10 Januar 2010

Blick zurück nach vorn

Der große Jahresrückblick auf Wayward Cloud

Schade, dass Bestenlisten nicht wie Wolken sind. Sonst wären sie nicht nur nutzlos und schön, sondern auch wandelbar in ihrer Form, sich immer wieder neu anpassend an die atmosphärischen Strömungen und Druckschwankungen, die den Himmelsformationen wie auch der eigenen Begeisterung immer neue Gestalt verleihen. Hier nun die Wetterkarte unserer vergänglichen Vorlieben 2009. Es war ein gutes Jahr.

Wayward Cloud Glamour Girl des Jahres:

Alison Lohman in Sam Raimis Drag Me to Hell

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Carmenito

Trotz Miesen auf dem Konto: Das letzte Jahr hat Spaß gemacht. Gar nicht so sehr wegen der Filme, die ich gesehen habe (auch wenn ich überhaupt keine Schwierigkeiten hatte, meine Top Ten zusammenzustellen, siehe unten). Absoluter Höhepunkt am 12. Mai: das Konzert von Metallica in der Color Line Arena. Ausverkauft, 13000 Leute. Die Bühne in der Mitte aufgebaut, sodass man drumherumlaufen kann, von der Decke hängen Sargdeckel (an denen wiederum die Scheinwerfer baumeln). Vorher Machine Head, dann Pause, dann geht das Licht aus und Morricones Musik aus Il buono, il brutto e il cattivo läuft (ihr wisst schon, wenn Eli Wallach am Ende wie verrückt über den Friedhof läuft). Und dann rocken die Jungs los, was das Zeug hält, über zwei Stunden lang. "Hamburg, do you want heavy?" Aber ja. Beim Chorus von The Memory Remains stellen sie einfach die Arbeit ein und lassen die 13000 singen, minutenlang. "Hamburg – Metallica – one family" – auch das glaube ich James Hetfield aufs Wort. Spaß gemacht hat auch im Februar das Konzert von 10 CC in der Fabrik. Oller 70er-Jahre-Kram, aber perfekt dargebotene und intelligente Popmusik. Ich kenne fast alle Stücke, mein Lieblingssong The Second Sitting for the Last Supper kommt auch, und dann variiert Graham Gouldman zu Dreadlock Holiday den berühmten Refrain: "I don’t like Hamburg. I love it!" Was für ein schöner Unterschied! Und mit einem Mal weiß man wieder, warum man hier und nicht woanders lebt.

Filmfestivals sind ja nicht nur eine Belohnung, die man sich entweder selbst gönnt oder auf die Großzügigkeit anderer zurückgeht. In Zeiten wie diesen sind sie vor allem eine Rückversicherung, dass man noch den richtigen Job hat. Und manchmal sind nicht die Filme das Wichtige, sondern das Drumherum, die Menschen, die man kennenlernt, mit denen man zusammen ist. Filmfest – mit der Betonung auf "Fest". So denke ich gerne zurück an das Tortellacci-Essen mit lieben Freunden in Bologna (und natürlich an Ava Gardner in Pandora and the Flying Dutchman), an die schöne Frau, die ich am letzten Tag in Locarno küssen durfte (und daran, dass mich Daniel Kothenschulte morgens um fünf nach einer Strandfete mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, während ich, auf dem Gepäckträger sitzend, ständig rief: "È la fine del mondo!"), an das Essen mit der Regisseurin von Anne Perry – Interiors in der Chinatown von Montreal und den gemeinsamen Malzwhisky-Umtrunk an der Hotelbar bis frühmorgens, an meinen Opernbesuch in Wien (und natürlich die 500 kleinen Klavierspieler in dem kurios-fantasievollen The 5000 Fingers of Dr. T., der in der schönen Viennale-Retro lief). Angefangen hatte das Filmfest-Jahr mit der 70mm-Retro in Berlin: Hello Dolly, mein Gott, diese Tiefenschärfe überall, bis in den kleinsten Winkel, mit der köstlichen Streisand, und dann, als besonderes Retro-Bonbon, allerdings aus anderen Gründen, Flying Clipper – Traumreise unter weißen Segeln. Frenetischer Applaus bei jedem Aktwechsel (der Projektor war kaputt), und ich war angenehm betrunken, weil die Tobis bei ihrem Abendessen zuvor so viel alkoholische Mix-Getränke ausgeschenkt hatte.

Sienna Miller habe ich im Juli kennenlernen dürfen. Wobei "kennenlernen" wahrscheinlich nicht der richtige Ausdruck ist. Dafür waren die Umstände dieses Interview-Junkets in Berlin ein wenig zu nervig. Doch wann darf man schon mal ungestraft eine Frau fragen, ob sie sich der erotischen Wirkung des Lederoveralls, den sie in einem Film trägt, bewusst ist. Gemeint ist G.I. Joe, der Film war Mist, aber die Miller in Leder, mannomann … Von Miller zu Müller, nämlich Ina Müller und ihre TV-Show Inas Nacht. Was für ein Weib: schön, natürlich, lebensfreudig. Lustig ist sie, und singen kann sie auch noch. Und dann dieses "Ich freu’ mich so!", immer wenn sie einen Gast ansagt. Das Jahr wäre ärmer gewesen ohne sie.

Und hier meine Top Ten, willkürliche Reihenfolge: Zerrissene Umarmungen, Public Enemies, Tödliches Kommando, Nokan, Bright Star, Gran Torino, The Wrestler, Der Wind zieht seinen Weg, Coraline, Rachels Hochzeit. Und an 11. Stelle Drag Me to Hell, damit The Wayward Cloud weiß, dass ich im Kino auch Spaß habe. Besondere Erwähnungen: For the Love of Movies (Gerald Peary, USA 2009), gesehen in Montreal. Weaving Girl (Wang Quan'an, China 2008), gesehen in Montreal. Nothing Personal (Urszula Antoniak, Niederlande/Irland 2009), gesehen in Locarno. Bodenlose Unverschämtheit: Big Stan (mit Rob Schneider).

Carmenito hat für Wayward Cloud Christian Petzold interviewt und Texte über Leder im Kino und Frank Borzage veröffentlicht. Am 7. Februar wird er bei Bizarre Cinema Walter Hills Driver vorstellen.


i-ming

Mein musikalisches Highlight 2009: William Elliot Whitmore. Während ihr weiterlest, solltet ihr in einem neuen Fenster diese Seite öffnen und seine Musik parallel hören. Die folgende Liste hängt sehr eng mit der Hamburger Filmreihe Bizarre Cinema zusammen, die nach längerer Pause Ende 2009 die Arbeit wieder aufgenommen hat und ab heute allen Menschen mit Geist, Herz und Mut in einer neuen Location, dem B-Movie auf St. Pauli, das Kino des Abseitigen präsentiert. Hier die besten Genrefilme, die ich letztes Jahr gesehen habe:

11. Dust Devil (UK/ZA 1992; Regie: Richard Stanley)


Dust Devil hat etwas von der Atmosphäre einer Naturdokumentation, es geht um einen Dämon in der Wüste. Die Landschaft spielt eine große Rolle, die mehrschichtige Story erzählt von der dämonischen Natur an sich, in uns und um uns (ähnlich wie in von Triers Antichrist, aber wesentlich unprätentiöser, konkreter und politischer). Es gefällt mir, dass sich der Film sowohl metaphysisch, als Parabel oder einfach als Monster-Movie betrachten lässt. Zwei große Genre-Titel finden sich in Stanleys Filmografie: Dust Devil und Hardware von 1990. Beide streitbar, beide Pflicht im Kanon der 1990er.

10. Drag Me to Hell (USA 2009; Regie: Sam Raimi)
Was für eine Zeitreise! Ich habe mich fast wie damals gefühlt, als ein Freund und ich endlich einer VHS-Kopie von Evil Dead habhaft wurden. Kindische Freude. Ekelfaszination. Ungläubiges Staunen. 2009 sind uns die Referenzen natürlich klarer. Das muss Liebe sein, alt und rostfrei.

9. Commando (USA 1985; Regie: Mark L. Lester)


Phantom-Kommando ist und bleibt nach erneutem Genuss der Prototyp des 80er-Actionfilms. Hier stimmt einfach alles und nichts in einer Perfektion, die mich immer wieder aufs Neue sprachlos macht. Bennet und Matrix sind zusammen sogar noch erotischer als Balboa und Creed am Strand in Rocky III. Der erste Satz, den Schwarzenegger in diesem Film spricht: "Now, why don’t they just call him Girl George?" Während eines der vielen Höhepunkte schießt Arnie camouflage-bodypainted mit freiem Bizeps im Rosengarten um sich. Eskalation, Transzendenz und viel Humor. Eine Wiederentdeckung für jedes Jahr.

8. Hotel (D/A 2004; Regie: Jessica Hausner)


Eine vermeintlich bekannte Welt wird als etwas vollkommen Fremdes präsentiert, in vertrauten Mustern werden fremdartige Schattierungen freilegt und lange dunkle Flure so konsequent beschritten, dass es mir wirklich angst und bange wurde. Als i-Tüpfelchen gibt es die großartige Birgit Minichmayr zu bewundern.

7. Lisa, Lisa (USA 1977; Regie: Frederick R. Friedel)


Alternative Titel: Axe, The Virgin Slaughter und California Axe Massacre. Der Originaltitel (seufzend und kopfschüttelnd auszusprechen) vermittelt aber immer noch am besten die resignierte und fatalistische Stimmung dieses gut einstündigen Kammerspiels. Erzählerisch irgendwo zwischen Hardboiled Crime und Haunted House, sehr langsam und ruhig, entfaltet Lisa, Lisa in seiner kurzen Laufzeit eine äußerst beklemmende und bedrohliche Atmosphäre. Lustig sind die ausgewalzten Credits, um die Laufzeit auf wenigstens knapp über 60 Minuten zu bringen. Bei der Sichtung eröffnete sich das noch zu erforschende Harry-Novak-Universum.

6. Shogun’s Joy of Torture (J 1968; Regie: Teruo Ishii)


Der deutsche Verleihtitel lautet Tokugawa – Gequälte Frauen, der japanische Originaltitel Tokugawa onna keibatsu shi徳川女刑罰史 bedeutet "Historie der Bestrafung von Frauen unter dem Tokugawa Shogunat". Alle drei Verleihtitel gemeinsam betrachtet ergeben ein recht gutes Bild: von historischer Akuratesse und dokumentarischem Interesse bis hin zu Sex, Gewalt und guter Laune. Technisch, optisch wie rhythmisch eine Meisterleistung und gleichzeitig ein unfassbar dreckiges und schmieriges Stück Exploitation-Horror. Die Grenzen zwischen Arthouse und Trash verlaufen im japanischen Genrefilm entlang anderer Breitengrade als hierzulande – nur in Japan haben Humanismus, Brandeisen und lesbischer Nonnensex Platz auf ein und derselben juristischen Schriftrolle. Und dann wurde das Ganze auch noch als großer Studiofilm von Toei produziert.

5. The Raven Flies (IS/S 1984; Regie: Hrafn Gunnlaugsson)


Noch ein Film mit vielen Verleihtiteln: Odins Raben, Das versunkene Imperium, Revenge of the Barbarians … Der Originaltitel Hrafninn flýgur und die fliegenden Raben gibt den besten Eindruck vom Geschehen. Hier wird auf kluge Weise eine sehr gradlinige Rachegeschichte erzählt, die sich zu einer Parabel über die Genese von Gewalt entwickelt. Wikinger und Kelten bekämpfen einander in einer familiären Fehde, die sich über Jahrzehnte erstreckt, die Umwelt wirkt kalt und dreckig, die Freunde sind fern und die Kleider klamm. Gunnlaugssons Geniestreich ist einer der wenigen authentischen Wikingerfilme und Auftakt einer Trilogie, auf deren anderen beiden Teile ich mich schon freue. Wie in John Irvins Robin Hood (1991) und Paul Verhoevens Flesh and Blood (1985) sehen die finsteren Zeiten hier wirklich finster aus.

4. Out for Justice (USA 1991; Regie: John Flynn)


Diesen Film (deutscher Verleihtitel: Deadly Revenge – Das Brooklyn Massaker) habe ich nicht wieder-, sondern neu entdeckt. Ich hatte nicht erwartet, dass der Ansatz so oldschool sein würde: reines Körper-Kino, unmittelbar prallen Knochen und Fleisch aufeinander, wirklich jedes Mittel ist recht, die schlimmsten Wunden herbeizuführen. Auch in dieser recht simplen Rachegeschichte verselbständigt sich die Gewalt, steigert sich in einen Rausch und entlädt sich in einem unbeschreiblichen Finale zwischen William Forsythe und Steven Seagal, in dem die totale Zerstörung der Körper auf engstem Raum zelebriert wird. Ganz anders als in The Raven Flies, geradezu als alttestamentarische Antithese dazu, dient am Ende der Einsatz von Gewalt sogar noch als Schluss-Gag. Seit diesem Film bin ich ein großer Fan von William Forsythe.

3. Watchmen (USA 2009; Regie: Zack Snyder)


Eine der besten Comicverfilmungen, die ich kenne. Bis auf die Abweichung am Schluss hält sich der Film treu und detailverliebt an die Vorlage von Alan Moore (das Design der Hintergründe, die verschachtelte Erzählstruktur). Zugleich stellt er einen einzigartigen und eigenständigen zeitgenössischen US-amerikanischen Studiofilm dar: sperrig, komplex, unscharf im Zielgruppenprofil, radikal, eindeutig an Erwachsene gerichtet.

2. Hardgore (USA 1974; Regie: Micheal Hugo)


In den 1970er Jahren war es nicht unüblich, in Horrorfilme Porno-Sequenzen zu integrieren. Einiges davon wurde nachträglich eingefügt, anderes wurde on-set produziert, darüber existieren viele Geschichten und Legenden. Anwender dieser Techniken waren Aristide Massaccesi und Jesus Franco. Derlei Inserts hatten in der Regel weniger ästhetische als Marketing-Gründe. Bei Hardgore ist das anders: XXX ist hier die ästhetische Grundlage, es handelt sich um ein Subgenre im Bereich des pornografischen Films. Unter den vielen Vertretern dieses Subgenres kommt Hardgore eine besondere Stellung zu, denn er ist in all seiner forcierten Perversität und Abseitigkeit seltsam verspielt und unglaublich fantasievoll, übersprühend vor bizarren Einfällen. Trotz allem erschien mir das Ganze auch auf eine gewisse Art und Weise … unschuldig.

1. Zero Kalvin (N/S 1995; Regie: Hans Petter Moland)


In Kjærlighetens kjøtere spielt der grandiose Stellan Skarsgård einen rauhen Seemann von einschüchternder Präsenz, der in der Arktis mit einem Poeten und einem Naturwissenschaftler in einer Hütte eingepfercht ist. Unfassbare Aufnahmen vom Winter am Polarkreis bilden den Hintergrund für fast schmerzhafte Nahaufnahmen der Beziehung zwischen den Männern, besonders zwischen dem Seemann und dem Poeten. Langsam entfaltet sich eine Tragödie epischen Ausmaßes, auf engstem Raum werden wir durch verschiedenste emotionale Zustände gejagt, Sympathien für den einen oder den anderen Charakter wechseln wie der kalte Wind die Richtung. Verständnis können wir für beide aufbringen, bis wir zur Positionierung gezwungen werden. Es endet böse, wir haben es kommen sehen. Das Schlussbild ist von solcher Kraft und Traurigkeit, dass es sich in meinem Gedächtnis zu einem ikonenhaften Breitwandgemälde verfestigt hat, das mich an Magrittes Die Liebenden erinnert. Wer verbirgt sich unter dem Tuch? Im schlechtesten Fall man selbst, in jedem Fall muss man eigene Schlüsse ziehen über das, was man zu sehen meint. Einer der besten Schneefilme aller Zeiten.

i-ming hat für Wayward Cloud über die Fernsehdoku Mama, Papa, Zombie und Erwachsenenfilm im Provinzkino geschrieben. Im Rahmen von Bizarre Cinema wird er am 30. Januar Mark Goldblatts Dead Heat und am 7. März Bob Clarks Deathdream vorstellen.


Peter Clasen

The Fall von Tarsem Singh. Schon zwei Jahre früher auf der Kinderfilmschau der Berlinale entdeckt, kommt dieses erzählerische wie visuelle Meisterwerk unerwartet doch noch ins Kino. Einerseits zart und intim, andererseits märchenhaft-brutal und episch-ausladend. Absolut einzigartig, wunderschön. Und mir will einfach nicht in den Kopf, was diverse deutsche Kritiker da zu nölen und zu nörgeln haben.

Hello, Dolly! Die 70mm-Retrospektive der Berlinale bringt neben diversen in Ehren ergrauten Monumentalschinken auch dieses an sich gut abgehangene Musical, das einen schier fassungslos macht: Wie frisch, witzig und charmant ist das denn! Fast der beste Film des Festivals!

Cadiz im Morgennebel. Ich bin noch nicht ganz wach, als uns der Reisebus von der Küste ins Landesinnere verfrachtet – und ich mir verwundert die Augen reibe: Ich scheine mitten durch einen Euro-Unterweltfilm der Sechziger- bis Siebzigerjahre zu fahren, es könnte Jean-Pierre Melvilles Der Chef sein ...

Die Kathedrale von Sevilla. Heute haben wir das Kino – früher ging man in die Kirche. Bei einer "Laufzeit" von 90 Minuten (ganz wörtlich, nämlich zu Fuß) hat man noch lange nicht alles gesehen bzw. ehrfürchtig bestaunt. Ich bin nicht religiös, aber dieser gotische Riesenprachtbau ist tatsächlich göttlich.

Bionic Boogie von Gregg Diamond. Rosinenpicker Klaus hat mir mal wieder ein paar Stücke gerippt, die ich noch nicht kannte und die auch anderen Disco-Fans kaum geläufig sind. Mannomann, wie das swingt und plingt! Das geht ins Ohr: "Fresh and hot, we show you what we’ve got." Ich will meine 70er zurück!

Avatar – Aufbruch nach Pandora. Körperlich direkt erlebt man das Kino noch in seiner Kindheit und frühen Jugend, danach verschiebt sich die Erlebnisverarbeitung eher ins Hirn. Bislang letzte Ausnahme: Beim ersten originalen Ring-Film entfährt mir doch tatsächlich ein Schreckensschrei. Neuester Fall: Nach Avatar bin ich völlig durchgeschwitzt. Danke, James!

Peter Clasen ist Redakteur bei TV Spielfilm. Dies ist sein erster Beitrag für The Wayward Cloud. Am 28. März wird er bei Bizarre Cinema Günter Schlesingers Mädchenjagd in St. Pauli vorstellen.


The Wayward Cloud

2009 war ein retrospektives Jahr. Ich habe klassische Regisseure neu für mich entdeckt (Borzage, Capra, Ophüls), viele Filme zum zweiten, dritten, vierten Mal gesehen und neue Gründe entdeckt, sie zu lieben. Figuren & Schauspieler: Tuco in Il buono, il brutto, il cattivo, Barbara Stanwyck (Capras Forbidden und The Bitter Tea of General Yen), Mother Gin Sling in von Sternbergs Shanghai Gesture, Jean Gabin in Le plaisir von Marcel Ophüls, Ventura und Delon in Robert Enricos Les aventuriers, Monsieur Hulot im Urlaub, Igor Stravinsky in A Stravinsky Portrait. Durch das Jahr begleiteten mich Chaplin und Hitchcock, deren inszenatorischer und gestischer Erfindungsreichtum nicht zu fassen ist (Chaplin: A Day’s Pleasure, Sunnyside, Hitchcock: The 39 Steps, A Lady Vanishes). Den Blick zurück habe ich vor allem beim Bizarre Cinema (es geht weiter!) und beim Cinema Ritrovato in Bologna kultiviert, wo ich nicht schlafen konnte und Rainer Knepperges drei Tage nicht begegnet bin, ein Wunder. Drei alte Männer haben mir das Kino erklärt und noch ein bisschen mehr: Slavoj Zizek am 5. März im Abaton, Lou Castel am 25. April im B-Movie, Richard Leacock Ende Juni in Bologna.

Neue Filme: Ashes of Time: Redux (Wong Kar-wai ist wieder Herr über Raum und Zeit), Alle Anderen (Maren Ade), Coraline (Harry Selick), District 9 (Neill Blomkamp), Material (Thomas Heise), Rachels Hochzeit (Jonathan Demme), Wendy and Lucy (Kelly Reichardt), The Wrestler (Darren Aronofsky). Die schönste Szene des Jahres in Drag Me to Hell: Alison Lohman und Lorna Raver prügeln sich in einer Tiefgarage. Der blonde Engel und die alte Hexe hauen sich so richtig derbe Oldschool-mäßig auf die Fresse, da wird keine miese Finte ausgelassen. Schöne Rückkehr zu alter Form von Sam Raimi. So frisch kann Genre-Kino aussehen, wenn man sich auf die Grundregeln besinnt und sie gleichzeitig weiterdenkt.

Niemand filmt tanzende Körper wie Claire Denis (35 rhums): Alex Descas, Mati Diop, Nicole Dogue und Gregoire Colin kommen mitten in der Nacht aus dem Regen in eine Kneipe. Die Stimmung ist schlecht, gesprochen wird nicht viel, dafür geht die Musikbox. Nach einer langsamen Latino-Nummer beginnt ein neuer Song. Nightshift von den Commodores. Der Vater übergibt seine Tochter dem jungen Mann und setzt sich an die Theke. Alles bleibt ruhig, alles gerät in Bewegung. Bei Youtube ist die Szene leider zu dunkel und nicht vollständig, stattdessen ein anderer Tanz von Gregoire Colin aus einem Film von Claire Denis (via).



Wayward Cloud wird bei Bizarre Cinema am 17. Januar David Cronenbergs Rabid und am 28. Februar Abel Ferraras Driller Killer vorstellen.

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