunst/Körper:
die große Divine (1945–1988)

19 April 2010

Reel Animals, Teil 2

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Der Klassiker Grizzly von William Girdler und das Genre des Tierhorrors.
Ein Beitrag von i-ming

TERRITORIALSTREITIGKEITEN
Gehen wir wie erwähnt davon aus, dass der Horrorfilm stets ein Monster benötigt, um seine Wirkung entfalten zu können, dann wird im Tierhorror die Rolle des Monsters vom Tier eingenommen. Wie funktioniert diese Umdeutung vom Tier zum Monster? Gibt es Gemeinsamkeiten bei all den unterschiedlichen Filmmonstern, die uns erklären, wie das Tier zum Monster konstruiert wird? Welche Schritte sind notwendig, um die Wandlung zu vollziehen oder nachvollziehbar zu machen? Allgemein gilt, dass ein Verhalten vorliegen muss, das von einer Norm abweicht, sei es tierisches oder menschliches Verhalten, um eine Umdeutung dieser Norm zu ermöglichen. Hier können drei grundlegende Unterscheidungen bezüglich der Ausgangslage der Geschichten getroffen werden, die als analog zu den Handlungsmustern „Aktion“, „Reaktion“ und „Passivität“ betrachtet werden können:
1.) Das Tier verhält sich mehr oder weniger seiner Natur gemäß, dehnt den Kreis seiner Aktivitäten allerdings über die übliche Norm hinaus aus. In dieser Kategorie ist das Tier in der Disposition am ehesten als „aktiver Part“ zu bezeichnen (Jaws, Grizzly).

2.) Das Tier reagiert auf Einflüsse von außen, üblicherweise auf menschliche Eingriffe in die natürlichen Bedingungen; diese Einflüsse haben einen Lerneffekt auf das Tier, dessen Reaktion als evolutionärer Schritt begriffen werden kann. Dieser Schritt kann a) mentale Weiterentwicklung sein (Phase IV, Squirm), b) körperliche Mutation (Tarantula) oder c) mentale und körperliche Evolution zugleich beinhalten (Bug). Hier ist das Tier der „reagierende Part“.

3.) Der Mensch dringt in den Bereich des Tieres ein und ändert auf diese Weise die Norm (The Lost World, Open Water). In dieser Kategorie ist das Tier am ehesten der „passive Part“.
Nehmen wir weiterhin an, die Angst vor dem Monster im Horrorfilm ist zu großen Teilen auch die Angst vor dem eigenen Unvermögen, eine Situation positiv zu beeinflussen. Ist das Tier im Tierhorror Stellvertreter für die Gewalten der Natur, denen der Mensch begegnet, stellt sich die Frage nach der Verantwortlichkeit des Menschen, die Konsequenzen für sein Vordringen in die Natur zu tragen, und nach seinem Unvermögen, sich dieser Verantwortung zu stellen. Der Mensch wird aus der Rolle des Handelnden verdrängt und ihm bleibt oft nur die Reaktion, egal, welcher Ausgangslage die Geschichte bis dahin gefolgt ist. Die Natur weist ihn zurück in seine Schranken und gebietet Ehrfurcht. Tierhorror thematisiert die Furcht des Menschen als Entdecker und Eroberer, als Krone der Schöpfung, seine Errungenschaften und eroberten Territorien wieder an die ursprünglichen Besitzer zu verlieren und damit auch seinen Status als Herrscher und Beherrscher abzugeben. Der Mensch wird zurückgedrängt: Die Erde, die er sich untertan gemacht hat, jagt ihn hinaus aus seinem kolonialen Domizil. Im Zentrum des Tierhorrors steht also die Furcht davor, nicht mehr akzeptierter Teil dieser Erde zu sein, Fremdkörper im natürlichen System des Planeten.

Adam und Eva als Störfaktoren im Ökosystem Erde:
Briony Behets und John Hargreaves in Colin Egglestons
Tierhorror-Parabel
Long Weekend von 1978

Tierhorror hat daher seltener übersinnliche Attribute als viel öfter politische und noch häufiger ökologische Ansätze. Wie Filme über Naturkatastrophen, Umweltkatastrophen und Seuchen ist Tierhorror ein Bestandteil des größeren Rahmens „Öko-Horror“, einem Bereich, der auch oft mit dem Begriff „Die Natur schlägt zurück“ assoziiert wird. Das Spannungsfeld, in dem sich Öko-Horror im Allgemeinen und Tierhorror konkret bewegt, ist immer die Frage nach Ursache und Wirkung, nach den Zusammenhängen zwischen den Handlungen des Menschen und denen des Tieres. Im Zentrum steht die Frage: Ist der Mensch verantwortlich für die Geschehnisse? Und wenn ja, wie geht er mit dieser Verantwortung um?

William Girdlers Grizzly ist in seiner Konsequenz ein geradezu prototypischer Vertreter seines Genres: plagiativ, berechnend in seiner Verbindung von reinem Spektakel und oberflächlichem Erklärungsansatz und in seiner technischen Ausführung bestenfalls durchschnittlich. Gleichzeitig erfüllt er alle Voraussetzungen eines stilechten Exploitation-Films: Er ist ein äußerst kostengünstig hergestellter Independent-Film, ein Rip-off mit eindeutigem Augenmerk auf den ökonomischen Vorteil im Fahrwasser eines originelleren Produkts, er wurde in den 70er Jahren gedreht, ein Jahrzehnt, in dem von heute aus betrachtet vollkommen andere Produktions- und Stilregeln herrschten, Exploitation-Ikone Christopher George spielt eine der Hauptrollen als sexy Ranger, und last but not least ist Grizzly mit vielen Geschmacklosigkeiten gespickt. (Erwähnt seien nur das Stolpern in einen offenen Körper und der Angriff des Bären auf einen kleinen Jungen, zwei Szenen, die das Publikum noch heute in Erstaunen versetzen, wie man sich bei der Aufführung von Grizzly im Rahmen der Reihe Bizarre Cinema am 2.11.2008 im Hamburger 3001-Kino bestätigt überzeugen konnte.) Man merkt dem Film sowohl seinen unverhohlenen Blick auf die Dollars wie auch die unbedingte Liebe zu seinem Gegenstand und seinem Medium an. Man spürt: Hier war ein Mann am Werk, der seine Arbeit geliebt hat.

WILLIAM GIRDLER
Girdler, Jahrgang 1947, kam während seiner Zeit bei der US Air Force zum ersten Mal mit dem Film in Berührung, als er dort an der Herstellung von Dokumentar- und Lehrfilmen beteiligt war. 1970 gründete er die Firma Studio One Productions, die anfangs Werbefilme produzierte. 1972 verfilmte Girdler mit seiner Studio-One-Crew dann sein erstes eigenes Drehbuch und lieferte seinen Debütfilm Asylum of Satan ab. Künstlerisch durchaus mangelhaft, beweist eine Anekdote zu diesem Film Girdlers unnachahmlichen Geschäftssinn und seine Spürnase für die kleinen Exzesse des Genrekinos: In Asylum of Satan wird ein Teufelskostüm verwendet, das Girdler aus dem Requisitenbestand von Roman Polanskis Rosemary’s Baby von 1968 besorgt hatte: Derselbe Satan, der Rosemary Woodhouse vergewaltigt hatte, bekam einen anderen Kopf aufgesetzt und durfte weiter sein Unwesen treiben.

Gerüchten zufolge hatte in der berühmten Szene in Rosemary’s Baby übrigens kein Geringerer als Anton LaVey den Gummiteufel während der Dreharbeiten getragen, seines Zeichens Begründer der Church of Satan und wohl auch des postmodernen Satanismus schlechthin mit seiner rationalistischen, antispirituellen Grundhaltung und seiner mittlerweile in die Popkultur eingegangenen Symbolik und entsprechenden Theatralik. Girdler versuchte, Kontakt mit LaVey aufzunehmen, um ihn für seine Unterstützung bei den Dreharbeiten zu Asylum of Satan zu gewinnen. LaVey war jedoch nicht verfügbar und schickte stattdessen einen seiner Adepten, der schließlich dabei half, die satanischen Dialoge zu optimieren und das Design schwarzer Messen realistischer zu gestalten, zum Teil durch Objekte aus LaVeys Fundus für die Sets. Ob LaVey tatsächlich für Polanski den Satan gespielt hat, ist bis heute Gegenstand von Spekulationen. Seine überlieferten Kommentare zu Rosemary’s Baby aber sind unbezahlbar: „Die bestbezahlteste Werbung für den Satanismus seit der Inquisition.“ Oder: „Rosemary’s Baby war für die Church of Satan das, was Birth of a Nation für den Ku Klux Klan gewesen ist, komplett mit Rekrutierungsplakaten in den Kinofoyers.“

Anton LaVey (Look, August 1971)

Im darauffolgenden Jahr wurde Girdlers Three on a Meathook veröffentlicht, ein Horrorfilm über einen Serienkiller, dessen Story vage an der Lebensgeschichte Ed Geins orientiert ist, und dem daher nachgesagt wird, er wäre eine wichtige Inspirationsquelle für Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre von 1974 gewesen. In der Tat scheint der Trailer interessanter zu sein als der Film selbst. 1974 kam dann Girdlers Abby heraus, ein von American International Pictures (AIP) produziertes Exorzisten-Rip-off als Blaxploitation-Variante. Warner Bros. zogen wegen Plagiarismus vor Gericht und gewannen. Abby musste aus den Kinos zurückgezogen werden und war damit der einzige Trittbrettfahrer von William Friedkins’ The Excorcist, der tatsächlich aus dem Vertrieb genommen wurde. Bevor Abby aus den Kinos verschwand, hatte er ein Vielfaches seiner bescheidenen Produktionskosten von 100.000 Dollar eingespielt. Girdler sah von den Einnahmen aber nichts, möglicherweise hatte es zwischen Warner und AIP einen Deal gegeben, an dem er nicht beteiligt wurde.

Ein kurzer Einwurf in mehr oder weniger eigener Sache: Oft irritieren mich Äußerungen sowohl von Kritikern als auch von Produzenten, die verkünden, der Star eines Films beweise in seiner aktuellen Performance „Mut zur Hässlichkeit“. Dieser Ausdruck und die Denkweise, die dahintersteckt, stehen im Widerspruch zu meiner Auffassung von dem, was ich als Schauspielerei betrachte. Er scheint Ausdruck der Idee zu sein, gutes Schauspiel wäre, sich hübsch zurechtgemacht vor Publikum zu präsentieren. Nun habe ich nichts gegen hübsch zurechtgemachte Darstellerinnen und Darsteller, dies aber zur Norm zur erheben und alles, was davon abweicht, als mutig zu bezeichnen, erscheint mir als ein sehr oberflächliches Verständnis von Schauspielkunst, das der Leistung der Darsteller niemals gerecht werden kann. Es ist auch zu beobachten, dass die Formulierung „Soundso beweist Mut zur Hässlichkeit“ hauptsächlich bei der Begutachtung weiblicher Darstellerinnen Verwendung findet. In diese Kerbe möchte ich bei aller Widersprüchlichkeit vollsten Bewusstseins schlagen, wenn ich sage: Was die wirklich bezaubernde Carol Speed, Star vieler Blaxploitation-Filme der 1970er Jahre, in Abby leistet, wie sich ihr wunderhübsches Gesicht in eine widerwärtige Fratze verwandelt, das muss man gesehen haben, um es zu glauben. Wie im Übrigen den ganzen Film.

Carol Speed im Porträt / Carol Speed als Abby

1975 inszenierte Girdler ebenfalls für AIP den Blaxploitation-Actioner Sheba, Baby mit Pam Grier in der Hauptrolle, die zu der Zeit beachtliche Erfolge mit den Filmen Coffy, 1973, und Foxy Brown, 1975, von Jack Hill verbuchen konnte. 1976 schließlich folgte Grizzly, sowohl Girdlers größter kommerzieller Erfolg als Regisseur als auch Edward Montoros größter finanzieller Erfolg als Produzent. Montoro, in Vorwegnahme der Umstände seines späteren Verschwindens, schummelte die völlig unerwarteten und enormen Einspielergebnisse an Regisseur und Koproduzenten vorbei und versuchte, die Summe zu veruntreuen. Girdler und die anderen klagten gegen Montoro und FVI, konnten aber eine Beteiligung an den Umsätzen nicht erreichen. Erneut ging Girdler leer aus, obwohl er einen echten Kassenschlager geschaffen hatte, eine der profitabelsten Independent-Produktionen der Filmgeschichte. Trotz allem verlor Girdler nicht den Mut und inszenierte 1977 für Montoro und Film Ventures International (FVI) Day of the Animals, eine Art Sequel zu Grizzly.

Zu Girdlers übrigen Filmen, The Zebra Killer von 1974 und Project: Kill von 1976, soll an dieser Stelle auf die wundervolle Webseite www.williamgirdler.com verwiesen werden, erwähnt werden soll nur noch sein letzter Titel The Manitou von 1978 mit niemand anderem als Tony Curtis in der Hauptrolle, der mit dem unglaublichen deutschen Verleihtitel Super-Zombie: Die Geburt des Grauens versehen wurde. (The Manitou lief auch im Rahmen von Bizarre Cinema in Hamburg.) Es war in diesem Jahr 1978, als William Girdler beim location hunting im Zuge der Vorbereitungen für sein nächstes Projekt auf den Philippinen bei einem Hubschrauberabsturz tödlich verunglückte. Zu diesem Zeitpunkt war er 30 Jahre alt und hatte in sechs Jahren neun Filme gedreht. Statistisch gesehen ist er bis heute einer der produktivsten US-amerikanischen Regisseure überhaupt.

Girdler hatte sich nie der Illusion hingegeben, künstlerisch wertvolle Filme zu produzieren: Seine Werke sollten schnell und billig hergestellt werden und möglichst viel Geld einbringen. Betrachtet man seinen Output, liegen allerdings zwei Schlüsse nahe: Der Mann war ein besessenes Arbeitstier mit ausgeprägtem Geschäftssinn, und er hat das Kino bedingungslos geliebt. Es gibt Quellen, die davon berichten, er hätte so besessen gearbeitet, weil er seinen frühen Tod vorausgeahnt hat. Lassen wir Girdler einmal selbst zu Wort kommen:
„Ich bin in diesem Geschäft, um Geld zu machen. Warum sollte man sich selbst belügen? Niemand möchte Geld verlieren. Wir haben bisher keine Kunstfilme produziert und werden das auch in Zukunft nicht tun. Ich habe keine Botschaft an die Welt, wir betrachten Drehbücher im Hinblick auf ihre kommerzielle Verwertbarkeit. Ich strebe nicht an, mit meinen Filmen Kunst zu produzieren, versuche aber, sie so kunstvoll wie möglich zu gestalten.“ (Übersetzung des Autors)
Girdlers Liebe zum Kino, seine Leidenschaft für den Film und die besondere Haltung dem Filmemachen im Allgemeinen und seinem eigenen Werk im Besonderen gegenüber äußern sich auch in dem in Worten nur schwer greifbaren Charme, den Grizzly ausstrahlt, der Film, den man als Girdlers Meisterstück bezeichnen kann.

16 April 2010

Schlupp!

„Eh' man auf diese Welt gekommen
und noch so still vorlieb genommen,
da hat man noch bei nichts was bei;
man schwebt herum, ist schuldenfrei,
hat keine Uhr und keine Eile
und äußerst selten Langeweile.
Allein man nimmt sich nicht in acht,
und schlupp! ist man zur Welt gebracht.“
(Wilhelm Busch, zitiert von
Werner Enke am 10.4.2010 im Metropolis)


Auf diesem Foto (rechts: Torsten Stegmann) erläutert Werner Enke den Dreh einer komplizierten Verfolgungsjagd auf einem Acht-Mann-Tandem, auf dem er ganz hinten saß. Enke glitt dabei mit dem Fuß ab, dieser rutschte ins Ritzel, die vorderen Sieben strampelten fleißig weiter, und nur die gute Qualität seiner Turnschuhe bewahrte Enke vor der Amputation. Dieser geplante fünfte Film unter der Regie von May Spils wurde nie fertiggestellt, Enkes Traum von einem deutschen Kino der optischen Komik harrt immer noch seiner Vollendung.

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Werner Enke zu Gast im Metropolis:
Donnerstag, 22. April, 21.15 Uhr: Hau drauf, Kleiner
Freitag, 23. April, 19 Uhr: Wehe, wenn Schwarzenbeck kommt

12 April 2010

Reel Animals, Teil 1

Anmerkungen zum Wahren, Schönen und Guten auf Zelluloid anlässlich der Reihe Bizarre Cinema #6
>> #5 Guter schlechter Film // Stanley
>> #4 50 Tote! // Assault on Precinct 13
>> #3 Penetra-, Muta-, Deformationen // Brian Yuzna
>> #2 Wo dein Geld ist // Blutiger Freitag
>> #1 Join Us // Evil Dead


Der Klassiker Grizzly von William Girdler und das Genre des Tierhorrors.
Ein Beitrag von i-ming

VON ORNITHOLOGISCHER KOMPLEXITÄT
Das Genre des Tierhorrors erweist sich, wie so vieles vermeintlich Oberflächliche, bei näherer Betrachtung als Gegenstand von nahezu unheimlicher Komplexität. Als Bezeichnung eines Subgenres wird der Begriff weder der Vielschichtigkeit der Werke und ihren vielen künstlerischen und intellektuellen Ansätzen gerecht noch den vielfältigen interpretatorischen und analytischen Herangehensweisen, mit denen man sich ihnen nähern kann. Vom einfachen Spektakulum „Wildes Tier frisst Mensch“ bis hin zu Gegenwartsanalysen mit ökologischen und sozialpolitischen Subtexten wird im Tierhorror die ganze Bandbreite präsentiert. In diesem Beitrag soll keine umfassende Geschichte des Subgenres angegangen und schon gar keine Kritik des Tierhorrors versucht werden, es sollen nur einige Gedanken und Informationen vermittelt werden, deren Fokus die englischsprachige Wendung „animals on the rampage“ (etwa „Tiere laufen Amok“) gut zum Ausdruck bringt. Hier geht es also nicht um menschliche Tragödien, die in engem Zusammenhang mit bestimmten Tieren und pathologischem Verhalten stehen (wie etwa in Willard oder Stanley), sondern um die Tiere und ihr abweichendes Verhalten selbst.

Eines vorweg: Einer der wichtigsten Tierhorror-Klassiker überhaupt, Alfred Hitchcocks The Birds von 1963, wird hier kaum eine Rolle spielen, da er den Rahmen sprengen würde und sich mehr noch als alle anderen hier erwähnten Filme den behelfsmäßig aufgestellten Kategorien und Kriterien entzieht, obwohl er auf den ersten Blick dem „animals on the rampage“-Prinzip eindeutig entspricht. Nur so viel sei gesagt, dass sein Erfolg viele Tierhorror-Produktionen der folgenden Jahre beeinflusste, etwa William Grefés Sting of Death (1965) und Death Curse of Tartu (1966) oder Freddie Francis’ The Deadly Bees (dt.: Die tödlichen Bienen, 1966). Die Spielart des Tierhorrors, die hier im Mittelpunkt der Überlegungen stehen soll, entwickelt sich konkret zu Beginn der 1970er Jahre und stabilisiert sich zur Mitte jenes Jahrzehnts, als Steven Spielberg mit Jaws auf die Unmittelbarkeit und die Erklärungsverweigerung von Hitchcocks The Birds zurückgreift und das Subgenre mit seinen bis heute gültigen Formalien ausstattet.

DAS JAHRZEHNT DES BÄREN
„Earl!“ the bear said (John Irving: Hotel New Hampshire)

1976 erblickte ein Monster das Licht der Kinosäle, dessen Existenz aus den verschiedensten Gründen äußerst bemerkenswert ist, da seine Geschichte voller Widersprüche zu stecken scheint: Dieses Monster wurde überaus bekannt und führte doch ein Schattendasein in seiner Nische; es war recht günstig aufzutreiben, erweckt aber ab und an den Anschein, recht kostenintensiv in der Haltung gewesen zu sein; sein Dompteur ist nahezu eine Legende, doch sein Name ist kaum bekannt; und last but not least ist es knuddelig und putzig, zugleich aber auch angsteinflößend und grauenvoll. Die Rede ist von „Teddy“, dem Bärenkonstrukt aus William Girdlers Tierhorror-Klassiker Grizzly. Im Folgenden soll überlegt werden, wie es im Verlauf der Geschichte des Tierhorrors zu dem Phänomen Grizzly gekommen ist, wo sein Platz in dieser Geschichte ist und wie es diesen ausfüllt und was dieses Phänomen uns über die Dynamik des Bizarre Cinema sagen kann.

Französischsprachige Lobbycard zu Grizzly

VON TIEREN UND MONSTERN
Die Geschichte des Tierhorror-Films ist lang, zurückverfolgen kann man sie bis in die Stummfilmzeit, zum Beispiel zu Harry Hoyts The Lost World von 1925, basierend auf dem Roman von Arthur Conan Doyle. Dieser Film stellt einen ausgezeichneten Prototypen für das Genre dar: Geht man davon aus, dass im Horrorfilm immer ein Monster die zentrale Rolle spielt, ob als Mensch in der Figur eines Serienkillers, als Wesen aus einer anderen Welt oder als Produkt wissenschaftlicher Extravaganzen, so wird die Rolle eines Monsters im Tierhorror grundsätzlich vom Tier ausgefüllt. In The Lost World sind die Tiere vom Standpunkt des modernen Betrachters aus per se monströse Wesen, handelt es sich doch um Saurier, die auf einem Hochplateau im Amazonasgebiet, das als evolutionäre Enklave fungiert, das Aussterben der eigenen Spezies überlebt haben, sie brauchen also nicht erst erzählerisch zum Monster stilisiert zu werden. Die Stop-Motion-Modelle für The Lost World stammten übrigens von Willis O’Brien, der acht Jahre später durch seine Arbeit an King Kong unsterblich wurde.

Willis O’Briens Brontosaurus aus The Lost World

In den 1950er Jahren mutierten uns vertraute und noch nicht ausgestorbene Tiere zu gigantisch großen Monstern, etwa 1955 in Jack Arnolds Tarantula oder 1954 in Gordon Douglas’ Them!. Diese Filme bedeuteten bei aller Fantastik einen wesentlichen Entwicklungsschritt für das Genre, da in ihnen mit real existierenden Ängsten, beispielsweise vor Spinnen, gearbeitet wurde. Die Filme der 70er Jahre gingen noch einen Schritt weiter, indem sie die Tiere im mehr oder weniger natürlichen Größenverhältnis beließen und sich dramaturgisch vermehrt auf ein abnormes Verhalten der jeweiligen Spezies verlagerten, um die Ängste der Zuschauer zu bedienen. Entweder entwickelten die Tiere vollkommen neue Verhaltensweisen, oder ihr natürliches Verhalten expandierte über die üblichen Dimensionen hinaus. Beide Ansätze bezogen sich direkt auf dem Publikum eigene emotionale und psychologische Mechanismen, auf konkrete Ängste vor dem Tier. Anders als die Rieseninsekten der 50er Jahre, die, analog zu den Invasionsszenarien der Science-Fiction-Filme, im Subtext mal diffusere, mal konkretere politische Ängste bedienten oder gar schürten, rückte in den 70ern die Furcht des Einzelnen in den Fokus: der Ekel vor Getier und die unmittelbare Angst davor, aufgefressen zu werden.

Teilweise trieb dieser Ansatz erstaunliche Blüten, da die Autoren im Abarbeiten des zoologischen Katalogs mitunter bizarre Entscheidungen bezüglich der Kreaturen trafen, die das Grauen erzeugen sollten. Schöne Beispiele sind George McCowans Frogs von 1972 und William F. Claxtons Rabbits aka Night of the Lepus, ebenfalls von 1972. Ungleich bedrohlicher wirkende Spezies treten in Daniel Manns Willard von 1971 (Ratten) und William Grefés Stanley von 1972 (Schlangen) auf, in Saul Bass’ Phase IV von 1973 (Ameisen), Jeannot Szwarcs Bug von 1975 (feuerlegende Käfer) und in Jeff Liebermans Squirm von 1976 (Würmer).

Als 1975 Jaws herauskam, änderte sich alles. Die Zahl der Tierhorror-Produktionen stieg exponentiell an, und jede erdenkliche Tierart wurde herangezogen, um den Menschen Saures zu geben, eine große Menge an Produktionen wies aber Salzwasser- und Süßwasserbezüge auf. Inhaltlich boten die Filme teilweise enorm unterschiedlich gelagerte Plots, gemeinsam ist ihnen hingegen das monströse Tier im Wasser. Der Blick auf einige Titel verschafft einen guten Überblick über die Entwicklung und den Umfang dieser Sparte des Subgenres seit 1975 (manchmal lohnt es sich auch, den deutschen Verleihtitel zu betrachten, der oftmals den ökonomischen Aspekt der jeweiligen Produktion schamlos auf den Punkt bringt, da er deren Plakativität noch rhetorisch unterstreicht):
  • Mako – Jaws of Death (Mako, die Bestie), USA 1976, Regie: William Grefé, auch Produzent, Autor und Regisseur von Stanley
  • Shark Kill, eine US-TV-Produktion von 1976, Regie: William Graham, der unter anderem einige Episoden der Batman-TV-Serie von Adam West und der Kultserie The Fugitive (Auf der Flucht) inszeniert hat
  • Orca (Orca, der Killerwal), USA 1977, Regie: Michael Anderson, Regisseur des Science-Fiction-Klassikers Logan’s Run (Flucht ins 23. Jahrhundert)
  • Tentacles (Polyp – Die Bestie mit den Todesarmen), USA/Italien 1977, Regie: Ovidio Assonitis, der 1974 auch das Exorzisten-Rip-off Beyond the Door inszeniert hatte
  • Barracuda, USA 1977, Regie: Harry Kerwin und Wayne Crawford
  • Jaws 2, USA 1978, Regie: Jeannot Szwarc, der 1975 mit Bug (Feuerkäfer) einen sehr ungewöhnlichen, originellen und klugen Genrebeitrag inszeniert hat
  • Piranha, USA 1978, Regie: Joe Dante, der das Thema fast parodistisch inszenierte
1978 war ebenfalls das Jahr, in dem mit John De Bellos Attack of the Killer Tomatoes! die erste wirkliche Parodie auf die Tierhorrorwelle herauskam, der nicht nur die historische Notwendigkeit der Wechselwirkung zwischen erfolgreichem Genre und Parodie belegte, sondern die Entwicklung des Tierhorrors zu einem eigenständigen Subgenre konsolidierte.

Bis heute wird Tierhorror produziert, der sich thematisch im Wasser bewegt: Stephen Sommers, der mit dem modernen Mummy-Franchise zu Hollywood-Ruhm gekommen ist, inszenierte 1998 den Krakenhorror Deep Rising (Octalus), Chris Kentis hatte 2003 mit Open Water einen Überraschungserfolg im Mockumentary-Stil, der Kultstatus erreichte und ein eigenes Sequel nach sich zog, Jack Sholder fertigte 2004 für das US-Fernsehen 12 Days of Terror an, der die wahre Geschichte einer Reihe von Haiangriffen vor der US-amerikanischen Ostküste im Jahr 1916 nachzeichnet, auf der auch Peter Benchleys Romanvorlage Jaws beruht, und der Australier Greg Mclean versuchte, einem nach Wolf Creek mit dem Krokodil-Streifen Rogue 2007 endgültig die Lust auf eine Reise ins Outback zu verderben. Die erwähnten Titel stellen nur eine kleine Auswahl dar, belegen aber die Beständigkeit der Gewässer-Sparte im Tierhorror. Kein Wunder, die Angst vor unbekannten Wassern ist schließlich so alt wie die Menschheit.

Doch wie Grizzly eindrucksvoll belegt, beschränkten und beschränken sich die Plagiatoren, Nacheiferer und Inspirierten im Fahrwasser von Spielberg nicht auf Feuchtgebiete, auch zu Lande und in der Luft lauert der tierische Schrecken seit 1975 allerorten, wie folgende exemplarische Erwähnungen verdeutlichen sollen.

Hundefilme:

  • Dogs (Killerhunde), USA 1976, ein TV-Film von Burt Brinckerhoff, der ansonsten hauptsächlich an TV-Serien gearbeitet hat, z.B. auch an einigen Folgen der Serie Alf
  • The Pack (Die Meute), USA 1977, unter der Regie von Robert Clouse, bekannt für seine Martial-Arts-lastigen Actionfilme, darunter diverse Bruce-Lee-Titel wie der Klassiker Enter the Dragon
  • White Dog (Die weiße Bestie aka Der weiße Hund von Beverly Hills), USA 1982, inszeniert von Sam Fuller, der bereits 1969 in Shark! den Schrecken instrumentalisiert hatte, den Haie verbreiten können
  • Cujo, USA 1983, Regie: Lewis Teague, der 1980 mit Alligator seinen Tierhorror-Einstand gefeiert hatte

Insektenfilme:

  • Empire of the Ants (In der Gewalt der Riesenameisen), Regie: Bert Gordon, der auch Food of the Gods (Insel der Ungeheuer) inszeniert hat, in dem viele verschiedene, übergroße Spezies auftauchen
  • Savage Bees (Mörderbienen greifen an), USA 1976, Regie: Bruce Geller, Autor vieler Episoden der TV-Serie Mission: Impossible
  • The Swarm (Der tödliche Schwarm), USA 1978, Regie: Irwin Allen, Regisseur der bekannten Tierdoku The Animal World von 1956, für die Ray Harryhausen eine Dinosaurier-Sequenz animiert hat

Spinnenfilme:

  • Kingdom of the Spiders (Mörderspinnen), USA 1977, Regie: John “Bud” Cardos, hier mal nicht für Film Ventures International (siehe Teil 2) tätig, sondern für Arachnid Productions Ltd.
  • Tarantulas: The Deadly Cargo (Tödliche Fracht aka Taranteln: Sie kommen, um zu töten), USA 1977, eine TV-Produktion unter der Regie von Stuart Hagmann, der ebenfalls einige Episoden der Serie Mission: Impossible inszeniert hat

Weichtierfilme:

  • Besondere Erwähnung soll an dieser Stelle Juan Piquer Simóns US-amerikanisch-spanische Koproduktion Slugs, muerte viscosa (Schnecken) von 1988 finden. Simóns Filme sind nur schwer einzuordnen: Sie sprechen im Grunde für sich, wie die Entscheidung, den im Tierhorror-Genre thematisch behandelten Arten die Schnecke hinzuzufügen, beweist
Die Liste ließe sich ziemlich lang fortsetzen, aber auch beim Betrachten dieser kleinen Auswahl lassen sich bereits drei Hauptmerkmale beobachten, die exemplarisch für die Produktionen von Tierhorror nach 1975 sind: 1. Viele der Regisseure (wie auch der Schauspieler) sind normalerweise für das Fernsehen tätig, und ein nicht unerheblicher Anteil der Filme sind TV-Produktionen. 2. Oft haben die Regisseure mehr als einen Genrebeitrag inszeniert. 3. An diesen Beispielen wird die erwähnte Politik der Titelneugestaltung der deutschen Verleihfirmen deutlich, die eine Art hyperschlichte Dramatisierungsstrategie verfolgten, ein Phänomen, das sich aber nicht auf Tierhorror-Produktionen der späten 70er Jahre beschränkt.

In den 80er Jahren nahm die Zahl der Produktionen ab, das Genre war im Bewusstsein des Publikums aber restlos etabliert: Tierhorror war vielleicht keine große Mode mehr, aus dem Angebot aber auch nicht mehr wegzudenken. In den 90er Jahren entstanden dann neben Filmen, deren Ansatz noch immer der alten Schule verpflichtet war, etwa der erwähnte Deep Rising oder Alligator 2: The Mutation, USA 1991, Regie: Jon Hess (Regisseur der Dean-Koontz-Verfilmung Watchers), auch Filme zum Thema, die nicht nur parodistisch waren, sondern geradezu nostalgische Züge trugen und ironische Referenzen an die Geschichte des Subgenres enthielten. Eine Generation von Filmemachern, die selbst mit den Klassikern aufgewachsen war, widmete sich dem Thema. Tierhorror hatte seine postmoderne Phase erreicht. Die bekanntesten Beispiele dieser Kategorie sind Arachnophobia, USA 1990, Regie: Frank Marshall, der viele von Steven Spielbergs Regiearbeiten produziert hat, Tremors (Im Land der Raketenwürmer), USA 1990, Regie: Ron Underwood, der 1998 das Remake von Mighty Joe Young inszenierte, Jurassic Park, USA 1993, Regie: Steven Spielberg, und Guillermo del Toros Hollywood-Einstand Mimic von 1997.

Der Bär im Genrefilm hingegen ist rar: Neben Grizzly und seinem Rip-off Claws ist noch John Frankenheimers Mutantenbären-Mär The Prophecy von 1979 zu erwähnen. Eine Art Arthouse-Gegenstück zu Grizzly ist Boris Buneyevs wunderschöner The Evil Spirit of Yambuy, eine sowjetische Produktion von 1977. Im selben Jahr inszenierte William Girdler mit Day of the Animals (Panik in der Sierra Nova) eine Art Sequel zu Grizzly. Hier liefen gleich alle Waldtiere Amok, darunter auch der aus Grizzly bekannte Braunbär „Teddy“. Erst 2007 folgten dann die nächsten Filme mit expliziter Bärenhorror-Thematik, dafür aber gleich zwei: die kanadische TV-Produktion Grizzly Rage unter der Regie von David DeCoteau, der gerade an einem Remake von Food of the Gods arbeitet, sowie die US-amerikanische Produktion Grizzly Park, inszeniert von Tom Skull.


In Teil 2: William Girdler und die Angst vor dem Tier

08 April 2010

Daumenkino

gif maker

Werner Enke ab 10. April im Metropolis

05 April 2010

Guter schlechter Film

Anmerkungen zum Wahren, Schönen und Guten auf Zelluloid anlässlich der Reihe Bizarre Cinema #5
>> #4 50 Tote! // Assault on Precinct 13
>> #3 Penetra-, Muta-, Deformationen // Brian Yuzna
>> #2 Wo dein Geld ist // Blutiger Freitag
>> #1 Join Us // Evil Dead


Über William Grefes Stanley (1972)

Was noch zu schreiben wäre, ist eine Ästhetik des Trashkinos. Darin müsste der Versuch unternommen werden, dem Leser Kategorien an die Hand zu geben, mit denen er gute von schlechten schlechten Filmen unterscheiden lernt. Bei Bizarre Cinema kommt es hinterher oft zu Gesprächen, die sich vielleicht als Vorstudien zu einem solchen Buch begreifen lassen. Zu beobachten ist, dass die formalen und erzählerischen Unzulänglichkeiten vieler Filme, die Brüche, Lücken, ungelenken Schnitte, um die herum diese Werke organisiert sind, zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Reaktionen zulassen: zum einen das Bedauern dieser Formlosigkeit, des Mangels am Kohärenz, der Implausibilität, häufig auch des Verrats an den eigenen Erzählvoraussetzungen. Zum anderen das Bejubeln des gerade aus dieser Formlosigkeit resultierenden Intensität bestimmter Szenen und Bilder, die, ungedämpft durch ästhetische, intellektuelle, psychologische Erklärungsmuster, den Betrachter mit voller Wucht erwischen. Die ungeheure Fülle an Formen und Genres der 70er Jahre erklärt sich vielleicht auch aus dieser Freiheit, die die Filmemacher damals hatten, sich den Aspekten eines Filmes zu widmen, die sie faszinierten (vielleicht nur eine einzige Einstellung), und den Rest gelangweilt, unmotiviert und schnell herunterzukurbeln.

In der noch zu schreibenden Ästhetik des Trashkinos müsste es darum gehen, die beiden Positionen zusammenzudenken. Statt den jeweiligen Film wie einen Grabbeltisch zu betrachten, auf dem viel Ramsch und einige Perlen formlos herumliegen, müsste an ihn die Frage gerichtet werden: Inwiefern hat dieses Werk die eigenen formalen Mängel, das Unvermögen der Darsteller, die Unzulänglichkeit der Tricks, das inkonsistente Verhalten der Figuren in eine Tugend verwandelt, indem er sie in eine Form zweiter Ordnung überführt hat, in eine Wahrheitssuche auf einem anderen Gebiet, als es psychologisierende, jede Szene vorbereitende und gefällig ausleuchtende Mainstream- oder Kunstfilme beackern. Ist es nur auf Lucio Fulcis Schlampigkeit zurückzuführen, dass in Ein Zombie hing am Glockenseil Tag und Nacht einander willkürlich abwechseln, manchmal sogar innerhalb einer Szene? Oder steckt hinter dieser Verletzung etablierter Continuity-Regeln eine formal ausgeklügelte Idee über das Zusammenbrechen aller Kategorien, zwischen Leben und Tod, Gut und Böse, Tag und Nacht?

William Grefes Stanley (1972) ist eine Billigproduktion, die ihre Form nicht trotz, sondern mit ihren beschränkten Mittel entwickelt. In der Nachfolge von Daniel Manns Ratten-Film Willard (1971) erzählt Stanley von einem sozialen Außenseiter, dem Halbindianer und Vietnamveteranen Tim, der in den Sümpfen Floridas in einer Art Kommune mit einer Handvoll Klapperschlangen lebt. Tim ist ein Vorläufer des von Werner Herzog in Grizzly Man porträtierten Timothy Treadwell, ein Verrückter, der glaubt, dass er, weil die Schlangen/Grizzlys ihn nicht töten, einer von ihnen ist. Stanley ist struktuiert durch den Kontrast dieses befremdlichen Tier-Werdens mit einem Mensch-Sein, das mit äußerster Konsequenz durch gegenseitige Ausbeutung, Gewalt, Hässlichkeit und groteske Eitelkeit gekennzeichnet ist. Da gibt es einen Unternehmer, der mit seinen dumpfen Gehilfen Schlangen jagt, dener er lebendig die Haut abzieht, um sie teuer zu verkaufen. Er ist geil auf seine Tochter, sein behaarter Körper lugt meist aus einem grellorangen Bademantel hervor. Einmal steht er in Shorts mit roten Herzchen vor einem Spiegel und trainiert mit den kleinsten Hanteln der Welt. Tims Mutter ist eine schmerzhaft unbegabte Tänzerin, die in ihrer ersten Szene ihren Sohn verführen will und später ihrer toten Karriere neues Leben einhauchen will, indem sie als tanzende Cleopatra Schlangen die Köpfe abbeißt. Angetrieben wird sie vom Besitzer des Ladens The Climax, ein widerwärtiger Schmierlappen in Kinder-Shorts. Und dann ist da noch ein debiler Flower-Power-Junkie namens Psycho, der nur auf zwei Reize reagiert: Schlangen und Indianer, die er bei Sichtung sofort massakrieren will.

Man könnte viel Zeit damit zubringen, die ökologischen, politischen, sozialen Botschaften zu entziffern, die in Stanley wie auf einem Grabbeltisch herumliegen, zu keinerlei kohärenten Form oder Aussage gefügt. Seine eigentliche Leistung liegt aber darin, dass er sich das unbeholfene Agieren der Darsteller, ihre geschmacklose Garderobe, ihre hässlichen Körper zunutze gemacht hat, um ein in sich geschlossenes Bestiarium des Mensch-Seins zu entwerfen. Es gibt keine Schönheit, keine Stimmigkeit in den Handlungen und Worten der Figuren, jede exaltierte, unpassende Geste, jede anzügliche, unpointierte Bemerkung, jedes jämmerliche Detail ihrer Umgebung bringt eindrucksvoll zum Ausdruck: Der Mensch ist ein aus der Natur herausgefallenes Geschöpf, ohne Grazie, voller Gier, ekelerregend. (Sogar die mangelnde Übereinstimmung der Lippenbewegungen mit den Äußerungen der Figuren in der deutschen Fassung unterstreicht diesen Eindruck.)

Eine Wendung, die auf der Handlungsebene ausgesprochen unplausibel ist, offenbart, dass auch Tim, der Tier-Werder, nicht der Widerpart dieses allgemeinen Egoismus ist, sondern nur eine pathologische Extremform davon. Eine junge Frau, die er in sein Schlangenreich entführt hat, erklärt ihm nach einer Liebesnacht ganz lapidar, dass seine Schlangen nicht seine Artgenossen sind, sondern seine Sklaven, die er an seiner Statt töten lässt und die er so behandelt wie sein befehlshabender Sergeant ihn in Vietnam einsetzte: als Mordmaschine. Diese Begegnung mit dem Realen lässt Tims fantasmatische Blase platzen, und er flüchtet sich in komplett in seinen Wahn, indem er nun auch das Mädchen töten will. Die Schlangen wenden sich gegen ihren falschen Sergeanten, ein Feuer zerfrisst die Hütte in den Sümpfen, und aus ihr heraus kriecht in einem wirklich grausigen Schlussbild Tim, sich am Boden entlangwindend und mit Verbrennungen am Körper, die wie die Musterung einer Schlange aussehen. Die Tier-Werdung, sie ist dann doch noch geglückt.

Demnächst auf Wayward Cloud: das große Tierhorror-Special!

01 April 2010

Miyazakis Gefüge

Über Hayao Miyazakis Porco Rosso (1992), mit Deleuze

Wenn man Gilles Deleuze lang genug beim Buchstabieren seiner Ideen und Begriffe zusieht und -hört, beginnen sie, das eigene Denken und Wahrnehmen angenehm zu kapern. Als ich gestern Abend Hayao Miyazakis Porco Rosso zum ersten Mal sah, war mir gleich klar, es mit einem durch und durch Deleuzianischen Werk zu tun zu haben. Der Film bildet das Gefüge eines vom Unterbewusstsein produzierten Wunsches, in dem die verschiedensten Elemente einen utopischen Traum vom Werden bilden. Als da wären: ein in ein Schwein transformierter Pilot mit einem Bogey-Trenchcoat, der mit seiner roten Maschine Luftpiraten jagt. Ein amerikanischer Flieger-Dandy, der vom Kino träumt und später Präsident werden möchte. Frauen, die in einer Werkshalle an einem Spezialflugzeug basteln, während ihre uniformierten Männer sich für den Krieg rüsten. Ein faschistisches Italien, in dem für Schweine und Piraten und Ausländer kein Platz ist. Kinder, die riesige Maschinengewehre verkaufen. Eine Frau, die ihr Herz an ein Schwein verloren hat und abends in der Bar den Luftkapitänen mit ihren Chansons den Kopf verdreht. Eine 17-Jährige, die einen neuartigen Kontrollmechanismus gebaut hat und keine Angst kennt.

Das Tier und die Kinder: Porco Rosso

Die Kinder haben nie Angst in Miyazaki-Filmen. So lässt sich ihr Kind-Sein definieren: Die Neugier ist immer größer als die Furcht. Am Anfang von Porco Rosso entführen Piraten eine Schulklasse von 15 Mädchen, die voller Begeisterung an Bord springen, zwischen den Waffen herumturnen, sich lachend an die feuernden Geschütze hängen, den Freibeutern an den Bärten ziehen und die Totenkopf-Malereien bewundern. Später wird die Mechanikerin Fiona, mittlerweile Porco Rossos Kopilotin, eine ganze Horde wütender Piraten mit wenigen Worten zur Räson bringen und sich selbst als Preis in einem Luftkampf anbieten. Die Kinder bei Miyazaki denken deterritorial, nicht von ihrer eigenen Position aus, auf ihre Sicherung bedacht, sondern vom Horizont her, vom Anderen ausgehend, seine Position einnehmend, neugierig eben. In diesem deleuzianischen Sinne sind sie immer links, nicht rechtskonservativ, sondern im Werden begriffen, im Kind-Werden. Das Kind-Werden, das zeigen Miyazakis Kinderfilme, die beim Betrachten immer etwas anderes werden, sehr schön, ist kein Erwachsenwerden, sondern im Gegenteil ein Ausbreiten der Wahrnehmung, der Empfindung, der Empathie auf alles, Dinge und Wesen, Fremde und Alte, Männer, Frauen, Tiere, Waffen und Dämonen. Miyazaki-Filme sind keine Initiationsgeschichten Heranwachsender, sondern im Gegenteil Übungen im Kind-Werden, in einer universalen Neugier ohne Territorium.

Oder man wird Tier, so wie Porco Rosso. Die Geschichte vom verzauberten Prinz, der durch einen Kuss erlöst wird, zieht sich als Subtext durch den Film, wird aber nicht zu Ende erzählt. Porco Rosso, das macht Miyazaki unmissverständlich klar, leidet nicht unter dem Fluch der Transformation in ein anderes Wesen, er ist dieses Wesen geworden oder besser: Er ist in der Tier-Werdung begriffen. „Lieber Schwein als Faschist“, sagt er an einer Stelle, aber man kann das auch verallgemeinern: lieber Schwein werden als Mensch sein. Nicht Teil einer Nation, einer Bewegung, einer Gemeinschaft sein, sondern allein bleiben, jenseits der Grenzen, über den Wolken, auch das heißt Tier-Werden. Und genießen: die Frauen, den Wein, die Gefahr, den Wind, die Einsamkeit.

Bei Miyazaki gibt es immer Bilder der Arbeit. Fabriken und Manufakturen. Sofern Städte und Vergesellschaftung auftauchen in seinen Filmen, sind sie immer im frühkapitalistischen Stadium, in dem man die Arbeit noch sehen kann, von Händen gemacht, arbeitsteilig. Zu den erstaunlichsten Sequenzen in Porco Rosso gehören die aus der Werkstatt eines Mailänder Flugzeugingenieurs, in der ausschließlich Frauen nach den Konstruktionsplänen eines jungen Mädchens eine neue Maschine bauen. Ihre Männer sind in der Luftwaffe der Faschisten, die Frauen bauen dem anarchistischen Schwein ein Flug- und Fluchtgerät. Vielleicht sieht so das Unbewusste aus, kein Freudsches Schmierentheater, auf dessen Bühne Papa und Mama auf ewig kopulieren, sondern eine Fabrik, in der Neues hergestellt wird und Wünsche Gestalt annehmen.

Porco Rosso ist ein Fest der Deterritorialisierung. Außer in Mailand spielt sich die ganze Handlung auf einer Vielzahl kleiner adriatischer Inseln ab, Piratennester, Rückzugsorte, L’Archipels Fantome. In diesem weder lokalisierbaren noch kartografierbarem Atoll haben sich alle Figuren zusammengefunden, die nichts sein, sondern alles werden wollen (Kind, Tier, Frau; heterosexueller, erwachsener Mann, so Deleuze, kann man nicht werden, nur sein), Spelunkensängerinnen, Piraten, Dandys, Schweine, Gesindel. Obwohl sie gegeneinander kämpfen, ist klar, dass sie zusammengehören, nicht im Sinne einer Gemeinschaft, sondern eines Rhizoms, eines Netzwerks. Ein Traum.

Kino gestern, heute, morgen

„Die anderen Kinos, auch wir, werden große finanzielle Probleme kriegen, weil wir alle früher oder später digitalisieren müssen. Die Verleiher werden uns nämlich eines nicht allzu fernen Tages keine 35mm-Kopien mehr liefern. Entweder nimmt man dann ihre Festplatten oder kriegt gar nichts mehr. Kinos, die nicht auf die digitale Technik umstellen, werden keine neuen Filme mehr abspielen können. Der Markt wird sich ganz von allein bereinigen, es sei denn, die Verleihfirmen werden per Gesetz verpflichtet, von jedem Film auch eine 35mm-Kopie zur Verfügung zu stellen. Das wird aber so teuer sein, dass sich die Politik nicht durchsetzen wird.“ (Abaton-Gründer Werner Grassmann im Gespräch über alte und neue Projektionstechniken)